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Beschwerde-Nr. 34503/97

EGMR, Urteil vom 12.11.2008, Beschwerde-Nr. 34503/97, Demir und Baykara gegen die Türkei

1. Sachverhalt

Frau Vicdan Baykara (B.) war Präsidentin, Herr Kemal Demir (D.) Mitglied einer von Beamtinnen und Beamten 1990 in der Türkei gegründeten Gewerkschaft. 1993 schloss die Gewerkschaft einen Kollektivvertrag mit der Gemeinde ab, in der B. und D. arbeiten. Der Vertrag regelte alle Arbeitsbedingungen der Beschäftigten inklusive Lohn und Gehalt, Zulagen und Sozialdienste. Da die Gemeinde ihre finanziellen Verpflichtungen aus dem Vertrag nicht erfüllt hatte, klagte die Gewerkschaft zunächst mit Erfolg vor den türkischen Zivilgerichten. Diese stellten fest, dass das türkische Recht zwar keine Zusammenschlüsse von Beamtinnen und Beamten mit dem Ziel der Kollektivverhandlungen kenne, diese Lücke aber unter Berufung auf internationale Verträge, wie die von der Türkei ratifizierten Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), zu schließen sei. Diese Konventionen seien laut Verfassung unmittelbar anwendbar. Das Kassationsgericht wies die Klage jedoch 1995 rechtskräftig ab. Mangels gesetzlicher Regelung, die die Gründung von Gewerkschaften durch Beamtinnen und Beamten sowie Kollektivverhandlungen ermögliche, besitze die Klägerin (die Gewerkschaft) von Beginn an keine Rechtspersönlichkeit und sei deshalb nicht prozessfähig. Der Rechnungshof erklärte die Kollektivvereinbarungen daraufhin für unwirksam. Die Gewerkschaftsmitglieder mussten Zulagen zurückerstatten, die sie auf Grundlage der unwirksamen Kollektivvereinbarung erhalten hatten.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

D. (als Mitglied) und B. (als Vertreterin der Gewerkschaft) beriefen sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 1996 auf Artikel 11 (Koalitionsfreiheit) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Kammer des EGMR stellte einen Verstoß gegen Artikel 11 EMRK fest. Gegen dieses Urteil hat die Türkei die Große Kammer des EGMR angerufen.

Die türkische Regierung hält die gegen sie gerichtete Beschwerde für unzulässig und unbegründet und das Kammerurteil daher für konventionswidrig.
Die Beschwerde sei unzulässig, da der Sachverhalt nur unter der EMRK beurteilt werden könne. Andere internationale Vorschriften dürften nicht herangezogen werden, erst recht nicht solche, die die Türkei nicht ratifiziert habe, wie Artikel 5 und 6 der Revidierten Europäischen Sozialcharta. Der EGMR könne also nicht, wie es die Kammer getan habe, neue Verpflichtungen für Mitgliedstaaten aus anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen ableiten. Zudem sei der EGMR sachlich unzuständig, da die Türkei für Beamtinnen und Beamte ein besonderes Regelwerk vorsehe, das dem Anwendungsbereich des Artikels 11 EMRK entzogen sei.
Die Beschwerde sei ferner unbegründet. Der Anwendungsbereich des Artikels 11 EMRK sei nicht eröffnet. Die Auslegung mithilfe internationaler Standards finde ihre Grenze im Wortlaut des Artikels 11 EMRK, der stärkere Einschränkungen für Staatsbedienstete zulasse, da die Maßnahmen nicht der strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung unterlägen. Ferner habe das Kassationsurteil keine Auswirkungen auf die Tätigkeiten der Gewerkschaft gehabt, da sie ihre Aktivitäten weiter entfalten und zahlreiche Kollektivvereinbarungen abschließen konnte.  

Aus Sicht der beschwerdeführenden Gewerkschaft ist Artikel 11 EMRK verletzt, da ein ungerechtfertigter Eingriff in die Rechte auf Gründung einer arbeitsrechtlichen Interessenvertretung für Beamtinnen und Beamte und auf Aufnahme von Kollektivverhandlungen vorliege. Die Beschwerdeführenden stimmen dem Kammerurteil zu, betonen aber, dass die Annullierung der Kollektivvereinbarungen sie am meisten beeinträchtige. Die Tätigkeit zumindest einiger Beamtinnen und Beamten sei mit derjenigen von Angestellten im Privatsektor vergleichbar. Das Kassationsurteil habe negative Auswirkungen auf die Gewerkschaftsaktivitäten gehabt: Das Innenministerium habe Zivil- und Strafverfahren gegen die beteiligten Bürgermeister angestrengt. Obwohl diese Verfahren eingestellt wurden, hätten die Gemeindebehörden neue Kollektivverhandlungen aus Furcht vor weiteren Prozessen abgelehnt. Auch die Pflicht der Gewerkschaftsmitglieder, alle zusätzlichen Gehälter und Zulagen zurückzuzahlen, sei eine negative Auswirkung des Urteils.
Das Verbot der Bildung von Gewerkschaften und des Führens von Kollektivverhandlungen für Beamtinnen und Beamte stellten als ungerechtfertigte und damit diskriminierende Ungleichbehandlung zudem Verstöße gegen Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 11 EMRK dar.

3. Entscheidung des EGMR

Die Große Kammer des EGMR stellt einstimmig eine Verletzung von Artikel 11 EMRK (Koalitionsfreiheit) fest. Die türkischen Behörden hätten das Recht der Beschwerdeführenden, von ihren Koalitionsrechten Gebrauch zu machen, ohne Rechtfertigung nicht gewährleistet. Eine Prüfung von Artikel 14 EMRK hält der EGMR dagegen nicht für erforderlich. Die Einwendungen der türkischen Regierung gegen die Zulässigkeit der Beschwerde behandelt der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung der Begründetheit.

3.1 Anwendbarkeit des Artikels 11 EMRK: Auslegung der EMRK im Lichte internationaler und regionaler Verträge und der Rechtsprechung der relevanten Spruchkörper (Rz. 60-86)

Der EGMR nimmt eine Auslegung des Artikels 11 EMRK im Lichte völkerrechtlicher Übereinkommen und der internationalen Spruchpraxis vor. Er verweist auf seine ständige Rechtsprechung, wonach für die Auslegung im Wesentlichen Artikel 31 bis 33 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge gelten (siehe unter anderem "Golder gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 4451/70). Danach komme es auf die gewöhnliche Bedeutung der Worte in ihrem systematischen Zusammenhang an, unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck der Vorschrift. Zudem könne auf ergänzende Auslegungsmittel zurückgegriffen werden. Der Gerichtshof betont, dass die Rechte der EMRK in Anbetracht der gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen so ausgelegt werden müssten, dass sie effektiv und praktisch wirksam sind. Deswegen greife der EGMR in ständiger Praxis auf alle anwendbaren Vorschriften und Grundsätze des Völkerrechts sowie auf entstehende nationale und internationale Normen zurück (siehe unter anderem "Saadi gegen das Vereinigte Königreich", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 13229/03; "Vo gegen Frankreich", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 53924/00).
Für das Recht auf Begründung einer Gewerkschaft zieht der Gerichtshof das Übereinkommen Nr. 87 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und Artikel 8 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) sowie regional auf Artikel 5 der revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC), Artikel 12 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta (EU-GRC) und die Empfehlung Nr. R (2000) 6 des Ministerrates des Europarats heran. Das Recht auf Kollektivverhandlungen legt er im Sinne der IAO-Übereinkommen Nr. 98 und 151 und Artikel 6 RESC sowie Artikel 28 EU-GRC aus.
Nach einer ausführlichen Analyse dieser Rechtsquellen, der internationalen Spruchpraxis sowie seiner eigenen Rechtsprechung fasst der EGMR zusammen (Rz. 85), dass er Vorschriften des internationalen und regionalen Völkerrechts sowie die jeweilige Spruchpraxis bei der Auslegung der EMRK berücksichtigen darf und muss. Auch die gemeinsame Praxis der Mitgliedstaaten könne für den Gerichtshof relevant sein. Hierfür sei nicht etwa erforderlich, dass ein Mitgliedstaat die anwendbaren völkerrechtlichen Verträge auch allesamt ratifiziert habe, da die rechtliche Bewertung davon unabhängig sei. Es sei ausreichend, dass die entsprechenden internationalen Vorschriften die Entwicklung der Normen und Prinzipien im Völkerrecht oder in der Mehrheit der Mitgliedstaaten abbildeten.

3.2 Verletzung des Rechts von Beamtinnen und Beamten zur Gründung einer Gewerkschaft (Rz. 96 ff.)

Der EGMR stellt fest, dass die enge Interpretation des türkischen Kassationsgerichts kombiniert mit der Untätigkeit des Gesetzgebers bis 2001 dazu geführt habe, dass die türkische Regierung es in ungerechtfertigter Weise versäumt habe, das Recht der Beschwerdeführenden, von ihren Koalitionsrechten Gebrauch zu machen, zu gewährleisten.

Recht von Beamtinnen und Beamten zur Gründung einer Gewerkschaft als Bestandteil des sachlichen Anwendungsbereiches des Artikels 11 EMRK (Rz. 96 ff.)
Der Gerichtshof betont, dass die Freiheit, Gewerkschaften zu gründen, der Vereinigungsfreiheit aus Artikel 11 EMRK unterfalle ("National Union of Belgian Police gegen Belgien", Beschwerde-Nr. 4464/70; "Swedish Engine Drivers‘ Union gegen Schweden", Beschwerde-Nr. 5614/72). Artikel 11 EMRK unterscheide nicht zwischen dem Staat als Inhaber öffentlicher Gewalt und dem Staat als Arbeitgeber. Damit dürfen auch Beamtinnen und Beamte sich grundsätzlich auf die Koalitionsfreiheit berufen.
Die in Artikel 11 Absatz 2 Satz 2 EMRK benannten Gruppen – Mitglieder der Streitkräfte, Polizei und Staatsverwaltung – seien begrifflich eng auszulegen. Dass die Rechte dieser Gruppen stärker beschränkt werden können, bedeute nicht, dass sie keine Gewerkschaften bilden dürften. Dabei sei unerheblich, ob sie öffentlich- oder privatrechtlich organisiert sind ("Tüm Haber Sen und Çinar gegen die Türkei", Beschwerde-Nr. 28602/95; "Swedish Engine Drivers‘ Union gegen Schweden"). Der Staat dürfe den Kernbereich der Koalitionsfreiheit nicht beschneiden. Er müsse die Rechtmäßigkeit jeder Beschränkung nachweisen. Gemeindebedienstete dürften auch nach der Mehrheit der untersuchten Übereinkommen und der Praxis in den meisten Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht vom Koalitionsrecht ausgeschlossen werden. Dies gelte auch für alle anderen Beamtinnen und Beamten, die nicht mit Aufgaben der Staatsverwaltung betraut sind. Deshalb dürfe ein Staat auch den Beschäftigten der Staatsverwaltung Koalitionsrechte nicht allgemein verweigern, sondern allenfalls rechtmäßige Beschränkungen im Rahmen des Artikels 11 Absatz 2 EMRK treffen.
Im vorliegenden Fall stellt der EGMR fest, dass die türkische Regierung nicht bewiesen habe, dass die Betroffenen zur Staatsverwaltung im engen Sinne gehörten. Deshalb könnten sich die Betroffenen ohnehin uneingeschränkt auf Artikel 11 EMRK berufen.
Der Anwendungsbereich des Artikels 11 EMRK ist deshalb eröffnet.

Eingriff durch Verstoß gegen negative und positive Staatenverpflichtungen aus Artikel 11 EMRK (Rz. 110 ff.)
Der Gerichtshof legt dar, dass Artikel 11 auch positive Pflichten des Staates normiere, wonach die Ausübung des Rechts zu gewährleisten sei. Somit liege dann ein Verstoß vor, wenn die Nichtanerkennung der Gewerkschaft auf dem Versäumnis beruhe, die Rechte der Betroffenen zu sichern ("Wilson, National Union of Journalists und andere gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nrn. 30668/96, 30671/96, 30678/96; "Gustafsson gegen Schweden", Beschwerde-Nr. 15573/89).
Der Gerichtshof betrachtet den Fall zunächst aus dem Blickwinkel der Achtungspflicht (negative Staatenverpflichtung). Im Gegensatz zur Argumentation der türkischen Regierung habe das Kassationsurteil tatsächliche Auswirkungen gehabt. Zum einen wirke das Urteil für die Vergangenheit, da es alle Handlungen und Aktivitäten der Gewerkschaft zwischen 1991 und 1993 für nichtig erklärt. Daraus folgt auch, dass die Betroffenen zur Rückzahlung der aus der Kollektivvereinbarung erlangten Vorteile verpflichtet sind. Zum anderen wirke das Urteil für die Zukunft, da es den Handlungsspielraum der Gewerkschaft wegen der gegen die Gemeindebediensteten gerichteten Verfahren beschränke. Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Perspektive der Gewährleistungspflicht zum gleichen Ergebnis führen würde. Der EGMR stellt demnach fest, dass der Eingriff aus einer Kombination von Handeln und Unterlassen besteht. Er betont jedoch unter Berufung auf "Hatton und andere gegen das Vereinigte Königreich" (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 36022/97), dass Achtungs- und Gewährleistungspflicht in diesem Fall weithin übereinstimmenden Grundsätzen folgten. Er entscheidet, den Fall auf Grundlage der Handlung zu begutachten und dabei die staatlichen Gewährleistungspflichten zu berücksichtigen.

Keine Rechtfertigung des Eingriffs in Artikel 11 EMRK (Rz. 117 ff.)
Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Rechtfertigungsprüfung mit dem klassischen Dreischritt: Eingriff gesetzlich vorgesehen, legitimer Zweck und Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft (Artikel 11 Absatz 2 Satz 2 EMRK). Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, einen legitimen Zweck verfolgte, aber unverhältnismäßig ist.

Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft (Verhältnismäßigkeit)
Der EGMR legt erneut dar, dass der Koalitionsfreiheit von Sicherheitskräften und Bediensteten der Staatsverwaltung gesetzmäßige Beschränkungen auferlegt werden dürfen. Jedoch müssten diese Ausnahmen eng ausgelegt werden. Nur überzeugende und zwingende Gründe könnten Beschränkungen rechtfertigen. Bei der Bestimmung der zwingenden gesellschaftlichen Erfordernisse habe der Staat nur einen begrenzten Beurteilungsspielraum, der bei Rechtsetzung und Rechtsanwendung kontrolliert werde.  
Wie die Kammer des EGMR kommt auch die Große Kammer zu dem Ergebnis, dass ein zwingendes gesellschaftliches Erfordernis für ein Verbot von Gewerkschaften für Beamtinnen und Beamte nicht vorgelegen habe. Unter Heranziehung der internationalen und europäischen Normen stellt der EGMR fest, dass zum Zeitpunkt des Verbots der Gewerkschaft rechtlich bereits anerkannt war, dass Beamtinnen und Beamte das Recht haben, Gewerkschaften zu gründen. Daher betont er weiter, dass sich die Türkei nicht darauf berufen könne, die internationalen Standards nicht in nationale Vorschriften umgesetzt zu haben. Das entscheidende IAO-Übereinkommen Nr. 87 sei zudem nach seiner Ratifikation schon aufgrund der türkischen Verfassung unmittelbar anwendbar gewesen. Dies habe die spätere Praxis von Verfassungsänderungen und Urteilen bestätigt. Dennoch sei das Gesetz bis 2001 nicht an die Anforderungen des Übereinkommens angepasst worden; das türkische Kassationsgericht habe eine enge, rein formalistische Betrachtungsweise gewählt und eine Auslegung mithilfe internationaler Standards vermieden.

3.3 Anspruch auf Beibehaltung der abgeschlossenen Kollektivvereinbarung als Bestandteil des Rechts von Beamtinnen und Beamten auf Kollektivverhandlungen

Der EGMR stellt fest, dass die Nichtigerklärung des zuvor angewendeten Kollektivvertrages der Gemeindebediensteten gegen Artikel 11 EMRK verstößt.

Das Recht auf Kollektivverhandlungen als Bestandteil des Schutzbereiches von Artikel 11 EMRK
Grundsätze
Der EGMR weist auf seine zwei miteinander verbundene Grundsätze hin, die er vier Entscheidungen entnimmt: "National Union of Belgian Police gegen Belgien", "Swedish Engine Drivers’ Union gegen Schweden", "Schmidt und Dahlström gegen Schweden" (Beschwerde-Nr. 5589/72) und "Wilson, National Union of Journalists und andere gegen das Vereinigte Königreich" Zum einen seien unter Berücksichtigung des staatlichen Beurteilungsspielraums die Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen zur Sicherung der Freiheit heranzuziehen, zum anderen dürften wesentliche Elemente der Freiheit nicht eingeschränkt werden. Damit dürfe ein Mitgliedstaat zwar grundsätzlich entscheiden, durch welche Maßnahmen er die Rechte aus Artikel 11 EMRK garantieren wolle, jedoch müsse er dabei den durch die Rechtsprechung des EGMR festgelegten Kernbereich berücksichtigen. Dieser dürfe nur sehr begrenzt beschränkt werden.
Nach seiner bisherigen Rechtsprechung gehörten zum Kernbereich die Freiheit, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten ("Tüm Haber Sen und Çınar gegen die Türkei"), das Verbot von "closed-shop"-Vereinbarungen ("Sørensen and Rasmussen", Beschwerde-Nrn. 52562/99 und 52620/99) und das Recht, den Arbeitgeber von ihren Positionen zu überzeugen zu versuchen ("Wilson, National Union of Journalists und andere gegen das Vereinigte Königreich"). Diese Liste sei nicht abschließend, sondern werde den Entwicklungen der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten angepasst.
Auf Grundlage einer erneuten Überprüfung anhand der relevanten internationalen und europäischen Vorschriften sowie der türkischen und europäischen Praxis kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, das Recht auf Kollektivverhandlungen mit den Arbeitgebenden in die Liste der wesentlichen Elemente aufzunehmen (Rz. 147 ff.). Die große Mehrheit europäischer Staaten erkenne dieses Recht auch bei Beamtinnen und Beamten an. Auch das Recht von Gemeindebediensteten, die keine Staatsgewalt ausübten, auf Kollektivverhandlungen zu Arbeitsbedingungen und Entlohnung werde mehrheitlich akzeptiert. Ausnahmen seien nur in besonderen Fällen zu rechtfertigen.
Damit gibt der EGMR seine frühere, anders lautende Rechtsprechung ("Swedish Engine Drivers’ Union gegen Schweden"; "Schmidt und Dahlström gegen Schweden") aufgrund der Entwicklung von Praxis und Arbeitsrecht im europäischen und internationalen Rahmen ausdrücklich auf (Rz. 153 f.). Dies bedeute, dass auch Beamtinnen und Beamte – unbeschadet der rechtmäßigen Beschränkungen bei den Staatsgewalt ausübenden Bediensteten – das Recht auf Kollektivvereinbarungen grundsätzlich zustehe (Rz. 146).

Anwendung der Grundsätze
Der EGMR betont erneut, dass die Beschwerdeführenden nicht zu den Mitgliedern der "Staatsverwaltung" zählten, die erleichterten Beschränkungen unterlägen. Die Gewerkschaft habe bereits vom Recht auf Kollektivverhandlungen in relevanten arbeitsrechtlichen Fragen Gebrauch gemacht, was von der Gemeinde akzeptiert worden sei. Die daraus entstandenen Vereinbarungen hinsichtlich (fast) aller Arbeitsbedingungen seien zwei Jahre lang in Kraft geblieben. Damit hätten sie das wesentliche Mittel der Interessenvertretung für die Gewerkschaftsmitglieder dargestellt.

Eingriff durch gerichtliche Annullierung der Kollektivvereinbarungen
Der Gerichtshof stellt fest, dass in dem Fehlen jeglicher Gesetzgebung zur Umsetzung der internationalen Verpflichtungen sowie in dem Kassationsurteil, das faktisch die rückwirkende Nichtigkeit der Vereinbarungen bedeutete, Eingriffe in das Recht auf Kollektivverhandlungen lägen.

Keine Rechtfertigung mangels Notwendigkeit
Dieser Eingriff sei – durch die Rechtsprechung des Kassationsgerichts – gesetzlich vorgesehen und diene einem legitimen Zweck, nämlich demjenigen, ein Auseinanderfallen von gesetzlichen Regelungen und der Praxis zu verhindern.
Allerdings sei der Eingriff nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft (Artikel 11 Absatz 2 Satz 2 EMRK). Dadurch seien die Beschwerdeführenden ebenso wie die Gewerkschaft selbst in ihren Rechten verletzt. Die Ablehnung des Rechtes von Beamtinnen und Beamten auf Kollektivverhandlungen entspreche auch nach der erneuten Heranziehung internationaler und europäischer Normen und der mehrheitlichen Staatenpraxis nicht einem dringenden gesellschaftlichen Erfordernis. Zudem habe die Türkei das hier besonders relevante IAO-Übereinkommen Nr. 98 ratifiziert. Sie habe keine besonderen Umstände vorgebracht, die eine Beschränkung im Einzelfall rechtfertigten. Die (angeblichen) Privilegien von verbeamteten gegenüber angestellten Personen genügten hierfür nicht.

3.4 Entschädigung

Der EGMR sprach der durch B. vertretenen, beschwerdeführenden Gewerkschaft eine Entschädigung in Höhe von 20.000 Euro zu. Die Mitglieder hätten durch die Auflösung der Gewerkschaft und die Annullierung der Kollektivvereinbarung ihre maßgeblichen Mittel zur Verteidigung ihrer Rechte verloren und seien dadurch schwerer "Frustration" ausgesetzt worden.

3.5 Sondervoten

Der einstimmigen Entscheidung sind zwei Sondervoten von insgesamt fünf Richtern beigefügt. Beide Sondervoten schließen sich dem Mehrheitsvotum in der Frage der Kollektivverhandlungen mit abweichender Begründung an. Beide Sondervoten vertreten engere Auffassungen als das Mehrheitsvotum. Das erste Sondervotum widmet sich der Frage, ab welchem Punkt in der Vergangenheit die Rechtsprechungsänderung des EGMR greift. Das zweite – gehaltvollere – Sondervotum spricht sich für einen erweiterten Beurteilungsspielraum des Staates bei den Ausnahmen vom Recht auf Kollektivverhandlungen im öffentlichen Dienst aus. Beide sind sich jedoch einig, dass das Recht auf Kollektivverhandlungen durch die rückwirkende Annullierung der Kollektivvereinbarung faktisch gegenstandslos geworden sei.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In dieser Grundsatzentscheidung stellt die Große Kammer des EGMR in aller Deutlichkeit fest, dass Kollektivverhandlungsrechte vom Schutzbereich des Artikels 11 erfasst werden und ordnet sie sogar dem Kernbereich zu. Die umfangreiche Analyse internationaler Normen bei Auslegung und Interpretation der EMRK stellt einen neuen systematischen Maßstab für alle Vorschriften der EMRK dar (Klaus Lörcher, "Das Menschenrecht auf Kollektivverhandlungen und Streik – auch für Beamte", Arbeit und Recht 2009, Ausgabe 7-8, S. 1-14). Aufgrund der in der Großen Kammer seltenen Einstimmigkeit und der fundiert begründeten ausdrücklichen Rechtsprechungsänderung genieße das Urteil eine besonders hohe Leitbildwirkung, so Lörcher.

Auch wenn sich das Urteil nicht gegen Deutschland richtet, sind die Feststellungen und insbesondere die Rechtsprechungsänderung dennoch auch für Deutschland verbindlich. Die Argumente des EGMR können also bei Verhandlungen, vor deutschen Behörden sowie deutschen und internationalen Spruchkörpern vorgebracht werden. Dies bietet sich vor allem bei Streitigkeiten im deutschen Tarifvertragsrecht an, da das Urteil in weiten Bereichen auf Deutschland übertragbar zu sein scheint. Relevant ist hier vor allem der zweite Teil des Urteils, wonach der überwiegenden Mehrheit der Beamtinnen und Beamten Kollektivverhandlungsrechte zustehen. Der EGMR hat in diesem Urteil Eingriffe in den Kernbereich dieses Rechts auch für Beamtinnen und Beamte weithin ausgeschlossen. Alle anderen Eingriffe – also auch geringere Rechte für die Beamtenschaft – müssen nunmehr auch von deutschen Behörden gerechtfertigt werden.
Lörcher (a. a. O.) hat darauf hingewiesen, dass sich nach dieser Entscheidung auch deutsche Beamtinnen und Beamte, mit Sicherheit aber Gemeindebeamtinnen und –beamte, Lehrerinnen und Lehrer sowie beamtenrechtlich Beschäftigte bei Bahn und Post, auf ihre Rechte aus Artikel 11 EMRK berufen können. Zum heftig umstrittenen Streikrecht sollte ergänzend das Urteil "Enerji Yapi-Yol Sen gegen die Türkei" (Beschwerde-Nr. 68959/01) berücksichtigt werden.

Anwältinnen und Anwälte können die Gliederung des EGMR und die meisten Inhalte in diesem sehr dogmatischen Urteil für ihre Schriftsätze im Wesentlichen übernehmen.
Der Schutzbereich dürfte eröffnet sein, da die zur Auslegung verwendeten Rechtsquellen auch für Deutschland einschlägig sind. Wo Deutschland nicht Vertragsstaat ist (siehe IAO-Übereinkommen Nr. 151) oder Vorbehalte erklärt hat (Artikel 6 Absätze 2 und 4 ESC), kann nunmehr auf den neuen Grundsatz des EGMR zurückgegriffen werden, wonach es auf die Ratifikation nicht mehr ankommt. Eingriff und legitimer Zweck sind weitgehend deckungsgleich, da Deutschland die IAO-Verpflichtungen nicht umgesetzt hat. Nach den Kriterien des EGMR scheidet auch die Rechtfertigung eines Eingriffs in Artikel 11 EMRK grundsätzlich aus, soweit Gemeindebeamtinnen und –beamte und außerhalb des Kernbereiches der Staatsverwaltung Tätige betroffen sind (siehe dazu Lörcher, a. a. O.).

5. Follow Up

Mit Resolution CM/ResDH(2011)308 vom 2. Dezember 2011 erklärte das Ministerkomitee des Europarates die Umsetzung der Entscheidung für abgeschlossen und die auferlegten Maßnahmen für erfüllt. Es verwies auf den Bericht der Türkei, wonach der Staat den ausgeurteilten Schadenersatz für materielle und immaterielle Schäden 2009 bezahlt habe.
Als allgemeine Maßnahmen führte die Türkei mehrere Gesetzes- und Verfassungsänderungen an. Danach sei die Diskriminierung von Staatsbediensteten beim Recht auf Interessenvertretung in Gewerkschaften nunmehr ausgeschlossen. Gewerkschaftsmitglieder dürften wegen ihrer Mitgliedschaft oder Betätigung nicht entlassen werden. Die Verfassung schütze nunmehr das Recht von Staatsbediensteten, Kollektivverhandlungen mit der Verwaltung aufzunehmen. Schließlich habe die Regierung das Urteil übersetzen lassen und es veröffentlicht und an Behörden versendet.

Siehe weiterführend: Klaus Lörcher, "Das Menschenrecht auf Kollektivverhandlungen und Streik – auch für Beamte", Arbeit und Recht 2009, Ausgabe 7-8, S. 1-14

Entscheidung im Volltext:

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