Beschwerde-Nr. 23178/94
EGMR (Große Kammer), Urteil vom 25.09.1997, Beschwerde-Nr. 23178/94, Aydin gegen die Türkei
1. Sachverhalt
Şükran Aydin (S. A.), siebzehnjährige Türkin mit kurdischen Wurzeln, wurde nach ihrer eigenen Aussage in ihrem Heimatdorf von der Polizei zum Verbleib von PKK-Terroristen befragt, ohne Begründung festgenommen und gemeinsam mit zwei Familienmitgliedern in Polizeigewahrsam genommen. Allein in einen Raum geführt, wurde sie ausgezogen und nackt in einem Autoreifen rotiert, geschlagen und mit Wasser aus Hochdruckpumpen abgespritzt. Danach vergewaltigte sie ein Mitglied der Sicherheitskräfte. Später wurde sie von mehreren Personen eine Stunde lang geschlagen und unter Drohungen zum Schweigen verpflichtet. Etwa nach drei Tagen wurde S. A. in die Berge gebracht, dort zum Verbleib von PKK-Terroristen befragt und anschließend getrennt von ihren Angehörigen ausgesetzt.
Die türkische Regierung bezweifelt die gesamte Aussage von S. A.
S. A. zeigte das Geschehen gemeinsam mit ihren Verwandten etwa eine Woche später bei der Staatsanwaltschaft an. Der Staatsanwalt vernahm sie und veranlasste eine ärztliche Untersuchung. Ein mit Vergewaltigungsopfern nicht vertrauter Arzt stellte ein gerissenes Hymen und Blutergüsse an den Oberschenkeln fest, konnte aber das Datum der Verletzungen nicht festlegen. Am nächsten Tag wurde S. A. in ein Krankenhaus überwiesen, wo es hieß, ihr Hymen sei mehr als eine Woche zuvor gerissen; die Blutergüsse wurden nicht aufgenommen. Ein weiteres Gutachten kam zum Ergebnis, das Datum sei medizinisch nicht mehr feststellbar. Die Kommandeure des fraglichen Polizeihauptquartiers leugneten die Verhaftung von S. A. und ihrer Angehörigen und legten Kopien eines fast leeren Jahresregisters von Verhaftungen vor. Sporadische Befragungen der Staatsanwaltschaft in den nächsten zwei Jahren führten zu keinem Ergebnis. Die Identität des Täters blieb ungeklärt.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
S. A. hatte bereits im Jahr 1993 wegen Vergewaltigung und Folter Beschwerde vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte (1) erhoben - zu einem Zeitpunkt, an dem die Befragungen der Staatsanwaltschaft noch nicht abgeschlossen waren. Sie berief sich auf Artikel 3 (Verbot der Folter), 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Artikel 3 EMRK sei in dreifacher Weise verletzt worden: durch ihre Vergewaltigung durch Staatsbedienstete, durch ihre (weitere) Misshandlung und durch das Fehlen effektiver Ermittlungen. Ihre Vergewaltigung und Misshandlung in Polizeigewahrsam stellten zwei voneinander zu trennende Verletzungen des Artikels 3 EMRK dar, die jeweils als Folter einzuordnen seien. Die Beschwerdeführerin begründete dies mit der Schwere der - willentlich und kalkuliert zugefügten - körperlichen Verletzungen, der sexualisierten Demütigung und der psychologischen Langzeitschädigung. Diese seien ins Verhältnis zu setzen zu ihrem Alter, Geschlecht und ihrer besonderen Verletzlichkeit aufgrund der Trennung von ihren Angehörigen und der Isolation in dem weit entfernten Polizeihauptquartier.
Artikel 6 EMRK sei verletzt worden, da kein effektiver Zugang zu bestehenden Rechtsbehelfen bestanden habe. Durch die inadäquaten Ermittlungen der türkischen Strafverfolgungsbehörden sei eine Entschädigungsklage vor den türkischen Zivil- oder Verwaltungsgerichten von vornherein aussichtslos gewesen. Vor den Zivilgerichten hätte sie eine Pflichtverletzung eines Staatsbediensteten beweisen müssen, vor den Verwaltungsgerichten die Folter im Polizeigewahrsam. Dies sei jedoch unmöglich gewesen: Die Staatsanwaltschaft habe weder die Polizisten im Hauptquartier noch mögliche Augenzeugen der Verhaftung ermittelt und befragt. In Bezug auf die Vergewaltigung hätte sich sowohl das zu ermittelnde als auch das medizinische Personal darauf konzentriert, ob sie noch "Jungfrau" gewesen sei.
Zudem sei Artikel 13 EMRK verletzt worden, da die Vorgehensweise der türkischen Behörden auch Mängel im nationalen Rechtsbehelfssystem aufzeigten. So fehlten eine unabhängige, investigative Strafverfolgungspraxis sowie professionelle Standards für die Gewinnung medizinischer Beweise. Ferner seien Einschüchterungsversuche gegenüber Beschwerdeführende, Zeuginnen und Zeugen sowie Rechtsbeiständen verbreitet.
Darüber hinaus machte S. A. unter Berufung auf die Berichte des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) geltend, dass schwere, systematische Verletzungen der Artikel 3 und 25 vorlägen. Dies sei der Fall, da Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam in der Türkei, gefolgt von fehlenden Ermittlungen und Einschüchterung der Betroffenen, verbreitet seien. Dies mache es faktisch unmöglich, den nationalen Rechtsweg zu beschreiten.
Die türkische Regierung wies die Beschwerde als unzulässig und unbegründet zurück.
3. Entscheidung des EGMR
Der EGMR stellte eine Verletzung des Artikels 3 EMRK (Verbot der Folter) fest und erkannte an, dass die Vergewaltigung und die Misshandlungen bereits jeweils für sich genommen vom Folterbegriff umfasst seien. Darüber hinaus stellten die Ermittlungen der türkischen Strafverfolgungsbehörden eine Verletzung des Artikels 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) dar, da effektive Ermittlungen die Erfolgschancen eines bestehenden Rechtsbehelfs auf Entschädigung erhöht hätten. Im Begriff des effektiven Rechtsbehelfs seien die Anforderungen an die Strafverfolgungsbehörden enthalten, adäquat zu ermitteln. Dagegen lehnte der EGMR die Feststellung einer gewaltsamen Einschüchterung der Beschwerdeführerin sowie einer systematischen Verletzung aus Mangel an Beweisen ab.
Bei seiner Prüfung legte der EGMR den Vortrag der Beschwerdeführerin zugrunde, da die Türkei auch im Rahmen der Ermittlungen nicht kooperierte, alle Vorwürfe von S. A. schlichtweg bestritt und weitere Beweise nicht zugänglich waren. Die Kommission hatte - was höchst selten geschieht - eine Ermittlungsgruppe aus Kommissionsmitgliedern zum Ort des Geschehens entsandt. Nach Sichtung aller Beweise, Befragung der Beteiligten und anderer Personen sowie dem Abgleich der Aussagen vor den türkischen Behörden mit den eigenen Befragungen war sie zu dem Ergebnis gekommen, dass der Vortrag der Beschwerdeführerin trotz geringerer Abweichungen wahrscheinlich sei. Dem schloss sich der EGMR gegen den Protest der Türkei an.
3.1 Vergewaltigung als Folter unter Artikel 3 EMRK
Der EGMR legte zunächst unter Verweis auf die Entscheidungen "Aksoy gegen Türkei" (Beschwerde-Nr. 21987/93) und "Irland gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 5310/71) seine ständige Rechtsprechung zur Bedeutung von Artikel 3 EMRK als absolutes, nicht abdingbares Recht dar. Er wies darauf hin, dass Artikel 3 EMRK zwischen Folter und Misshandlung unterscheide, und dass nur willentliche Misshandlungen, die sehr schwerwiegendes, grausames Leid auslösen, unter den Begriff "Folter" fielen.
Darauf basierend stellte er fest, dass die Vergewaltigung von Gefangenen durch Staatsbedienstete schon deshalb eine besonders schwere Misshandlung darstelle, weil der Täter die Verletzlichkeit und geschwächte Abwehrposition des Opfers leicht ausnutzen könne. Ferner verursache eine Vergewaltigung schwere Folgen, die länger andauern als bei anderen Formen körperlicher oder seelischer Gewalt. Durch den akuten körperlichen Schmerz erzwungener Penetration müsse sich die Beschwerdeführerin erniedrigt sowie körperlich und emotional missbraucht gefühlt haben. Des Weiteren sei sie - gemessen an ihrer Jugend und ihrem Geschlecht - einer Reihe besonders furchteinflößender und demütigender Erfahrungen ausgesetzt worden, wie der Desorientierung durch die verbundenen Augen, anhaltenden körperlichen und seelischen Schmerzen sowie der zusätzlichen Demütigung durch das Entkleiden.
3.2 Staatenverpflichtungen aus Artikel 13 in Verbindung mit Artikel 3 EMRK (Rz. 103 ff.)
Der EGMR prüfte die Frage des Ermittlungsdefizits gemäß Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und 13 EMRK. Artikel 13 komme zur Anwendung, da die Beschwerdeführerin mangels Erfolgsaussicht keinen Entschädigungsprozess vor Gericht angestrengt habe. Artikel 13 EMRK sei auch verletzt, da die unvollständigen Ermittlungen der türkischen Behörden jedes mögliche Verfahren von S. A. inklusive eines Schadenersatzprozesses vereitelt hätten.
Der Zweck von Artikel 13 sei, die Umsetzung der Konventionsrechte auf nationaler Ebene zu garantieren. Auch wenn den Mitgliedsstaaten ein Umsetzungsspielraum verbliebe, müsse der entsprechende nationale Rechtsbehelf es zulassen, die Beschwerde inhaltlich zu prüfen und bei Verletzungen Abhilfe zu schaffen. Er müsse ferner in rechtlicher wie praktischer Hinsicht "effektiv" sein, insbesondere dürfe seine Ausübung nicht durch Tun oder Unterlassen staatlicher Behörden erschwert werden.
Anforderungen an die Ermittlungen im Fall eines Vorwurfs von Folter durch den Staat
Der EGMR führte aus, dass aufgrund der grundlegenden Bedeutung des Folterverbots aus Artikel 3 EMRK sowie der Gefährdung von Folteropfern besondere Anforderungen an den Rechtsbehelf zu stellen seien. Artikel 12 der UN-Antifolterkonvention enthält die Verpflichtung umgehender und unparteilicher Ermittlungen. Eine äquivalente Vorschrift habe die EMRK zwar nicht, der Begriff "effektiver Rechtsbehelf" enthalte jedoch eine solche Verpflichtung ("Aksoy gegen Türkei"). Im Fall eines Foltervorwurfs sei der Staat danach verpflichtet, vollständige und effektive Ermittlungen durchzuführen sowie die Betroffenen zu entschädigen. Die Ermittlungen müssten geeignet sein, die Verantwortlichen zu identifizieren und zu bestrafen. Ferner müsse den Beschwerdeführenden effektiver Zugang zum Untersuchungsverfahren eingeräumt werden.
Aus den Ausführungen des EGMR lassen sich für diesen Fall folgende konkrete Pflichten des Staates herauslesen:
a) Besuch des Tatorts und Abgleich der Orte mit den Aussagen und Beschreibungen der Beschwerdeführerin und ihrer Angehörigen;
b) Identifizierung und Befragung möglicher Augenzeuginnen und -zeugen der Entführung;
c) Überprüfung des Polizeihauptquartiers hinsichtlich des Aufenthalts der Familie A.;
d) direkte Befragung der Polizeibeamten gleich zum kritischen Zeitpunkt des Ermittlungsbeginns;
e) Gewinnung forensischer Beweise, vor allem im Polizeihauptquartier.
Insbesondere hätte der Staatsanwalt sich nicht einfach auf die schriftliche Auskunft der Polizeibeamten verlassen und ungeprüft die Verlässlichkeit des Gefangenenregisters annehmen dürfen. Vielmehr hätte er durch die, gemessen an der Sicherheitslage, auffallend niedrige Zahl von Einträgen Nachforschungen aufnehmen und im Hauptquartier nach Beweisen suchen müssen. Als besonders schwerwiegendes Versäumnis stufte der EGMR das unkritische Verhalten des Staatsanwalts gegenüber den Sicherheitskräften ein.
Erschwerend wirkte für den EGMR, dass die Beschwerdeführerin vollständig von den durch Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten Beweisen und damit von der ordnungsgemäßen Pflichterfüllung des Staatsanwalts abhängig gewesen sei. Da der Staatsanwalt nach türkischem Recht das Ermittlungsmonopol innehabe, habe allein er die Wahrheit ihrer Aussage belegen können. Damit habe nicht nur die Ermittlung gegen die Täter, sondern auch die Effektivität der Rechtsbehelfe von S. A. in seinen Händen gelegen. Dies gelte umso mehr, da S. A. Vorwürfe der Vergewaltigung und Folter erhoben hätte. Da ihre Angehörigen die Aussage bestätigten, hätte der Staatsanwalt die Anschuldigungen ernst nehmen und unverzüglich vollständige, effektive Ermittlungen einleiten müssen, die geeignet gewesen wären, die Wahrheit ihrer Aussage zu bestätigen und zur Identifizierung und Bestrafung der Täter zu führen.
Besondere Anforderungen in Falle eines Vorwurfs sexualisierter Gewalt durch Staatsbedienstete
Zuletzt widmete sich der EGMR den Anforderungen an Ermittlungen aufgrund eines Vergewaltigungsvorwurfs. Die Anfangsphase der Ermittlungen sei besonders wichtig. Der EGMR stellte fest, dass die drei Untersuchungen in schneller Folge anscheinend den Zweck verfolgten, festzustellen, ob S. A. ihre "Jungfräulichkeit" verloren habe. Es seien mit Folter unerfahrene Ärzte eingesetzt worden, die S. A. nicht gefragt hätten, was geschehen sei. Sie hätten keine Diagnose über die Verletzungen an den Oberschenkeln abgegeben, erst recht nicht darüber, ob sie Folge eines unfreiwilligen Sexualverkehrs gewesen sein könnten. Schließlich sei nicht psychologisch untersucht worden, ob das Verhalten von S. A. desjenigen eines Vergewaltigungsopfers entspreche.
Laut EGMR seien dagegen bei dem Vorwurf der Vergewaltigung durch Staatsbedienstete im staatlichen Gewahrsam folgende Anforderungen an eine vollständige und effektive Ermittlung zu erfüllen:
a) Untersuchung durch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte;
b) Spezialisierung des medizinischen Personals auf Folter-/Vergewaltigungsfälle;
c) Untersuchung unter Anwendung aller erforderlichen Sensibilität;
d) keine Begrenzung der Unabhängigkeit der Ärztinnen und Ärzte durch von den Strafverfolgungsbehörden vorgegebene Rahmenbedingungen, insbesondere hinsichtlich des Umfangs der Untersuchungen.
3.3 Entschädigung
Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin - beschränkt auf die Verletzung des Artikels 3 EMRK - wegen der Schwere der Verletzungen sowie der andauernden seelischen Verletzungen durch die Vergewaltigung 25.000 Pfund zu.
(1) Mit dem 11. Zusatzprotokolls wurde am 1. November 1998 die Kommission abgeschafft und der EGMR zu einem ständigen Gerichtshof umgestaltet, der seitdem allein für die Beschwerden zuständig ist.
Entscheidung im Volltext: