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Beschwerde-Nr. 61382/09

EGMR, Urteil vom 16.07.2013, Beschwerde-Nr. 61382/09, B. gegen Moldawien

1. Sachverhalt

O. B., ihr Mann, V. B., und die beiden Söhne bewohnten gemeinsam eine Dreizimmerwohnung in Moldawien. O. B. ließ sich 2007 von V. B. scheiden, da er sie systematisch schlug und beschimpfte. Nach der Scheidung bewohnten sie die Wohnung weiter gemeinsam. V. B. schlug O. B. weiter. O. B. erstattete bei der Polizei nach jedem Vorfall Anzeige mit der Begründung, V. B. habe sie geschlagen. Sieben Atteste von September 2007 bis Januar 2008 bestätigten leichte Verletzungen durch stumpfe Gegenstände. Die Polizei registrierte V. B. als "familiären Störenfried". Vor Gericht ergingen sechs Entscheidungen, darunter ein Vergleich, eine Unzulässigkeitsentscheidung wegen Fristablaufs und vier Bußgeldentscheidungen über umgerechnet acht bis achtzehn Euro, wobei eine festhielt, dass O. B. ihren früheren Ehemann provoziert habe. V. B. bezahlte alle Geldbußen. Einen weiteren Strafantrag wegen Vergewaltigung nahm O. B. zurück, worauf das Verfahren eingestellt wurde.

2008 klagte O. B. auf Zuweisung der Wohnung zur alleinigen Nutzung aufgrund des gewalttätigen Verhaltens von V. B. Dieser erhob Widerklage auf Teilung der Wohnung zwischen ihm und dem Rest der Familie. In erster und zweiter Instanz wurde der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Das Oberste Gericht wies jedoch 2009 die Klage rechtskräftig ab und gab der Widerklage statt. V. B. habe O. B. nicht - wie für eine Wohnungszuweisung gesetzlich erforderlich - systematisch missbraucht, da sechs gegen V. B. ergangene Verwaltungsentscheidungen nicht ausreichten. Im Rahmen einer dieser Entscheidungen stellte das Gericht fest, dass O. B. ihren geschiedenen Mann provoziert habe. Ferner sei V. B. nicht wegen Alkohol- oder Drogenmissbrauchs registriert und auch nicht beim örtlichen Eigentümerverein als Störer bekannt. V. B. habe O. B. angeboten, die Wohnung zu verkaufen, was sie mit der Begründung abgelehnt habe, die Familie könne gemeinsam in der Wohnung bleiben. V. B. könne einen Raum bekommen, der Rest der Familie die übrigen zwei; an den Gemeinschaftseinrichtungen ändere sich nichts.

Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt von O. B. wegen Tuberkulose griff V. B. sie wieder an. Er erhielt eine Geldbuße von umgerechnet 25 Euro aufgrund von "Schmähungen" und eine weitere über umgerechnet 12 Euro aufgrund von Gewaltanwendung. Nach Angaben von O. B. habe V. B. versucht, sie zu vergewaltigen, aber sie habe sich wehren können. Ein Arzt stellte zahlreiche Verletzungen an beiden Oberschenkeln sowie an beiden Beinen und Armen durch einen stumpfen Gegenstand fest. Im September 2011 beantragte sie eine gerichtliche Schutzanordnung für sich selbst und ihre Söhne aufgrund der Gefahr weiterer Gewalt sowie des Unwillens beziehungsweise der Unfähigkeit der Behörde, ihre Sicherheit und die Sicherheit der Söhne zu gewährleisten. Sie beantragte - ausdrücklich ohne Entscheidung über die Eigentumsverhältnisse - die vorübergehende Zuweisung der Wohnung zur alleinigen Nutzung sowie das Verbot für V. B., sich ihr oder den Söhnen mehr als 200 Meter zu nähern, weiterhin ein Kontakt- und ein Besuchsverbot am Studien- beziehungsweise Arbeitsplatz. Das Gericht erließ eine Schutzanordnung für drei Monate inklusive des Näherungsverbots, lehnte jedoch mit Verweis auf das Urteil des Obersten Gerichts eine vorübergehende Wohnungsverweisung ab. Es sei nicht bewiesen, dass V. B. auch die Söhne misshandelt habe; V. B. stehe zudem keine andere Wohnung zur Verfügung.

O. B. legte Berufung ein und brachte vor, dass - bestätigt durch das Sozialamt - nur ein Raum beheizbar und der dritte Raum nicht bewohnbar sei, dass die Wahrung der Nutzungsrechte von V. B. sie weiterem Gewaltrisiko aussetze und das Näherungsverbot ohne Wohnungsverweis ohne jede Bedeutung sei und sie nicht vor weiterer Gewalt schütze. Die Berufung wurde rechtskräftig mit der gleichen Begründung zurückgewiesen.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

O. B. sowie ihre Söhne beriefen sich in ihren Beschwerden vor dem EGMR 2009 auf Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Artikel 3 EMRK sei verletzt worden, da die moldawischen Behörden nicht genug getan hätten, um sie vor häuslicher Gewalt zu schützen. Sie hätten V. B. nicht der Wohnung verwiesen und damit sein Nutzungsrecht über ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit gestellt. Die Behörden hätten nur unbedeutende Strafen ohne jeden Abschreckungseffekt verhängt. Dies zeige sich darin, dass V. B. seine geschiedene Frau im August 2011 wieder angegriffen habe. Trotz ihrer Klagerücknahme aus Scham darüber, dass ihr Privatleben öffentlich würde, hätten die Gerichte ihren Fall weiter untersuchen müssen. Moldawien sei einer der wenigen europäischen Staaten, in denen Strafverfahren wegen Vergewaltigung nur auf Antrag des Opfers eingeleitet und fortgesetzt würden. In Anbetracht der verletzlichen Lage von weiblichen Opfern häuslicher Gewalt hätten die Ermittlungen nur nach einer vollständigen Untersuchung eingestellt werden dürfen. Ferner ließen schon die allgemeinen moldawischen Gesetze den Wohnungsverweis eines Miteigentümers wegen zerstörerischen Verhaltens gegenüber anderen Miteigentümern zu. Die Gerichte hätten nicht begründet, warum sie diese Bestimmung nicht angewendet haben. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass V. B. seinen Miteigentumsanteil tatsächlich verkaufen wolle und er könne gesetzlich nicht dazu gezwungen werden. Ferner habe O. B. ausdrücklich keine Entscheidung über die Eigentumsverhältnisse, sondern nur zeitlich begrenzte Schutzmaßnahmen beantragt.

Artikel 8 EMRK sei verletzt worden, weil die Weigerung der Gerichte, V. B. der Wohnung zu verweisen, ihr in ihrem Privatleben Leid zugefügt habe. Die Gerichtsentscheidungen hätten dazu geführt, dass sie ihr Haus habe verlassen müssen, auch wenn sie - genau wie V. B. - über keine andere Wohnung verfügte. Das Urteil des Obersten Gerichts lege ihr eine übermäßige Last auf. Der Eingriff in ihr Privatleben zum Schutz der Nutzungsrechte von V. B. an der Wohnung sei unverhältnismäßig.

Die moldawische Regierung wies die Beschwerde zurück. O. B. habe ihren Strafantrag wegen Vergewaltigung selbst zurückgezogen, den von ihr behaupteten Videobeweis nicht erbracht und damit die Einstellung der Ermittlungen selbst zu verantworten. Die Gerichte hätten das Verfahren nach Rücknahme der Privatklage nicht fortführen können. Im Gegensatz zur Entscheidung "Opuz gegen die Türkei" (Beschwerde-Nr. 33401/02) habe keine unmittelbare und tatsächliche Gefahr der Misshandlung bestanden. Dies werde dadurch bestätigt, dass O. B. die Beschwerde beim EGMR erst sechs Monate nach der letzten Gewalttat eingereicht habe. Gerichte hätten V. B. mehrfach bestraft und die Polizei informiert; die Polizei habe ihn registriert, überwacht und kontrolliert. Eine systematische Verletzung sei aufgrund der Beweislage nicht feststellbar gewesen. Die Behörden hätten damit alle angemessenen Schutzmaßnahmen getroffen. Da die getroffenen Maßnahmen bereits weiterer Gewalt vorbeugten, habe das Bestehen auf dem Wohnungsverweis nur dem Zweck gedient, den Anteil von V. B. an der Wohnung zu erlangen.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) fest, da die moldawischen Behörden nicht alle angemessenen Maßnahmen getroffen haben, um O. B. vor weiterer häuslicher Gewalt zu schützen. Ferner stellte er einen Verstoß gegen Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest, da die Gerichte keine angemessene Abwägung zwischen den Nutzungsrechten von V. B. und der körperlichen Unversehrtheit von O. B. getroffen hätten, sodass O. B. letztlich gezwungen gewesen sei, sich der Gefahr weiterer Gewalt auszusetzen oder die Wohnung zu verlassen.

Die Beschwerden der Söhne erklärte der EGMR für unzulässig. Diese hätten den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft, da sie zum Zeitpunkt der Klage ihrer Mutter vor den nationalen Gerichten 2008 bereits volljährig gewesen seien und somit selbst hätten vor Gericht ziehen können.

3.1 Verletzung von Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 1 EMRK (Rz. 47 ff.)

Anwendungsbereich, Anforderungen an Schutz und Ermittlungen
Der EGMR betonte, dass Artikel 3 EMRK nur anwendbar sei, wenn ein bestimmter Schweregrad an Verletzungen erreicht sei. Dieser Grad sei relativ und an den Umständen des Einzelfalls zu messen. Dazu gehörten zum Beispiel Art, Dauer und Zusammenhang der Misshandlungen sowie ihre körperlichen und seelischen Auswirkungen und, in bestimmten Fällen, Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (ständige Rechtsprechung, siehe beispielsweise "Kudła gegen Polen", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 30210/96). Auch wenn ein Staat nicht direkt für die Handlungen von Privatpersonen verantwortlich gemacht werden könne, hafte er dennoch, wenn er seine Verpflichtungen aus Artikel 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) nicht erfülle, nämlich angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Privatpersonen gegen Misshandlungen - auch durch Privatpersonen - zu schützen ("A. gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 25599/94; "Opuz gegen die Türkei"). Dies verpflichte die Staaten dazu, bekanntermaßen betroffene Personen effektiv gegen Straftaten Dritter zu schützen und angemessene Schritte vorzunehmen, um Misshandlungen vorzubeugen, von denen die Behörden wussten oder hätten wissen müssen (ständige Rechtsprechung seit "Osman gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 23452/94). Es sei zwar nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, die Einschätzung der nationalen Behörden hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Erfüllung der Verbindlichkeit unter Artikel 3 EMRK zu ersetzen ("Bevacqua und S. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 71127/01). Jedoch müsse der EGMR sicherstellen, dass der Staat seine Schutzverpflichtungen angemessen erfüllt habe ("Nikolova und Velichkova gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 7888/03).

Des Weiteren verpflichte Artikel 3 EMRK die Behörden zu effektiven Ermittlungen auch bei Misshandlungen durch Privatpersonen (siehe unter anderem "M. C. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 39272/98). Effektiv seien Ermittlungen, die geeignet sind, grundsätzlich zur Ermittlung des Sachverhalts sowie zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu führen. Dabei achte der EGMR unter den Artikeln 2 und 3 EMRK besonders auf Verzögerungen bei der Eröffnung von Ermittlungen oder Befragungen beziehungsweise auf die Länge der Vorermittlungen ("Denis Vasilyev gegen Russland", Beschwerde-Nr. 32704/04; "Stoica gegen Rumänien", Beschwerde-Nr. 42722/02). Zudem sei ein Eingriff in das Privat- oder Familienleben zuweilen notwendig, um die Rechte oder die Gesundheit anderer zu schützen oder Straftaten vorzubeugen ("Opuz gegen die Türkei"). Zu diesem Zwecke seien Staaten verpflichtet, ein angemessenes Rechtssystem vorzuhalten und anzuwenden, das Schutz gegen Gewalt durch Privatpersonen bietet ("X und Y gegen die Niederlande", Beschwerde-Nr. 8978/80; "Bevacqua und S. gegen Bulgarien"; "M. C. gegen Bulgarien").

Der EGMR stellte zunächst fest, dass im vorliegenden Fall Artikel 3 EMRK zur Anwendung komme: V. B. habe O. B. unstreitig mehrfach geschlagen. Das Attest von August 2011 stelle verschiedene Verletzungen fest und bezeuge die Erklärung von O. B., V. B. habe sie vergewaltigen wollen. Die Möglichkeit, ihren Peiniger in ihrer eigenen Wohnung zu treffen, müsse - gemessen an der Zahl vorheriger Angriffe - zu fortlaufender Furcht vor Misshandlungen geführt haben. Diese Angst sei ausreichend, um Leid und Sorge hervorzurufen, sodass von einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Artikel 3 EMRK auszugehen sei.

Verfahrensrechtliche Pflichten unter Artikel 3 EMRK bei Misshandlungen durch Privatpersonen
Der EGMR wiederholte, dass die Staatenverpflichtung unter Artikel 3 EMRK erfordere, dass die Staaten zum einen den rechtlichen Rahmen zur Vorbeugung und Bestrafung von Misshandlungen durch Privatpersonen bereitstellten (Pflicht zur Rechtsetzung), zum anderen die Anwendung dieser Vorschriften durch Opferschutzmaßnahmen und Bestrafung der Verantwortlichen gewährleisteten, wenn die Behörden Kenntnis von einem unmittelbaren Misshandlungsrisiko für Betroffene oder von bereits geschehenen Misshandlungen erlangten (Pflicht zur Rechtsanwendung).

Kein Verstoß gegen die Staatenverpflichtung zur Rechtsetzung (Rz. 50)
Der EGMR stellte fest, dass Moldawien seiner Rechtsetzungspflicht genügt habe. Das moldawische Recht sehe besondere strafrechtliche Sanktionen für Gewalt gegen Familienmitglieder, Schutzmaßnahmen für die Opfer häuslicher Gewalt und Sanktionen bei Verstößen dagegen vor sowie die allgemeine Möglichkeit eines Wohnungsverweises bei systematischen Verstößen gegen die Regeln gemeinsamen Lebens.

Verstoß gegen die Staatenverpflichtung zur Rechtsanwendung (Rz. 51 ff.)
Der EGMR stellte aber einen Verstoß gegen die Rechtsanwendungspflicht fest. Trotz ihrer Kenntnis von der Gewalt vor allem hinsichtlich der unmittelbaren Gefahr weiterer Taten hätten es die Behörden versäumt, angemessene Schutzmaßnahmen zu treffen.

Der EGMR konstatierte, dass die Behörden Kenntnis von den Misshandlungen durch V. B. hatten, da sie mehrfach Entscheidungen darüber getroffen hätten. Die Behörden hätten es aber versäumt, angemessene Schutzmaßnahmen zu treffen. Zwar wären sie nicht untätig geblieben, aber keine ihrer Maßnahmen sei hinreichend gewesen, um V. B. von weiteren Taten abzuhalten. Die Geldbußen seien gering gewesen und hätten keinerlei abschreckenden Effekt gehabt.

Der EGMR berief sich auf seine Feststellung in "Opuz gegen die Türkei", wonach in den Mitgliedsstaaten des Europarats anerkannt sei, dass die Behörden bei der Rücknahme eines Strafantrags zwischen den Rechten der betroffenen Person aus den Artikeln 2, 3 und 8 EMRK einen Ausgleich schaffen müssten. Je schwerwiegender das Delikt oder je größer die Gefahr weiterer Verletzungen sei, desto eher müsse die Strafverfolgung bei zurückgenommenem Strafantrag von Amts wegen im öffentlichen Interesse weitergeführt werden. Diese Abwägung hätten die moldawischen Behörden nicht vorgenommen.

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Behörden gar nicht untersucht hätten, ob die Schwere und Anzahl der Angriffe und die Schwere des Vergewaltigungsvorwurfs weitere Strafverfolgung erfordert hätten. Vielmehr hätten die Behörden trotz des mit einem ärztlichen Attest untermauerten Vorwurfs einer versuchten Vergewaltigung von sich aus keine strafrechtlichen Ermittlungen aufgenommen.

Ferner habe das Oberste Gericht einen Antrag auf Zuweisung der Wohnung zur alleinigen Nutzung abgewiesen, weil es befand, dass sechs verwaltungsrechtliche Verfahren gegen V. B. kein ausreichender Nachweis dafür seien, dass V. B. die Regeln des Zusammenlebens systematisch verletzt habe.

Schließlich hätten sich die Instanzgerichte beim späteren Antrag auf einen vorübergehenden Wohnungsverweis auf dieses Urteil berufen. Der EGMR befand, dass die Gerichte die beiden weiteren Angriffe nach der Entscheidung des Obersten Gerichts hätten in Betracht ziehen müssen. Der erste Vorfall sei zudem unbestritten und die Grundlage für die Schutzanordnung gewesen. Der EGMR äußerte weiterhin sein Unverständnis darüber, dass diese Anordnung zwar ein Kontaktverbot sowie das Verbot, O. B. an ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen, enthielt, gleichzeitig aber V. B. erlaubte, in der gleichen Wohnung wie sein Opfer zu wohnen. Dies habe die anderen Maßnahmen der Schutzanordnung aufgehoben und O. B. weiterem Misshandlungsrisiko ausgesetzt. Schließlich widersprach der EGMR der Auffassung von Moldawien, es habe keine weitere Gefahr für O. B. bestanden und diese habe nur den Anteil von V. B. an der Wohnung erlangen wollen. Dagegen spreche schon, dass O. B. nur vorübergehende Maßnahmen beantragt habe und ausdrücklich keine Entscheidung über Eigentumsfragen wolle. Dies hätte es den Gerichten ermöglicht, einen angemessenen Ausgleich zwischen den beiden von der EMRK geschützten Rechten (den Nutzungsrechten von V. B. und dem Recht von O. B., keinen Misshandlungen ausgesetzt zu sein) zu schaffen, der O. B. richtigen Schutz geboten hätte, ohne V. B. von seinem Besitz auszuschließen. Gleichermaßen hätten die Gerichte das Argument von O. B. erwägen und entscheiden können, ob ein Wohnungsverweis für Störende des Zusammenlebens nach dem allgemeinen Wohnungsrecht in Betracht komme. Dies hätten die staatlichen Stellen nicht getan.
In der Gesamtschau aller Elemente liege damit eine Verletzung vor.

3.2 Verletzung von Artikel 8 EMRK (Rz. 69 ff.)

Der EGMR bestätigte zunächst seine Rechtsprechung zur verfahrensrechtlichen Staatenverpflichtung unter Artikel 8 EMRK aus "X und Y gegen die Niederlande" (Beschwerde-Nr. 8978/80). Danach erfasse der Begriff des Privatlebens unter Artikel 8 EMRK die körperliche und seelische Unversehrtheit einer Person. Der effektive Schutz des Privat- und Familienlebens könne auch erfordern, dass der Staat Maßnahmen ergreift, die die Verhältnisse von Privatpersonen untereinander betreffen. Demnach sei er verpflichtet, einen angemessenen gesetzlichen Rahmen zum Schutz gegen Gewaltakte von Privatpersonen aufrechtzuerhalten und in der Praxis anzuwenden. Kinder und andere "verletzliche Personen" hätten Anspruch auf besonderen Schutz ("X und Y gegen die Niederlande"; "M. C. gegen Bulgarien"). Ferner betonte der EGMR erneut unter Verweis auf internationale Verträge die besondere Verletzlichkeit von Opfern häuslicher Gewalt und die Notwendigkeit aktiven Schutzes durch den Staat ("Bevacqua und S. gegen Bulgarien").

Der EGMR stellte zunächst eine Verletzung gemäß Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Die seelische und körperliche Unversehrtheit von O. B. sei durch den regelmäßigen Missbrauch durch V. B. beeinträchtigt worden. O. B. sei in ihrer eigenen Wohnung Leid und Sorge sowie der tatsächlichen Gefahr weiterer Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Dessen seien sich die Behörden wohl bewusst gewesen, was sie in Anbetracht ihrer Verpflichtungen zum Handeln hätte bewegen sollen.

Unter Berücksichtigung des staatlichen Beurteilungsspielraums hinsichtlich der besten Art und Weise, Menschen vor Misshandlungen zu schützen, stellte der EGMR eine Pflichtverletzung Moldawiens fest. Das Oberste Gericht habe sechs Vorfälle nicht für ausreichend gehalten, um ein systematisch gewalttätiges Verhalten von V. B. gegen O. B. anzunehmen. Die Instanzgerichte hätten die weiteren Übergriffe von V. B. von 2010 und 2011 überhaupt nicht in ihre Entscheidung einbezogen, sondern nur auf das Urteil des Obersten Gerichts verwiesen. Sie hätten nicht geprüft, ob das Nutzungsrecht von V. B. an der Wohnung auf eine Weise ausgeübt worden sei, die gegen das moldawische Wohnungsrecht und Artikel 8 EMRK verstoße. Damit hätten sie keinen angemessenen Ausgleich zwischen den betroffenen Rechten geschaffen und die Beschwerdeführerin faktisch gezwungen, sich zwischen der Gefahr weiterer Misshandlungen oder dem Auszug zu entscheiden.

3.3 Entschädigung

Der EGMR sprach O. B. aufgrund des erlittenen Leids und in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls eine Entschädigung in Höhe von 15.000 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:

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