CCPR, Mitteilung Nr. 1493/2006 (Williams Lecraft vs. Spain)
CCPR, Auffassungen vom 27.07.2009, Rosalind Williams Lecraft (vertreten durch Open Society Justice Initiative, Women’s Link Worldwide, SOS Racismo-Madrid) gegen Spanien
1. Sachverhalt
Rosalind Williams Lecraft (R. W. L.) ist seit 1969 spanische Staatsbürgerin. 1992 fuhr sie mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn mit der Bahn von Madrid nach Valladolid. Auf dem Bahnsteig angekommen, fragte sie ein Polizist nach ihrem Ausweis. Außer ihr wurde keine andere Person kontrolliert, auch nicht ihre Angehörigen. Als sie nach dem Grund der Kontrolle fragte, antwortete der Polizist, er sei verpflichtet, „Menschen wie sie“ zu kontrollieren, da „viele von ihnen illegal eingewandert“ seien. Auf Anweisung des Innenministeriums solle die Polizei besonders die Papiere „farbiger Menschen“ kontrollieren. Die Bemerkung des Ehemannes, dass dies eine rassistische Diskriminierung sei, wies der Polizist zurück.
R. W. L. erstattete Strafanzeige wegen rassistischer Diskriminierung bei der Polizei. Das Ermittlungsgericht wies die Anzeige mangels Tatverdachts ab. Gegen diese Entscheidung legte sie keine weiteren Rechtsbehelfe ein.
Stattdessen erhob sie beim Innenministerium Beschwerde wegen der Anweisung, Schwarze Menschen zu kontrollieren. Sie führte aus, dass diese rassistische Praxis gegen die Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße, und verlangte Schmerzensgeld. Das Ministerium wies die Beschwerde 1994 zurück. Eine solche Dienstanweisung existiere nicht. Ferner habe der Polizeibeamte im Rahmen seiner Zuständigkeit gehandelt, die illegale Einwanderung zu bekämpfen.
Das Verwaltungsgericht wies den Rechtsbehelf von L. gegen diese Entscheidung 1996 ab. Das Verhalten des Polizisten sei mit den Ausländergesetzen vereinbar. Diese ordneten an, dass Polizisten an Bahnstationen Ausländer*innen identifizieren sollten. Da R. W. L. Schwarz sei, sei die Kontrolle von den Gesetzen gedeckt und nicht unverhältnismäßig gewesen. Ferner habe sich der Polizeibeamte bei der Kontrolle nicht rücksichtslos oder demütigend verhalten.
Die Verfassungsbeschwerde von L. blieb erfolglos. Das Verfassungsgericht stellte 2001 fest, dass keine direkte oder indirekte Diskriminierung vorgelegen habe. Weder habe es eine konkrete Dienstanweisung gegeben, noch sei erwiesen, dass der Polizist aufgrund rassistischer Vorurteile oder besonderer Intoleranz gegenüber einer ethnischen Gruppe gehandelt habe.
Aufgrund emotionaler und finanzieller Probleme nach neun Jahren Rechtsstreit gab R. W. L. zunächst das Vorhaben auf, sich an einen internationalen Spruchkörper zu wenden.
2. Verfahren vor dem Menschenrechtsausschuss (CCPR)
R. W. L. legte 2006, vertreten durch ein Bündnis von Nichtregierungsorganisationen („Open Society Justice Initiative“, „Women’s Link Worldwise“ und „SOS Racismo-Madrid“), vor dem UN-Menschenrechtsausschuss (CCPR) Beschwerde ein. Sie stützte sich dabei auf Artikel 2, 12 Absatz 1 und 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt).
Diese Vorschriften seien verletzt, da sie diskriminiert worden sei. Sie sei nur kontrolliert worden, weil sie wegen ihrer Hautfarbe zu einer Gruppe gehöre, die nicht mit der spanischen Staatsangehörigkeit verbunden würde. Damit werde sie schlechter als andere spanische Bürger behandelt. Das spanische Recht sei nur dem Anschein nach neutral. Bei der konkreten Anwendung würden Schwarze Menschen oder Menschen mit besonderen ethnischen, körperlichen Eigenschaften unverhältnismäßig benachteiligt.
R. W. L. bringt vor, dass die Hautfarbe kein verlässliches Kriterium für die Bestimmung der Nationalität sei. Spanien habe damit nicht nachgewiesen, dass das Kriterium der Hautfarbe oder ethnischen Zugehörigkeit vernünftig und verhältnismäßig sei. Immer mehr spanische Staatsangehörige seien Schwarz, dagegen seien viele ausländische Menschen weiß und sähen wie spanische Staatsangehörige aus. Auch ein legitimer Zweck wie Einwanderungskontrolle könne keine Praxis rechtfertigen, die sich direkt gegen Schwarze Menschen richte. Eine solche Praxis sei im Kampf gegen Rassismus kontraproduktiv, da sie den Gebrauch rassistischer Kriterien zu falschen Zwecken legitimiere. Die Verwendung der Hautfarbe als Indikator fehlender Nationalität und selbst illegalen Aufenthalts in Spanien sei direkte Diskriminierung. Die ausschließliche Verwendung von rassistischen, ethnischen und körperlichen Eigenschaften als Indikatoren sei bedenklich, da die Einwanderungskontrolle somit auf Stereotypen aufbaue. Der Rückschluss von Schwarzen Menschen auf Opfer von Menschenhandel aus Afrika südlich der Sahara sei verfehlt, da nur sieben Prozent aller Menschenhandelsopfer überhaupt aus Afrika stammten.
Ob der Polizeibeamte vorsätzlich gehandelt oder sich angemessen verhalten habe, sei ebenso irrelevant für eine indirekte Diskriminierung wie die Frage, ob es noch weitere Kontrollen der Beschwerdeführerin gegeben habe.
Zur Zulässigkeit führt R. W. L. aus, dass sie nach neun Jahren Rechtsstreit neben emotionalen Problemen auch finanzielle Schwierigkeiten gehabt habe, da sie mangels nationaler Prozesskostenhilfe alle Kosten des Rechtsstreits selbst tragen musste. Deshalb habe sie weitere, internationale Rechtsbehelfe nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht finanzieren können.
Die spanische Regierung, gegen die sich die Beschwerde richtete, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.
Die Beschwerde sei unzulässig, da R. W. L. sie erst sechs Jahre nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts eingelegt habe.
Die Beschwerde sei unbegründet, da die Kontrolle illegaler Einwanderung legitim und konventionsgemäß sei. Das Kriterium der Hautfarbe sei vernünftig und verhältnismäßig. Noch heute seien wenige spanische Staatsangehörige Schwarz. Parallel kämen viele illegal Einwandernde aus Afrika südlich der Sahara nach Spanien, viele davon durch Menschenhandel. Wer die Kontrolle illegaler Einwanderung für legitim halte, müsse auch verhältnismäßige Polizeikontrollen mit diesem Zweck anerkennen. Diese dürften gewisse körperliche oder ethnische Eigenschaften, die vernünftige Hinweise auf eine fehlende spanische Staatsbürgerschaft lieferten, in Betracht ziehen. Ferner habe es keine besondere Dienstanweisung gegeben. R. W. L. sei in den 15 Jahren nach dem Vorfall nicht erneut kontrolliert worden, sodass man nicht von Diskriminierung sprechen könne.
Die Kontrolle sei zudem respektvoll und verhältnismäßig verlaufen. Sie habe an einem Ort stattgefunden, an dem Menschen in der Regel Ausweispapiere mit sich führten.
3. Entscheidung des Menschenrechtsausschusses
Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 26 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 3 CCPR (Staatenverpflichtung, ein wirksames Beschwerderecht zu gewährleisten) fest, da R. W. L. durch die polizeiliche Personenkontrolle rassistisch diskriminiert worden sei.
Er empfahl Spanien, die Verletzung unter anderem durch eine öffentliche Entschuldigung wiedergutzumachen und alle erforderlichen Schritte zu ergreifen, um ähnlichen Verstößen vorzubeugen.
3.1 Zulässigkeit (Rz. 6.1 ff.)
Der Ausschuss hält die Beschwerde für zulässig, da kein Rechtsmissbrauch vorliege. Der Zivilpakt sehe keine Ausschlussfrist vor und der Ausschuss nehme nur in Ausnahmefällen eine Unzulässigkeit wegen später Beschwerdeeinreichung an. Ein solcher Fall liege nicht vor, weil die Beschwerdeführerin Schwierigkeiten gehabt habe, Verfahrenskostenhilfe zu erlangen.
3.2 Begründetheit (Rz. 7.1 ff.)
Der Ausschuss stellt eine Verletzung des Diskriminierungsverbots fest, da eine Ungleichbehandlung vorliege, für die der Staat verantwortlich sei (Rz. 7.2-7.3), Diese Ungleichbehandlung sei eine konventionswidrige Diskriminierung, da das Kriterium der Differenzierung nicht vernünftig und objektiv sei (Rz. 7.4).
a. Ungleichbehandlung: Hautfarbe als Differenzierungskriterium
Unzulässig sei es, bei grundsätzlich erlaubten Personenkontrollen allein von körperlichen oder ethnischen Eigenschaften der kontrollierten Menschen auf illegalen Aufenthalt zu schließen. Zudem sollten nicht allein Menschen mit besonderen körperlichen oder ethnischen Eigenschaften kontrolliert werden. Sonst werde nicht nur die Würde dieser Menschen verletzt. Kontrollen allein dieser Menschen trügen zu rassistischen Haltungen bei und seien mit einer effektiven Strategie gegen rassistische Diskriminierung unvereinbar (Rz. 7.2).
Der Fachausschuss entnimmt dem Sachverhalt, dass es sich unstreitig um eine anlasslose Personenkontrolle gehandelt habe und dass niemand außer R. W. L. kontrolliert worden sei. Daraus schließt er,
- dass R. W. L. anders als die anderen Anwesenden behandelt worden sei,
- dass R. W. L. allein aufgrund rassistischer Kriterien ausgewählt worden sei,
- dass diese Eigenschaften entscheidend für den Verdacht gewesen seien, dass sie sich unrechtmäßig verhalten habe (Rz. 7.4).
Verantwortlichkeit des Staates
Der Ausschuss betont, dass Staaten für das Handeln und Unterlassen aller ihrer Organe verantwortlich gemacht werden könnten. Der Fachausschuss stellt fest, dass die Verantwortlichkeit Spaniens offensichtlich sei. Auch wenn es keine schriftliche Dienstanweisung gegeben habe, sei der Polizeibeamte jedenfalls davon ausgegangen, das Kriterium der Hautfarbe verwenden zu dürfen. Die Gerichte hätten diese Vorgehensweise gebilligt (Rz. 7.3).
b. Rechtfertigung
Der Ausschuss legt dar, dass nicht jede Ungleichbehandlung eine Diskriminierung darstelle. Dies sei nicht der Fall, wenn ein legitimer Zweck vorliege und die Differenzierungskriterien vernünftig und objektiv seien (Rz. 7.4).
Legitimer Zweck
Der Fachausschuss erläutert, dass Personenkontrollen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, der Prävention von Straftaten oder zur Kontrolle illegaler Einwanderung grundsätzlich einem legitimen Zweck dienten (Rz. 7.2).
Unverhältnismäßigkeit der Personenkontrolle
Der Fachausschuss nimmt ohne weitere Begründung keine Rechtfertigung an, da zwar ein legitimer Zweck vorliege, aber die Ungleichbehandlung aufgrund der Hautfarbe weder vernünftig noch objektiv sei. Zudem habe Spanien keine Wiedergutmachung – etwa in Form einer Entschuldigung – angeboten (Rz. 7.4).
3.3 Empfehlungen (Rz. 9)
Der Fachausschuss stellt fest, dass Spanien gemäß Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe a zur wirksamen Wiedergutmachung, einschließlich einer öffentlichen Entschuldigung, verpflichtet ist. Ferner sei Spanien verpflichtet, alle erforderlichen Schritte zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Staatsbedienstete diese Art von Verstößen nicht erneut begehen könnten.
3.4 Abweichende Sondervoten
Zwei Mitglieder des Ausschusses hielten die Beschwerde wegen Rechtsmissbrauchs für unzulässig. Unter Berufung auf vier tschechische Fälle des Menschenrechtsausschusses weisen sie darauf hin, dass der Ausschuss bislang Beschwerden nach über fünf Jahren als verspätet angesehen habe („Kudrna gegen die Tschechische Republik“, Mitteilung Nr. 1582/2007; „Chytil gegen die Tschechische Republik“, Mitteilung Nr. 1452/2006; „Lnenicka gegen die Tschechische Republik“, Mitteilung Nr. 1484/2006; „Vlcek gegen die Tschechische Republik“, Mitteilung Nr. 1485/2006). Ihrer Auffassung nach könnten die Schwierigkeiten bei der Erlangung von Prozesskostenhilfe einen Zeitraum von sechs Jahren zwischen letztinstanzlicher Entscheidung und Beschwerde nicht rechtfertigen.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
Die Entscheidung gilt als Meilenstein im Bereich rassistischer Diskriminierung bei Personenkontrollen. Der Ausschuss führt aus, dass selektive Personenkontrollen, die sich an spezifischen körperlichen Merkmalen orientieren, nicht nur die Würde der Betroffenen beeinträchtigt, sondern auch zur Verbreitung diskriminierender Einstellungen in der allgemeinen Öffentlichkeit beitragen und einer wirksamen Politik zur Bekämpfung von Rassismus zuwiderlaufen.
Rosalind Williams Lecraft war die erste Beschwerdeführerin, die sich vor einem Spruchkörper der Vereinten Nationen gegen „ethnic profiling“ gewandt hat. Sie wurde durch einen Verbund von Nichtregierungsorganisationen im Rahmen einer Kampagne gegen rassistische Personenkontrollen rechtlich begleitet. Im Juli 2012 verurteilte der EGMR Spanien ausdrücklich aufgrund einer rassistischen Personenkontrolle wegen (intersektioneller) Diskriminierung („B. S. gegen Spanien“, Beschwerde-Nr. 47159/08).
In Fällen zu „ethnic profiling“ werden häufig die gleichen Rechtfertigungsargumente vorgebracht, die der CCPR in seinen Auffassungen zurückgewiesen hat. Die Erwägungen des Fachausschusses können entsprechend auch vor deutschen Gerichten Verwendung finden.
In Deutschland haben im Februar 2012 zwei Verfahren die Öffentlichkeit erreicht:
- das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz, das eine anlasslose Personalienfeststellung durch die Bundespolizei für rechtmäßig erklärte, da diese berechtigt sei, die „Auswahl der anzusprechenden Personen auch nach dem äußeren Erscheinungsbild vornehmen“ (Verwaltungsgericht Koblenz, Urteil vom 28.02.2012, Aktenzeichen: 5 K 1026/11.KO; aufgehoben vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz wegen Erledigung nach Entschuldigung, Beschluss vom 29.10.2012, Aktenzeichen: 7 A 10532/12.OVG).
- die Verurteilung eines Schwarzen Deutschen wegen Beleidigung nach einer anlasslosen Personenkontrolle im Zug (Amtsgericht Kassel, Urteil vom 12.07.2011, Aktenzeichen: 282 Cs 11344/11; aufgehoben durch Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 20.03.2012, Aktenzeichen: 2 Ss 329/11).
5. Follow Up (Stand: November 2013)
Nach Informationen der Open Society Justice Initiative (OSJI), die den Fall begleitet hat, hat sich Spanien hinter verschlossenen Türen bei der Beschwerdeführerin entschuldigt, aber nicht öffentlich die Verantwortung für ihre Behandlung übernommen. Entschädigungen seien nicht gezahlt, Verfahrenskosten nicht erstattet worden.
Die OSJI weist darauf hin, dass „ethnic profiling“ in Spanien vor allem bei der Einwanderungskontrolle noch immer ständige Praxis sei. Das Innenministerium leugne die Existenz dieser Praktiken weiterhin. 2009 sei bekannt geworden, dass die Madrider Polizei Anweisung erhalten habe, Menschen bestimmter Staatsangehörigkeiten verstärkt zu kontrollieren, ohne auf die Entscheidung des CCPR hinzuweisen. 2010 sei eine Aufforderung des Innenministeriums bekannt geworden, wonach Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen durch vermehrte Schwerpunktkontrollen Ausweisungsquoten erfüllen sollten. Es sei zu vermuten, dass auch diese Personen noch immer aufgrund ihres Aussehens ausgewählt würden.
6. Entscheidung im Volltext
CCPR_27.07.2009_Williams_Lecraft_v._Spain_ENG.pdf (PDF, 40 KB, nicht barrierefrei)
Weiterführende Informationen
- Verwaltungsgericht Koblenz: Urteil vom 14. März 2012, Aktenzeichen 5 K 1026/11.KO Nicht barrierefrei
- Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz: Pressemitteilung vom 30.10.2012
- Oberlandesgericht Frankfurt am Main: Beschluss vom 27. März 2012, Aktenzeichen 2 Ss 329/11 Nicht barrierefrei
- Verwaltungsgericht Rheinland-Pfalz: VG Koblenz - Identitätsfeststellung eines Zugreisenden (Pressemitteilung vom 27.03.2012)
- Studie: „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz
- Open Society Justice Initiative: Ethnic Profiling in Spain Persists, Despite Landmark Ruling