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Beschwerde-Nr. 33234/07

EGMR, Urteil vom 26.03.2013, Beschwerde-Nr. 33234/07, Valiulienė gegen Litauen

1. Sachverhalt

Loreta Valiulienė (L. V.) erhob im Februar 2001 in Litauen Privatklage. Sie gab an, ihr Partner, mit dem sie seit fünf Jahren zusammenlebte, habe sie im Januar und Februar 2001 fünf Mal geschlagen. Im Januar 2002 leitete das Gericht die Akte an die Staatsanwaltschaft weiter und beantragte die Eröffnung offizieller Ermittlungen. Daraufhin wurde der Partner von L. V. wegen "systematisch verübter leichter Körperverletzungen" angeklagt. Zwei Mal stellte die Polizei die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen ein; beide Male ordneten Vorgesetzte auf Beschwerden von L. V. hin die Wiederaufnahme der Ermittlungen an, da diese unvollständig gewesen waren. Im Mai 2003 trat eine Gesetzesreform in Kraft, wonach leichte Körperverletzungen künftig grundsätzlich auf dem Privatklageweg zu verfolgen seien; offizielle Ermittlungen seien hingegen nur weiter möglich bei öffentlichem Interesse oder bei Opfern, die ihre Rechte nicht auf dem Privatklageweg verfolgen könnten. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft im Juni 2005 die Ermittlungen ein, trotz der Bitten von L. V., die die Abweisung einer erneuten Privatklage wegen Verjährung fürchtete. Rechtsbehelfe von L. V. waren erfolglos. Als sie unverzüglich erneut Privatklage erhob, wurde diese wegen Verjährung abgewiesen.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

L. V. berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2007 auf Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), da die litauischen Behörden es versäumt hätten, wegen häuslicher Gewalt zu ermitteln und den Täter schuldig zu sprechen. Zudem sei die Verfahrenslänge übermäßig gewesen.

Nach Veröffentlichung der Entscheidung "Opuz gegen die Türkei" (Beschwerde-Nr. 33401/02) erweiterte L. V. ihren Vortrag um die Verletzung von Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK. Aus Sicht von L. V. seien Artikel 3 und 8 EMRK verletzt worden, da die körperlichen Verletzungen hinreichend schwer gewesen seien, um eine Anwendung von Artikel 3 EMRK zu rechtfertigen. L. V. wies darauf hin, dass der EGMR in "Tyrer gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 5856/72) eine Verletzung von Artikel 3 EMRK angenommen habe, obwohl der Beschwerdeführer weder schwere Verletzungen noch Verletzungen mit körperlich lang andauernder Wirkung erlitten habe. Ferner hätten die eingereichten Atteste ausreichenden Beweiswert, da sie zwischen einem und drei Tagen nach dem jeweiligen Vorfall ausgestellt worden waren. Ferner seien auch ihr seelisches Leid, die Demütigung und fortwährende Angst, die Drohungen und verbalen Schmähungen zu berücksichtigen. Dies werde durch UN-Konventionen und internationale Strafgerichte anerkannt. Die fünf Vorfälle binnen eines Monats hätten einen fortlaufenden Zustand dargestellt, dessen Dauer nicht unerheblich sei. Ferner habe ihr Partner auch nach diesem Zeitraum körperlich und seelisch gewaltsames Verhalten gezeigt.

Der Staat könne sich nicht auf alternative Rechtsbehelfe berufen, wenn die strafrechtlichen ineffektiv geblieben seien. Auch sei L. V. Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt und falle als Frau in die Gruppe der "verletzlichen Personen", die eines höheren Schutzniveaus bedürften. Da Litauen einer der europäischen Staaten mit der höchsten Quote an häuslicher Gewalt sei, müsse der Staat ein erhöhtes Maß an Sorgfalt vorweisen. L. V. berief sich auf Statistiken, wonach in Litauen über 95 % der Betroffenen von häuslicher Gewalt Frauen seien, 20 Frauen pro Jahr deswegen sterben und über 63 % der Frauen im Laufe ihres Lebens wenigstens einmal Opfer häuslicher Gewalt würden. 40.000 Anrufe gingen jährlich bei den Behörden ein. Der Umgang der Behörden mit ihrer Privatklage zeige das hohe Maß an Toleranz und Straflosigkeit auf.

Die litauische Regierung wies die Beschwerde zurück. Das Maß an Gewalt, die lediglich unbedeutend gewesen sei, reiche für die Anwendung des Artikels 3 EMRK nicht aus. Die Atteste genügten den in "Bevacqua und S. gegen Bulgarien" (Beschwerde-Nr. 71127/01) aufgestellten Anforderungen nicht. Innerhalb des fraglichen Monats habe L. V. nur zwei Mal die Polizei gerufen und sich nicht über körperliche Angriffe beklagt, sondern nur darüber, dass ihr Partner sie nicht in die gemeinsame Wohnung hineinlassen wollte. Die Ermittlungsbehörde habe Zweifel an der Version von L. V. gehabt und vermutet, dass sie die Strafanzeigen wegen finanzieller Streitigkeiten erstattet habe. Zudem habe es abweichende Aussagen gegeben. Die kurze Dauer der Misshandlungen sei nicht ausreichend gewesen; es habe sich um voneinander zu trennende Fälle gehandelt. L. V. hätten ferner andere Rechtsbehelfe und Schutzmaßnahmen zur Verfügung gestanden. So hätte sie eine - nicht verjährte - Zivilklage erheben oder Schadensersatz verlangen können oder sich an ein Frauenhaus oder ein Unterstützungszentrum für Familien wenden können. Des Weiteren sei L. V. nicht automatisch deshalb eine "verletzliche Person", weil sie eine Frau sei. Anders als im Fall "Opuz gegen die Türkei" sei sie gebildet und nicht finanziell von ihrem damaligen Partner, ihrem Geschäftspartner, abhängig, lebe nunmehr in einer neuen Beziehung und sei schon damals Miteigentümerin der Wohnung gewesen.

Dagegen gestand die litauische Regierung ein, dass die Ermittlungen zu lange gedauert hätten, und bedauerte, dass die Verurteilung des Täters nicht mehr möglich gewesen sei. Mittlerweile gäbe es auch ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Auch wenn die Umsetzung noch nicht einwandfrei liefe, sähe dieses Gesetz das öffentliche Interesse der Ermittlungen im Fall häuslicher Gewalt vor, sodass unabhängig von der Stärke der Verletzungen nunmehr in allen Fällen von Amts wegen ermittelt werden würde.

3. Entscheidung des EGMR (1)

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) im Bereich der Rechtsanwendung fest, weil die Rechtspraxis sowie die Art der Anwendung des strafrechtlichen Regelsystems die Beschwerdeführerin nicht hinreichend gegen Gewalttaten geschützt habe.

Den hilfsweise angeführten Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) untersuchte er nicht mehr, da er bereits eine Verletzung von Artikel 3 EMRK festgestellt hatte. Einen Rückgriff auf Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) EMRK hielt der EGMR ohne weitere Begründung nicht für erforderlich.

3.1 Zulässigkeit

Rechtswegerschöpfung
Hinsichtlich der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs führte der EGMR aus, dass Beschwerdeführende zwischen mehreren Rechtsbehelfen wählen dürften, die sich mit den wesentlichen Beschwerden befassten. Wenn eines dieser Verfahren betrieben worden sei, sei es nicht erforderlich, ein weiteres mit im Wesentlichem dem gleichen Ziel anzustreben ("Jasinskis gegen Lettland", Beschwerde-Nr. 45744/08). Er betonte, dass die zentrale Frage dieses Falls die Straflosigkeit der Täter häuslicher Gewalt sei, die naturgemäß die Strafgerichtsbarkeit betreffe. L. V. habe den Strafrechtsweg vollständig ausgeschöpft, sodass sie nicht auf den Privatklageweg verwiesen werden könne.

Hinreichende Schwere der Verletzungen für die Eröffnung des Schutzbereiches von Artikel 3 EMRK
Schon im Rahmen der Zulässigkeit prüfte der EGMR die Frage, ob Artikel 3 EMRK in diesem Fall zur Anwendung komme. Er wies die Argumente der Regierung zurück, die Verletzungen seien "trivial" und über einen zu kurzen Zeitraum erstreckt. Die fünfmaligen körperlichen Verletzungen in Kombination mit den Gefühlen von Angst und Hilflosigkeit stellten einen hinreichenden Grad der Misshandlung dar, um die verfahrensrechtliche Verpflichtung Litauens gemäß Artikel 3 EMRK entstehen zu lassen.

Erstens stellte der EGMR fest, dass L. V. mit hinreichender Sicherheit Opfer körperlicher Gewalt geworden sei. Anders als in "Bevacqua und S. gegen Bulgarien" seien die Atteste ein beziehungsweise drei Tage nach den Vorfällen ausgestellt worden. Zudem hätten Staatsanwalt und Gericht die Verletzungen als festgestellt angesehen; dagegen sei die Auffassung des Polizeibeamten, es hätten Ungereimtheiten vorgelegen, in einer Entscheidung zutage getreten, die später von seinen Vorgesetzten wegen unvollständiger Ermittlungen aufgehoben wurde.
Zweitens hielt der Gerichtshof für gegeben, dass es sich um fünf Vorfälle im Zeitraum eines Monats gehandelt habe. Zwar könne er mangels genügender Informationen nicht feststellen, dass es noch weitere Vorfälle gegeben habe, jedoch beziehe sich eine der letzten Beschwerden von L. V. auf diese fünf Vorfälle innerhalb eines Monats. Das genüge, um eine fortlaufende Situation anzunehmen, was einen erschwerenden Umstand darstelle.

Zuletzt betonte der EGMR die Bedeutung des seelischen Aspekts der Misshandlung besonders im Rahmen häuslicher Gewalt. L. V. habe glaubhaft die von ihrem damaligen Partner ausgehenden Drohungen dargestellt und zudem mehrfach körperliche Gewalt und Belästigungen erlitten. Zwar könne sich der EGMR der Behauptung der Beschwerdeführerin, Frauen gehörten automatisch zu den "verletzlichen Personen", nicht vollständig anschließen, jedoch habe auch die Regierung mit dem neuen Gesetz anerkannt, dass die gegen L. V. verübten Straftaten von öffentlichem Interesse seien.

3.2 Grundsätze zum Umfang der staatlichen Schutzverpflichtung gegenüber Privatpersonen unter Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 1 EMRK (Rz. 73 ff.)

Der EGMR bestätigte zunächst seine ständige Rechtsprechung, dass Artikel 3 EMRK die Umsetzung eines angemessenen Strafrechtssystems erfordere ("M. C. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 39272/98, und "Beganović gegen Kroatien", Beschwerde-Nr. 46423/06). Auch wenn ein Staat - wie hier Litauen - nicht direkt für die Handlungen von Privatpersonen verantwortlich gemacht werden könne, hafte er dennoch, wenn er seine Verpflichtungen aus Artikel 1 EMRK nicht erfülle, nämlich angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Privatpersonen gegen Misshandlungen - auch durch Private - zu schützen ("A. gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 25599/94). Ferner müsse der Staat über abschreckende, effektive Strafrechtsbestimmungen sowie Strafverfolgungseinrichtungen zur Vorbeugung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit verfügen. Allerdings könne von den Staaten nicht verlangt werden, dass sie durch ihr Rechtssystem jegliche Misshandlungen verhinderten. Deshalb müsse für eine Verantwortlichkeit des Staates nachgewiesen werden, dass das Rechtssystem, insbesondere die anwendbaren Strafrechtsbestimmungen, in der Praxis keinen effektiven Schutz gewährleistet habe ("Beganović gegen Kroatien"). Dabei müsse der Gerichtshof beachten, dass den nationalen Gerichten die Entscheidung über die Wahl der Mittel obliege. Er selbst behalte ein gewisses Kontroll- und Eingriffsrecht in den Fällen offensichtlicher Unverhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Tat und den Ergebnissen auf nationaler Ebene ("Nikolova und Velichkova gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 7888/03; "Atalay gegen die Türkei", Beschwerde-Nr. 1249/03). Unter Verweis auf "Beganović gegen Kroatien" betonte der EGMR abschließend, dass die verfahrensrechtliche Verpflichtung nach Artikel 3 EMRK neben dem Schutz vor Misshandlungen vor allem dazu diene, dass den zuständigen Behörden Misshandlungen nicht verborgen blieben.

3.3 Keine Verletzung der Staatenpflicht zur Rechtsetzung

Der EGMR stellte keine Verletzung der Pflicht zur angemessenen Rechtsetzung fest, da das litauische Rechtssystem im Bereich leichter körperlicher Misshandlungen ausreichend sei. Leichte körperliche Misshandlungen seien ausdrücklich mit Strafe bedroht. Zur Zeit der Vorfälle habe das Gesetz die Strafverfolgung von Amts wegen vorgesehen. Jedoch bestünden auch gegen die Neuregelung keine grundsätzlichen Bedenken, da die Strafverfolgung von Amts wegen im öffentlichen Interesse oder bei schutzbedürftigen Opfern noch immer möglich gewesen sei.

3.4 Verletzung der Staatenverpflichtung im Bereich der Rechtsanwendung

Hinsichtlich der Rechtsanwendung stellte der EGMR eine Verletzung fest. Bis zu dem Zeitpunkt, als das Gericht die Privatklage an die Staatsanwaltschaft mit der Bitte um öffentliche Ermittlungen weitergeleitet habe, sei das Verfahren ohne Verzögerungen oder andere Verfehlungen verlaufen. Die zweifache Aussetzung der Ermittlungen, die die Polizei nur aufgrund der hartnäckigen Beschwerden von L. K. wegen unvollständiger Ermittlungen wieder aufnehmen musste, offenbarten jedoch schwerwiegende Mängel.

Als zweiten Verstoß führte der Gerichtshof an, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren erst über zwei Jahre nach der Gesetzgebungsreform an die Beschwerdeführerin abgegeben habe. Erschwerend komme hinzu, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die offizielle Strafverfolgung einzustellen, von den Vorgesetzten wie von den Gerichten trotz des Risikos der Verjährung aufrechterhalten worden sei, obwohl die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auch nach der Reform im öffentlichen Interesse hätte fortsetzen können. Damit sei die Beschwerdeführerin in die Situation zurückversetzt worden, in der sie sich vier Jahre früher befunden habe, obwohl sie auf das Risiko der Verjährung hingewiesen und um weitere staatliche Verfolgung gebeten habe. Obwohl sie umgehend erneut Privatklage eingereicht habe, wurde diese wegen Verjährung rechtskräftig abgewiesen, sodass eine Strafverfolgung unmöglich gewesen sei.
Der EGMR sah die Verantwortlichkeit Litauens dafür trotz des weiten Beurteilungsspielraums als gegeben an. Zwar könne der Gerichtshof nicht entscheiden, ob die Ermittlungen im öffentlichen Interesse hätten weitergeführt werden müssen, jedoch bleibe es dabei, dass die Tatumstände niemals von einem Gericht bewertet worden seien. Dadurch aber habe das Strafziel der Abschreckung des Täters von weiteren Taten nicht verwirklicht werden können. Unter Verweis auf "Beganović gegen Kroatien" schloss der EGMR damit, dass effektiver Schutz gegen Misshandlungen nicht erreicht werden könne, wenn Strafverfahren wegen Verjährung ausgesetzt würden und dies auf staatliche Verfehlungen zurückzuführen sei.

3.5 Entschädigung

Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin eine Entschädigung in Höhe von 5.000 Euro zu, da allein der Schuldspruch ihr Leid und ihre Frustration nicht ausgleichen könne.

(1) Der Entscheidung ist eine lesenswerte abweichende Begründung des Richters Pinto de Albuquerque beigefügt, die sich sehr ausführlich unter Darlegung der internationalen Standards mit der Frage der häuslichen Gewalt als Menschenrechtsverletzung befasst. Der Richter stellt auch die besonderen Rechtsprechungsgrundsätze des EGMR für häusliche Gewalt unter Artikel 2 und 3 EMRK dar. Nach seiner Auffassung hätte der EGMR eine Verletzung der materiellen wie der verfahrensrechtlichen Verpflichtung unter Artikel 3 EMRK annehmen müssen. Wiederholte verbale Schmähungen, etwa durch bei den Behörden angezeigte Beschimpfungen und Drohungen, seien ausreichend, um die Verantwortlichkeit des Staates zu bejahen, in dem häusliche Gewalt nachweislich an der Tagesordnung sei, wenn dieser trotz Kenntnis darauf nicht oder unzureichend reagiere.

Entscheidung im Volltext:

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