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Beschwerde-Nr. 47159/08

EGMR, Urteil vom 24.07.2012, Beschwerde-Nr. 47159/08, B. S. gegen Spanien

1. Sachverhalt

B. S. ist eine Sexarbeiterin nigerianischer Herkunft, die seit 2003 regulär in Spanien lebt und arbeitet. Innerhalb einer Woche wurde sie mehrmals bei ihrer Arbeit von der Polizei kontrolliert und befragt:

Am 15.07.2005 verlangten zwei Polizeibeamte ihre Papiere und verwiesen sie ihres Platzes auf der Straße. Als sie wenig später zurückkehrte, sah sie beide erneut und versuchte zu flüchten. Daraufhin hätten die Polizisten sie eingeholt, sie mit einem Schlagstock auf den Oberschenkel und die Handgelenke geschlagen und sie noch einmal nach ihren Papieren gefragt. Einer der Beamten habe sie rassistisch beschimpft.

Am 21.07.2005 hätten die gleichen Polizeibeamten sie erneut angehalten. Einer von ihnen habe sie mit einem Schlagstock auf die Hand geschlagen. B. S. zeigte die Polizisten beim Ermittlungsrichter an und ließ sich behandeln. Der Arzt stellte eine Entzündung und eine leichte Schwellung der linken Hand fest. Der Ermittlungsrichter forderte einen Bericht des Polizeihauptquartiers an. Der Polizeipräsident erklärte, dass in der Gegend aufgrund zahlreicher Anzeigen wegen Straftaten häufig Streifen unterwegs seien. B. S. sei vor der Kontrolle geflohen, aber die Polizeibeamten hätten sie nicht gedemütigt. Die im Einsatzbericht der Polizei vermerkte Streifennummer wich von derjenigen ab, die B. S. genannt hatte. Daraufhin stellte der Ermittlungsrichter das Verfahren aus Mangel an Beweisen ein. B. S. legte vergeblich Beschwerde gegen diese Entscheidung ein und verlangte erfolglos weitere Ermittlungsmaßnahmen, darunter die Identifikation der Beamten und die Befragung von Augenzeuginnen und -zeugen. Der Ermittlungsrichter vertrat die Auffassung, die Fakten zeigten lediglich, dass B. S. wiederholt Polizeianweisungen missachtet habe, die das "beschämende Schauspiel der Prostitution auf öffentlichem Straßenland" verhindern sollten.

Auf weitere Beschwerde hob ein Gericht die Entscheidung auf und ordnete Ermittlungen wegen geringfügiger Straftaten gegen die beiden Polizisten an, die im Bericht des Polizeipräsidenten aufgeführt waren. Mangels Identifikation durch B. S. wurden beide schließlich 2008 freigesprochen. Die Polizisten der von B. S. angegebenen Streife wurden nicht verfolgt.

Am 23.7.2005 wurde B. S. wieder kontrolliert und nach ihren Angaben mit einem Schlagstock auf Hand und Knie geschlagen. Ein Arzt stellte Wunden an Hand und Knie fest. B. S. zeigte den Vorfall an und brachte vor, aus rassistischen Gründen von den Polizisten ausgewählt worden zu sein. Die Beamten hätten sie zwangsweise auf die Polizeiwache gebracht, um sie zu einem Geständnis wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu bewegen. B. S. beantragte vergeblich beim Ermittlungsrichter die Herausgabe der Identifikationsnummern der Beamten, hilfsweise, alle Streifenpolizisten, die zu der Zeit in der Gegend eingesetzt worden seien, zur Gegenüberstellung zu laden. Der Ermittlungsrichter forderte lediglich einen erneuten Polizeibericht an. Die Gegenüberstellung lehnte er ab, da dies keine verlässliche Methode sei: Es sei viel Zeit vergangen und die Polizisten hätten Helme getragen, sodass eine Identifizierung unwahrscheinlich sei. Der Polizeipräsident gab an, B. S. habe zugegeben, als Sexarbeiterin in der Gegend tätig zu sein. Sie habe nur Anzeige erstattet, um ihrer Tätigkeit auf öffentlichem Straßenland weiterhin ungestört nachgehen zu können. Es gebe keine Aufzeichnungen über einen vermeintlichen Streifengang an diesem Tag. Daraufhin stellte der Ermittlungsrichter das Verfahren einstweilen aus Mangel an Beweisen ein. B. S. legte vergeblich Beschwerde gegen diese Entscheidung ein.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

B. S. berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2008 auf Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Artikel 3 EMRK sei verletzt worden, da die Polizeibeamten sie bei der Kontrolle körperlich und verbal misshandelt und sie aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts diskriminiert hätten. Auch liege ein Verstoß gegen die verfahrensrechtliche Pflicht vor, da die gerichtlichen Ermittlungen unangemessen gewesen seien. Des Weiteren wandte sich B. S. gegen den diskriminierenden Sprachgebrauch des Ermittlungsrichters. Der Staat habe durch die Art der Durchführung der Ermittlungen, insbesondere durch die Ablehnung der Gegenüberstellung, gegen Artikel 3 EMRK verstoßen. Die Gerichte hätten ihr die Ermittlungs- und Beweislast auferlegt. Sie habe gegen die beiden Polizeibeamten keine Strafanzeige erstattet, da diese nicht diejenigen gewesen waren, die sie misshandelt hätten. Die Ermittlungen seien ungeeignet gewesen, da durch sie die Verantwortlichen nicht ermittelt werden konnten. Ferner seien sie unzureichend gewesen, weil die Richter allein auf Grundlage der Polizeiberichte entschieden hätten. Polizei und Gerichte hätten aufgrund ihrer Vorurteile gehandelt. Schließlich verwies B. S. darauf, dass der Fachausschuss des UN-Zivilpaktes bereits festgestellt habe, dass Diskriminierung gegen schwarze Frauen ein strukturelles Problem in Spanien sei.

Artikel 14 EMRK sei verletzt worden, weil B. S. wegen ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin, ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe diskriminiert worden sei. Die Beamten hätten rassistische Bemerkungen geäußert; andere Sexarbeiterinnen mit "europäischem Erscheinungsbild" seien nicht von der Polizei kontrolliert worden. Als schwarze Sexarbeiterin sei sie besonders verletzlich und anfällig für diskriminierende Übergriffe. Alle Elemente der Diskriminierung müssten gemeinsam betrachtet werden, da ihr Zusammenspiel für die Bewertung der Ereignisse wesentlich sei. Sowohl die wiederholten Kontrollen und die rassistischen wie sexistischen Beschimpfungen der Polizeibeamten als auch die Entscheidungen der Ermittlungsrichter seien diskriminierend gewesen. Der Staat habe demütigende und unverhältnismäßige Maßnahmen ergriffen.

Die spanische Regierung wies die Beschwerde zurück. Die Behörden hätten nicht gegen Artikel 3 EMRK verstoßen, da die Verletzungen nicht hinreichend schwer gewesen seien. Bei den Kontrollen habe es sich um allgemeine, nicht gegen B. S. gerichtete, Präventivmaßnahmen gegen organisierte Ausbeutung von Immigrantinnen und zur Beruhigung der Öffentlichkeit gehandelt. "Zwangsprostitution" stelle eine Straftat dar. Die Gerichte hätten in beiden Fällen ausreichende Ermittlungen durchgeführt. Der Staat sei nur verpflichtet, alle sinnvollen Mittel einzusetzen, nicht aber, einen Erfolg zu garantieren. Die einzige von B. S. geforderte Ermittlungsmaßnahme, die Gegenüberstellung, sei zu Recht abgelehnt worden, da die Polizei die diensthabenden Beamten bereits identifiziert hätte. Auch Artikel 14 EMRK sei nicht verletzt worden, da die Beschwerdeführerin keine Beweise für die Diskriminierung geliefert habe. Die spanischen Behörden kontrollierten Sexarbeiterinnen ohne Unterscheidung nach ihrer Hautfarbe.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Verpflichtung nach Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) fest, da die spanischen Behörden keine effektiven Ermittlungen durchgeführt hätten. Dagegen nahm er keine Verletzung der materiellen Gewährleistung des Artikels 3 EMRK an, da die Beweise dafür nicht ausreichten. Insbesondere seien die Atteste undatiert und böten zu wenige Informationen, sodass die Ursache der Verletzungen nicht mit der notwendigen Gewissheit festgestellt werden könne. Dies sei jedoch hauptsächlich auf die fehlerhaften Ermittlungen zurückzuführen.

Der Gerichtshof stellte aber einen Verstoß gegen Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 3 EMRK fest, weil die Gerichtsentscheidungen die besondere Verletzlichkeit von B. S. als schwarze Frau, die als Sexarbeiterin tätig sei, nicht berücksichtigten. Damit hätten die Gerichte ihre Pflicht verletzt, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um festzustellen, ob diskriminierendes Verhalten bei den Vorfällen eine Rolle gespielt habe.

3.1 Staatliche Ermittlungsverpflichtungen bei Misshandlungsvorwürfen gegen die Polizei (Rz. 40 ff.)

Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR ist ein Staat unter Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 1 EMRK verpflichtet, effektive offizielle Ermittlungen durchzuführen, sobald eine Person glaubhaft versichert, von der Polizei oder sonstigen Staatsbediensteten misshandelt worden zu sein. Effektiv seien wie bei Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) Ermittlungen, die geeignet seien, grundsätzlich zur Ermittlung des Sachverhalts sowie zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu führen (siehe unter anderem "McCann und andere gegen des Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 19009/04). Andernfalls würde das generelle Folter- und Misshandlungsverbot trotz seiner grundlegenden Bedeutung in der Praxis leerlaufen, mit der Folge, dass Staatsbedienstete die Rechte derjenigen, die unter ihrer Kontrolle stehen, in voller Straflosigkeit missbrauchen könnten ("Assenov und andere gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 24760/94).

Der EGMR betonte, dass Artikel 3 EMRK nur anwendbar sei, wenn ein gewisser minimaler Schweregrad der Verletzungen erreicht sei. Dieses Minimum sei relativ und an den Umständen des Einzelfalls zu messen. Dazu gehörten zum Beispiel Art, Dauer und Zusammenhang der Misshandlungen sowie ihre körperlichen und seelischen Auswirkungen und, in bestimmten Fällen, Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (ständige Rechtsprechung, siehe beispielsweise "Labita gegen Italien", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 26772/95). Gemessen an diesen Kriterien sei Artikel 3 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar: Die ärztlicherseits festgestellten körperlichen Verletzungen stimmten mit den Anschuldigungen von B. S. überein. Hinzu komme der Vorwurf rassistischer und herabwürdigender Bemerkungen.

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung der Ermittlungspflicht fest. Die Ermittlungen seien nicht hinreichend vollständig und effektiv gewesen. Er führte aus, dass auf die beiden Anzeigen von B. S. hin zwar Ermittlungen stattgefunden hätten, diese sich aber auf die Anforderungen von Polizeiberichten - noch dazu durch die direkten Vorgesetzten - beschränkt hätten. Die Ermittlungsrichter hätten sich bei der Einstellung der Ermittlungen allein auf diese Berichte gestützt. Ferner erfülle die mündliche Verhandlung nicht die Anforderungen des Artikels 3 EMRK, da es keine Gelegenheit gegeben habe, die Verantwortlichen zu identifizieren. Der Antrag von B. S. auf Gegenüberstellung sei nicht überflüssig gewesen (siehe dazu unter anderem "Krastanov gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 50222/99). Seine Abweisung mit der Begründung, dass zu viel Zeit vergangen sein und die Polizisten wegen der Helme, die sie getragen hätten, ohnehin nicht zu erkennen gewesen seien, genüge den Anforderungen der EMRK nicht.

Zudem hätten die medizinischen Gutachten Verletzungen festgestellt, die zumindest einen Anfangsverdacht begründeten. Zwar seien die Atteste undatiert und ungenau gewesen, hätten aber Ausgangspunkt weiterer gerichtlicher Ermittlungen sein müssen. Zuletzt hätten die Ermittlungsrichter weder Augenzeuginnen und -zeugen identifiziert und vernommen noch hinsichtlich der Vorwürfe von B. S. ermittelt, dass sie dazu gezwungen worden sei, mit auf die Wache zu kommen, um dort den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu gestehen. Die spanischen Behörden könnten Verstöße gegen Artikel 3 EMRK nicht mit Verweis auf Präventivmaßnahmen rechtfertigen.

3.2 Ermittlungsverpflichtungen bei multipler - rassistischer, geschlechts- und berufsbezogener - Diskriminierung (Rz. 67 ff.)

Bei der Ermittlung von Gewaltvorfällen treffe staatliche Behörden zusätzlich die Pflicht, nach bestem Bemühen alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um rassistische Motive zu entlarven und zu bestimmen, ob ethnisch begründeter Hass oder ethnische Vorurteile bei dem Vorfall eine Rolle gespielt haben könnten. Da dies in der Praxis schwierig sei, müssten die Behörden alles tun, was unter den gegebenen Umständen vernünftig sei, um Beweise zu sichern. Sie müssten alle praktisch verfügbaren Mittel zur Wahrheitserforschung nutzen und vollständig begründete, unparteiliche und objektive Entscheidungen treffen, ohne verdächtige Fakten unberücksichtigt zu lassen, die den Schluss auf rassistische Gewalt zuließen ("Nachova und andere gegen Bulgarien", Beschwerde-Nrn. 43577/98, 43579/98). Es obliege der Regierung, Beweise vorzulegen, die die Version des Opfers in Zweifel zögen ("Turan Cakir gegen Belgien", Beschwerde-Nr. 44256/06).

Der EGMR betonte am Rande, dass die Frage, ob eine kausale Verbindung zwischen rassistischer Haltung und Gewalt bestehe, bereits Teil der verfahrensrechtlichen Ermittlungspflicht unter Artikel 3 EMRK sei, aber auch unter Artikel 14 EMRK Bedeutung erlangen könne. Je nach Sachverhalt sei eine Prüfung beider oder nur einer Vorschrift erforderlich. Eine eigenständige Prüfung von Artikel 14 EMRK hänge von den Fakten und den Vorwürfen ab ("Nachova und andere gegen Bulgarien").
In diesem Fall sei es notwendig, festzustellen, ob Spanien auch Ermittlungen hinsichtlich der Verbindung zwischen rassistischer Haltung und Gewalt der Polizeibeamten versäumt und damit gegen die verfahrensrechtliche Verpflichtung aus Artikel 14 EMRK verstoßen habe (vergleiche "Turan Cakir gegen Belgien").

In beiden Anzeigen habe B. S. rassistische Kommentare der Polizeibeamten erwähnt. Sie habe ferner angegeben, dass Sexarbeiterinnen mit "europäischem Erscheinungsbild" nicht kontrolliert worden seien, ohne dass das ermittelnde Gericht diesen Vorwürfen nachging. Das Gericht habe die besondere Verletzlichkeit von B. S. nicht berücksichtigt, die in ihrer Situation als schwarzer Frau, die als Sexarbeiterin tätig ist, bestand.

Damit habe es nicht alle zur Verfügung stehenden Maßnahmen ausgeschöpft, um einer möglichen diskriminierenden Haltung auf den Grund zu gehen.

3.3 Entschädigung

Der EGMR sprach B. S. eine Entschädigung in Höhe der beantragten 30.000 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:

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