Beschwerde-Nr. 71127/01
EGMR, Urteil vom 12.06.2008, Beschwerde-Nr. 71127/01, Bevacqua und S gegen Bulgarien
1. Sachverhalt
Die Bulgarin Valentina Nikolaeva Bevacqua (V. B.) zog mit ihrem dreijährigen Sohn (S. B.) zu ihren Eltern und reichte die Scheidung ein, nachdem ihr Mann (N. B.) sie ihren Angaben zufolge regelmäßig körperlich misshandelt hatte. Ihren zeitgleich eingereichten Antrag auf einstweilige Regelung des Sorgerechts beschied das Gericht nicht. Zunächst besuchte N. B. den Sohn täglich und nahm ihn am Wochenende mit dem Einverständnis von V. B. zu sich. Eines Tages teilte er V. B. mit, S. B. würde von nun an bei ihm leben. Nachdem N. B. V. B. den Umgang mit S. B. verweigert hatte und die Behörden auf die Beschwerde von V. B. nicht reagiert hatten, nahm V. B. den Sohn vom Kindergarten mit zu ihren Eltern. Abends verschaffte sich N. B. unter Einschüchterungen Zugang zu dem Haus. Er schlug V. B. und nahm das Kind mit. V. B. zeigte N. B. unter Vorlage eines medizinischen Attests über die Verletzungen bei der Staatsanwaltschaft an. Sie zog mit S. B. vorübergehend in ein Frauenhaus. N. B. zeigte V. B. wegen Kindesentführung an, worauf V. B. von der Polizei vorgeladen wurde, die ihrer Version keinen Glauben schenkte. Das Jugendamt führte eine Verständigung zwischen V. B. und N. B. herbei, wonach S. B. vorübergehend abwechselnd je einen Monat bei jedem Elternteil wohnen sollte. N. B. hielt sich daran nicht. Das Gericht setzte das Scheidungs- und Sorgerechtsverfahren bis zum Ablauf der einjährigen gesetzlichen Versöhnungsfrist aus. Unterdessen kam es immer wieder zu Übergriffen durch N. B. gegenüber V. B., worauf er von der Polizei verwarnt wurde.
Erst nach einem halben Jahr befasste sich das Gericht mit dem Antrag von V. B. auf einstweiligen Rechtsschutz. Nachdem nach mehreren Anhörungen, Befragungen von Zeuginnen und Zeugen und der Vorlage eines psychotherapeutischen Gutachtens immer noch keine einstweilige Verfügung erlassen worden war, nahm V. B. ihren Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zurück und beantragte, über das Sorgerecht im Rahmen des Scheidungsurteils zu entscheiden. Im März 2001 nahm V. B. S. B. wieder zu sich und wurde von der Polizei verwarnt. Im April sagte ein Sozialamtsmitarbeiter aus, dass S. B. Angst vor seinem Vater habe, weil dieser seine Mutter schlage, und bei V. B. leben wolle. In Anbetracht des jungen Alters von S. B. wurde V. B. schließlich das alleinige Sorgerecht zugesprochen und N. B. ein Umgangsrecht eingeräumt. Dessen Berufung 2002 blieb erfolglos, mit der Begründung dass er aufgrund seines aggressiven Verhaltens ein schlechtes Beispiel für seinen Sohn sei. Kurz danach schlug er V. B. erneut. V. B. zeigte N. B. bei der Staatsanwaltschaft unter Vorlage eines Attests an, das Wunden im Gesicht, am Arm, an Achsel und Hüfte auswies. Die Strafverfolgungsbehörde lehnte die Aufnahme von Ermittlungen ab und verwies V. B. auf den Privatklageweg, da es sich um leichte Verletzungen handelte.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
V. B. erhob in ihrem eigenen Namen und im Namen von S. B. im Jahr 2000 Beschwerde vor dem EGMR. Sie berief sich in beider Namen auf Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Artikel 8 EMRK sei verletzt worden, da häusliche Gewalt nach bulgarischem Recht als Familienangelegenheit behandelt werde, die keiner staatlichen Strafverfolgung bedürfe. Die Verweisung auf den Privatklageweg sei unvereinbar mit der staatlichen Verpflichtung, Schutz vor häuslicher Gewalt zu gewähren, und diskriminiere Frauen, da unverhältnismäßig viele Frauen von dieser Regelung betroffen seien. Durch die Einordnung von häuslicher Gewalt als Privatangelegenheit versetze die bulgarische Regierung die oft verletzlichen Betroffenen nicht in die Lage, effektiven Rechtsschutz zu erlangen. Durch eine Privatklage wäre V. B. gezwungen gewesen, in einer höchst sensiblen Angelegenheit als Anklägerin aufzutreten und sich weiterer gewalttätiger Reaktionen durch N. B. auszusetzen. Ferner führte V. B. mit gleicher Begründung Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung), 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) und Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) an.
Eine Verletzung von Artikel 6 EMRK liege vor, da die nachlässige Herangehensweise des Gerichts zu ungerechtfertigten Verzögerungen der Sorgerechtsentscheidung geführt habe.
Die bulgarische Regierung wies die Beschwerde zurück. Artikel 8 EMRK sei nicht verletzt, weil es sich lediglich um gewöhnliche Scheidungsstreitigkeiten handele. V. B. und N. B. hätten diverse wechselseitige Beschwerden erhoben, um ihre Ausgangsposition im Scheidungsverfahren zu verbessern. Ferner habe keine tatsächliche Gefahr für V. B. bestanden, da sie getrennt von ihrem Mann gelebt habe. Für den Umstand, dass S. B. die Konflikte miterleben musste, seien die Eltern verantwortlich. Artikel 6 EMRK sei nicht verletzt, weil das Gericht das Verfahren in angemessener Zeit betrieben habe. V. B. selbst habe Beweiserhebungen beantragt und der Zulassung anderer Beweismittel widersprochen und damit zu der Verfahrenslänge beigetragen.
3. Entscheidung des EGMR
Das Gericht stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Dadurch, dass das Gericht versäumt habe, eine vorläufige Regelung des Sorgerechts zu treffen, und dass die Behörden versäumt hätten, ausreichende Maßnahmen aufgrund des Verhaltens von N. B. zu treffen, habe Bulgarien seine Verpflichtung unter Artikel 8 EMRK verletzt, den Beschwerdeführenden beizustehen.
Dagegen wies der EGMR eine generelle Verpflichtung des Staates zurück, in Fällen häuslicher Gewalt von Amts wegen zu ermitteln bzw. die Betroffenen staatlich bei den Ermittlungen zu unterstützen. Ferner liege keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK) vor, da die Gesamtlänge des Scheidungsverfahrens von zwei Jahren nicht unverhältnismäßig sei.
Die von V. B. vorgetragene Verletzung der Artikel 3, 13 und 14 EMRK erörterte der EGMR nicht.
3.1 Zulässigkeit: Rechtswegerschöpfung
Im Rahmen der Zulässigkeit stellte der EGMR fest, dass V. B. den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft habe, obwohl sie den einstweiligen Rechtsschutzantrag zurückgenommen habe. Dies sei nicht verfehlt, da das Gericht während der acht Monate nicht die gebotene Geschwindigkeit an den Tag gelegt hätte - in einer Situation großer Spannungen zwischen V. B. und N. B. mit negativen Auswirkungen auf S. B.
3.2 Umfang der staatlichen Schutzverpflichtung bei Gewalt durch Privatpersonen unter Artikel 8 EMRK (Rz. 64 ff.)
Zunächst legte der EGMR dar, dass Staaten unter Artikel 8 EMRK verpflichtet sein können, Schutzmaßnahmen im Verhältnis Privater untereinander zu ergreifen. Dabei hätten besonders Kinder und andere verletzliche Personen Anspruch auf effektiven Schutz ("X und Y gegen die Niederlande", Beschwerde-Nr. 8978/80). Das Recht auf Schutz des Familienlebens schließe die (wenn auch nicht schrankenlose) Verpflichtung des Staates ein, Maßnahmen zu ergreifen, um einem Elternteil den Umgang mit seinem Kind zu ermöglichen ("Šobota-Gajić gegen Bosnien und Herzegowina", Beschwerde-Nr. 27966/06). Artikel 2 und 3 und unter Umständen Artikel 8 EMRK allein oder in Verbindung mit Artikel 3 EMRK enthielten eine staatliche Verpflichtung, einen angemessenen rechtlichen Rahmen zum Schutz gegen Gewalttaten durch Privatpersonen aufrechtzuerhalten und anzuwenden ("Osman gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 23452/94; "M. C. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 39272/98). Abschließend erwähnte der Gerichtshof, dass zahlreiche internationale Verträge die besondere Verletzlichkeit von Betroffenen häuslicher Gewalt und die Notwendigkeit aktiver staatlicher Mitwirkung bei dem Schutz dieser Betroffenen betonten. Hierbei bezog sich der EGMR auf die Empfehlung Rec(2002)5 des Europarates zum Schutz von Frauen vor Gewalt, Artikel 4 (c) der Erklärung der UN-Generalversammlung zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen (1993), den Bericht des UN-Sonderberichterstatters zu Gewalt gegen Frauen an die UN-Menschenrechtskommission vom 20. Januar 2006 (E/CN.4/2006/61) sowie die dem Bericht zugrundeliegende Rechtsprechung von EGMR, CEDAW-Ausschuss und Inter-Amerikanischem Menschenrechtsgerichtshof (Rz. 49 ff.).
Staatenverpflichtung zur Bescheidung des Antrags auf einstweilige Regelung des Sorgerechts (Rz. 68 ff.)
Der EGMR stellte fest, dass die Reaktion Bulgariens auf die Situation, in der sich V. B. und S. B. bei ihrer Bitte um behördliche Unterstützung befanden, den Staatenverpflichtungen aus Artikel 8 EMRK nicht genüge. Art und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes ergaben bereits, dass solche Anträge grundsätzlich vorrangig zu behandeln seien. Dies gelte in diesem Fall besonders, da der Antrag auf vorläufige Regelung des Sorgerechts mit aggressivem Verhalten von N. B. begründet worden sei. Zwar hätte eine einstweilige Entscheidung nicht sofort erfolgen können, da eine Beweiserhebung notwendig gewesen sei, jedoch habe das Gericht dem Antrag überhaupt keine Priorität beigemessen. Es sei vielmehr Gerichtspraxis, bei Sorgerechtsentscheidungen die einjährige Versöhnungsfrist im Scheidungsverfahren abzuwarten. Während der EGMR eine solche Praxis nicht grundsätzlich kritisierte, richtete er sich jedoch gegen die automatische Anwendung dieser Frist im Falle der Beschwerdeführenden. Aufgrund der Gewalt hätten hier konkrete Umstände vorgelegen, die eindeutig zügiges Handeln erfordert hätten.
Entscheidend aus der Sicht des EGMR war das Kindeswohl: Es hätte sich dem Gericht spätestens nach dem Bericht von V. B. im Sommer 2000 aufdrängen müssen, dass der dreijährige S. B. durch die Unfähigkeit seiner Eltern, vorläufige Sorgeregelungen zu treffen, negativ betroffen gewesen sei; dass N. B. den Umgang von S. B. mit V. B. zu verhindern suchte und dass deshalb Sofortmaßnahmen nötig gewesen seien. Unter diesen Umständen hätte die Pflicht der Behörden gegenüber Mutter und Kind darin bestanden, den Antrag auf vorläufige Maßnahmen sorgfältig und zügig zu prüfen und den normalen Umgang zwischen den beiden sicherzustellen. Dagegen habe das Gericht - mindestens einmal willkürlich - die Verhandlung unterbrochen, lange Abstände zwischen den Anhörungen angeordnet und keine Anstalten gemacht, die gesamte Beweisaufnahme in einer Sitzung durchzuführen, was möglich gewesen wäre.
Staatenverpflichtung, effektive Maßnahmen gegen aggressives Verhalten zu ergreifen (Rz. 77 ff.)
Der EGMR stellte zunächst fest, dass zumindest ein Attest und das Urteil des Berufungsgerichts sowie weitere Fakten die Aussage von V. B. über körperliche Attacken seitens N. B. stützten und V. B. deshalb gemäß Artikel 8 EMRK betroffen gewesen sei. Gleiches gelte für S. B. aufgrund seines Umgangsrechts mit N. B., das - wenn es denn zu einem Kontakt kam - durch Vorfälle negativ beeinträchtigt gewesen sei.
Der Gerichtshof sah sich nicht in der Lage, festzustellen, dass die Rechte der Beschwerdeführenden nur durch staatliche Strafverfolgung oder staatliche Unterstützung bei der Strafverfolgung hätten sichergestellt werden können oder dass die EMRK in allen Fällen häuslicher Gewalt staatlich gestützte Ermittlungen einfordere. Er machte deutlich, dass er die Verletzlichkeit vieler Betroffener häuslicher Gewalt nicht ausblende, jedoch auf die Beurteilung des konkreten Falls beschränkt sei. Der Gerichtshof erkannte an, dass das bulgarische Recht die Verfolgung vieler schwerer Gewalttaten zwischen Familienmitgliedern nur mit aktiver Mitwirkung der betroffenen Person ermögliche, und deutete an, dass hinsichtlich dieser Regelungen unter anderen Umständen möglicherweise eine Verletzung hätte festgestellt werden können. In diesem Fall aber sei es nicht die Rolle des EGMR, anstelle der Behörden zwischen den zum Schutz der Beschwerdeführenden geeigneten Maßnahmen zu entscheiden, da die Wahl der Mittel in den Grenzen der EMRK in den staatlichen Beurteilungsspielraum falle.
Jedoch stellte der EGMR im konkreten Einzelfall eine Verletzung fest, da das bulgarische Recht keine besonderen Verwaltungs- und Polizeimaßnahmen für häusliche Gewalt vorgesehen habe (siehe als Beispiel für solche Maßnahmen die Empfehlung Rec(2002)5 des Ministerrates des Europarates). Er stellte fest, dass einige dieser Maßnahmen angeraten gewesen seien, ohne dies jedoch näher zu erläutern. Auch seien die von den Behörden getroffenen allgemeinen Maßnahmen nicht effektiv gewesen. Ferner habe im konkreten Fall zudem die Möglichkeit der Privat- oder Entschädigungsklage nicht ausgereicht, da diese Rechtsbehelfe gerade Zeit kosteten und erneute Gewaltvorfälle nicht hätten verhindern können. Entscheidend war aus der Perspektive des EGMR das Versäumnis der Behörden, Sanktionen gegen N. B. zu verhängen oder auf andere Art durchzusetzen, dass N. B. keine weiteren Gewalttaten beging. Durch dieses Versäumnis erhielten die Beschwerdeführenden nicht die sofortige Unterstützung, die sie benötigten. Die Haltung der Behörden, dass eine solche Unterstützung nicht erforderlich sei, weil es sich um eine "Privatangelegenheit" handele, verstieß gegen ihre Schutzverpflichtung aus Artikel 8 EMRK.
3.3 Keine Verletzung hinsichtlich der Länge des Sorgerechtsstreits (Artikel 6 EMRK)
Der EGMR stellte hingegen keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren wegen überlanger Verfahrenslänge fest. Im Rahmen des Artikels 6 EMRK sei die Gesamtlänge des Sorgerechtsstreits heranzuziehen, nicht diejenige des einstweiligen Rechtsschutzes. Wegen der schwerwiegenden Folgen statusrechtlicher Verfahren müsse regelmäßig besonderes Augenmerk auf die Verfahrenslänge gelegt werden. Unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechungskriterien aus "Frydlender gegen Frankreich" (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 30979/96) zog der EGMR die Gesamtlänge und Art des Verfahrens sowie die umfangreiche Beweisaufnahme heran und folgerte ohne weitere Begründung, dass eine Länge von zwei Jahren dafür bei Weitem nicht als übermäßig zu bewerten sei.
3.4 Entschädigung
Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin eine Entschädigung in Höhe von 4.000 Euro zu. Er betonte, dass die Behörden für das Verhalten von N. B. und die daraus folgenden Schäden nicht verantwortlich gemacht werden könnten. Allerdings hätten V. B. und S.B. zweifellos körperlichen und seelischen Schmerz durch die Versäumnisse der Behörden erfahren, die keine ausreichenden Maßnahmen getroffen hätten, um ihr Privat- und Familienleben zu schützen.
Entscheidung im Volltext: