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CESCR, Mitteilung Nr. 5/2015 (Djazia and Bellili vs. Spain)

CESCR, Auffassungen vom 20.06.2017, Djazia und Bellili (vertreten durch Javier Rubio) gegen Spanien

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.20)

Die Beschwerdeführenden Mohamed Ben Djazia (M. B. D.) und Naouel Bellili (N. B.) wohnten seit 14 Jahren mit ihren minderjährigen Kindern in einer Mietwohnung in Madrid. Im März 2012 informierte der*die Vermieter*in sie, dass ihr Mietvertrag nicht verlängert wird. M. B. D. und N. B. hatten ihre Mietschulden nicht mehr begleichen können, weil das monatliche Arbeitslosengeld von M. B. D. weggefallen war. Mehrere Anträge der Familie auf eine Sozialwohnung wurden abgelehnt. Es folgte ein gerichtliches Urteil zur Zwangsräumung, das für die Familie künftige Obdachlosigkeit bedeutete.

Nach der Zwangsräumung konnte die Familie zunächst für zehn Tage in einer Notunterkunft wohnen. Danach machten die spanischen Behörden N. B. und den Kindern das Angebot, in einem Frauenhaus unterzukommen, M. B. D. bot man einen Schlafplatz in einem Obdachlosenheim an. Da dies eine Trennung der Familie bedeutet hätte, lehnten sie das Angebot ab. Nach vier Tagen in einem Auto kam die Familie vorübergehend in der Wohnung eines*einer Bekannten unter.

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Rz. 3.1-10)

Unter Berufung auf Artikel 11 Absatz 1 des UN-Sozialpaktes (Recht auf angemessenes Wohnen) reichten M. B. D. und N. B. im Jahr 2015 eine Mitteilung beim UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Ausschuss) ein. Sie gaben an, mit dem Urteil des spanischen Gerichts und der damit einhergegangenen Zwangsräumung in ihrem Recht auf angemessenes Wohnen verletzt worden zu sein, da der Familie offenkundig keine alternative Wohnmöglichkeit zur Verfügung gestanden habe.

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

3.1 Zulässigkeit (Rz. 11.1-11.6)

Die spanische Regierung plädierte auf Unzulässigkeit des Verfahrens. Ihrer Ansicht nach hatte es sich nicht um eine staatliche Zwangsräumung gehandelt, sondern lediglich um das Auslaufen eines Vertrages zwischen Mieter*innen und Vermieter*in, ohne jegliche Mitwirkung eines staatlichen Organs. Das Gericht habe also lediglich vermittelt, die Streitigkeit selbst bestehe aber zwischen Privatpersonen.

Der UN-Ausschuss stellte diesbezüglich fest, dass das Recht auf angemessenes Wohnen eine staatliche Pflicht begründe, die Bürger*innen vor einer direkten, aber auch einer indirekten Verletzung dieses Rechts durch Dritte zu schützen. Der Vertragsstaat Spanien habe demnach die Pflicht gehabt, Maßnahmen zu ergreifen, um der Familie angemessenes Wohnen zu ermöglichen.

3.2 Begründetheit (Rz. 12.1-17.8)

Im Rahmen der Begründetheit beschäftigte sich der UN-Ausschuss vorrangig damit, inwieweit ein Vertragsstaat dazu verpflichtet ist, das Recht auf angemessenes Wohnen zu gewährleisten. Nach Ansicht des Ausschusses handelt es sich bei diesem Recht um ein grundlegendes Menschenrecht, das als Bedingung für weitere Menschenrechte, einschließlich der Rechte aus dem UN-Sozialpakt fungiere und daher vom Staat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geschützt werden solle.

Der UN-Ausschuss stellte klar, dass Zwangsräumungen aus Mietunterkünften mit dem UN-Sozialpakt nur unter folgenden Bedingungen vereinbar sein können: die Räumung müsse auf eine gesetzliche Grundlage gestützt sein, sie müsse als letztes Mittel erfolgen und die Betroffenen müssten vor der Zwangsräumung Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf gehabt haben, zudem müsse zuvor eine Anhörung der betroffenen Personen durch die zuständigen Behörden stattgefunden haben, und es müssten alle zur Verfügung stehenden Ressourcen darauf verwendet worden sein, die Obdachlosigkeit der Betroffenen zu verhindern und alternative Wohnmöglichkeiten bereitzustellen. Das bedeute auch, Betroffene nicht weiter einer Situation auszusetzen, die eine Verletzung von Vertragsrechten oder sonstiger Menschenrechte darstelle. Eine Räumung in die Obdachlosigkeit sei folglich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern. Besondere Aufmerksamkeit sei geboten, wenn Kinder, Frauen, Ältere, Menschen mit Behinderungen oder andere Personen in vulnerablen Lebenslagen davon betroffen seien.

Aufgrund von fortlaufend ausbleibenden Mietzahlungen oder Beschädigung gemieteten Eigentums durchgeführte Zwangsräumungen, die unter den genannten Kriterien und in Einklang mit dem UN-Sozialpakt erfolgten, könnten jedoch rechtmäßig sein. (Artikel 11 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 des Sozialpakts, Allgemeine Bemerkungen Nr. 7.)

Hätten Betroffene nicht die erforderlichen Mittel für alternative Wohnmöglichkeiten, seien die jeweiligen Vertragsstaaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen im Rahmen der verfügbaren Ressourcen zu treffen, um angemessenen alternativen Wohnraum zu gewährleisten (Artikel 11 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 UN-Sozialpakt), so der Ausschuss weiter.

Zwar seien der Familie vonseiten der Behörden unterschiedliche Optionen für Unterkünfte angeboten worden, jedoch seien dabei nicht alle Kriterien angemessener Vorkehrungen erfüllt worden. Das Recht auf Wohnen müsse im Lichte sämtlicher Menschenrechte - auch dem Schutz der Familie (Artikel 10 Absatz 1 UN-Sozialpakt) - interpretiert werden. Dies setze auch das Zusammenbleiben von Familien voraus, insbesondere wenn die Erwachsenen für die Fürsorge und Erziehung von Minderjährigen verantwortlich seien. Die Aufteilung der Familie auf verschiedene Unterkünfte erfülle folglich nicht die Kriterien der angemessenen Vorkehrungen.

Der UN-Ausschuss erläuterte weiterhin, dass die Ursache, weshalb der Familie keine gemeinsame Sozialwohnung bereitgestellt werden konnte, sich daraus ableite, dass die Stadt Madrid nur noch über einen geringen Bestand an Sozialwohnungen verfüge. Die Wohnungen seien während der Wirtschaftskrise größtenteils an Privatunternehmen veräußert worden, um mit den Einnahmen den Haushalt auszugleichen. Der UN-Ausschuss sieht jedoch die spanische Regierung in der Verantwortung, strukturell bedingtem Wohnungsmangel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorzubeugen. Der Mangel sei durch den staatlichen Verkauf aber erst verursacht worden. Die spanische Regierung habe nicht ausreichend begründen können, weshalb trotz Aufwendens sämtlicher zur Verfügung stehender Ressourcen das Recht, alternative Wohnmöglichkeiten zu vermitteln, nicht gewährleistet werden konnte.

Die Regierung habe auch die Notwendigkeit, Ressourcen des sozialen Wohnungsbaus derart zu verknappen, nicht ausreichend begründen können. Durch den massenhaften Verkauf von Sozialwohnungen während der Wirtschaftskrise sei eine Situation geschaffen worden, die es unmöglich mache, auf derartige Notfälle ausreichend reagieren zu können. Die spanische Regierung habe nicht ausreichend rechtfertigen können, weshalb Rückschritte bei der schrittweisen Verwirklichung des Rechts auf Wohnen billigend in Kauf genommen wurden.

Der UN-Ausschuss kam zu dem Ergebnis, die spanische Regierung habe es versäumt darzulegen, dass sie unter Ausschöpfung aller verfügbaren Ressourcen alle geeigneten Maßnahmen ergriffen habe, um der betroffenen Familie angemessenen alternativen Wohnraum zu gewährleisten.

Der Ausschuss stellt eine Verletzung des Rechts auf angemessenes Wohnen (Artikel 11 Absatz 1), des Rechts auf Schutz der Familie (Artikel 10 Absatz 1) sowie der Verpflichtung fest, die im UN-Sozialpakt verankerten Rechte schrittweise zu verwirklichen (Artikel 2 Absatz 1).

3.3 Empfehlungen (Rz. 18-22)

Für den vorliegenden Fall entschied der Ausschuss, dass die spanische Regierung dazu verpflichtet sei, soweit noch notwendig, nach Absprache mit den Betroffenen und unter Bezugnahme auf die oben angeführten Kriterien, der Familie eine angemessene Unterkunft zu gewährleisten, finanzielle Entschädigung für Rechtsverletzungen auszuzahlen und die Kosten des gesamten Prozesses zu übernehmen.

Generell schlägt der Ausschuss vor, ähnlichen Rechtsverstößen vorzubeugen, indem die spanische Gesetzgebung und ihre Umsetzung auf ihre Vereinbarkeit mit dem UN-Sozialpakt hin überprüft wird. Insbesondere sei Spanien dazu verpflichtet,

  1. rechtliche und/oder administrative Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass bei einer Zwangsräumung im Gerichtsverfahren von den Betroffenen ein wirksamer Rechtsbehelf eingelegt werden kann, in dessen Rahmen das Gericht auch die Vereinbarkeit mit dem UN-Sozialpakt überprüfen kann;
  2. Maßnahmen zu ergreifen, um die Koordination zwischen Gerichten und sozialen Einrichtungen zu verbessern, um Obdachlosigkeit infolge von Zwangsräumungen vorzubeugen;
  3. Maßnahmen zu ergreifen, damit Zwangsräumungen von Menschen, die nicht über ausreichend Mittel für alternative Wohnmöglichkeiten verfügen, nur unter sehr engen Bedingungen stattfinden können: unter anderem nach gemeinsamer Absprache mit den Betroffenen und erst, nachdem die Behörden alle zur Verfügung stehenden Ressourcen, um alternative Wohnmöglichkeiten zu gewährleisten, ausgeschöpft haben. Besondere Rücksicht ist geboten, wenn Familien, Kinder, Ältere oder vulnerable Gruppen betroffen sind;
  4. unter Absprache mit den Gemeinden einen Plan zu entwickeln, wie das Recht auf angemessenes Wohnen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln für Menschen mit geringen Einkommen gewährleistet werden kann (im Sinne der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 des Ausschusses). Dieser Plan soll beinhalten: notwendige Ressourcen, Indikatoren, Zeitrahmen und Evaluationskriterien, um das Recht des*der Einzelnen auf Wohnen auf angemessene und messbare Weise zu garantieren.

Der Vertragsstaat Spanien verpflichtet sich dazu, innerhalb von sechs Monaten eine schriftliche Stellungnahme zur Umsetzung der Maßnahmen beim UN-Ausschuss einzureichen sowie diese zu veröffentlichen (Artikel 9 Absatz 2 des Fakultativprotokolls zu Konvention, Artikel 18 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Ausschusses).

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In der Entscheidung stellt der UN-Ausschuss zunächst klar, dass die staatliche Schutzpflicht bei Zwangsräumungen auch für Personen gilt, die in privaten Mietunterkünften wohnen. Die Regelungen zu Zwangsräumungen unterliegen der Verantwortung des Vertragsstaates. Zwangsräumungen stehen nur dann im Einklang mit dem UN-Sozialpakt, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen (Allgemeine Bemerkungen Nr. 7 des Ausschusses, siehe unten).

Ist eine Zwangsräumung unvermeidbar, weist der UN-Ausschuss auf Folgendes hin: Zwangsräumungen dürfen nicht zu Obdachlosigkeit führen. Haben die Betroffenen nicht die erforderlichen Mittel für alternative Wohnmöglichkeiten, ist es eine Verpflichtung des Vertragsstaates, alle geeigneten Maßnahmen im Rahmen seiner verfügbaren Ressourcen zu treffen, um angemessenen alternativen Wohnraum zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für Konstellationen, in denen Frauen, Kinder, ältere Menschen oder andere Personen in vulnerablen Lebenslagen betroffen sind. Wenn alternative Wohnformen angeboten werden, soll dabei der Schutz der Familie besonders berücksichtigt werden.

Die Argumentation des UN-Ausschusses kann im Dialog mit Behörden oder in Gerichtsverfahren verwendet werden. Dies bietet sich beispielsweise bei Räumungsklagen an, oder aber auch bei Konflikten mit kommunalen Ordnungsbehörden, etwa wenn eine (zwangsgeräumte) Familie im Rahmen einer ordnungsrechtlichen Unterbringung auf getrennte Notunterkünfte verteilt werden soll.

5. Entscheidung im Volltext

CESCR_20.06.2017_Djazia_and_Bellili_v._Spain_ENG (PDF, 345 KB, nicht barrierefrei)

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