Beschwerde-Nr. 19010/07
EGMR, Urteil vom 19.02.2013, Beschwerde-Nr. 19010/07, X und andere gegen Österreich
1. Sachverhalt
Ein lesbisches Paar lebt seit vielen Jahren mit dem leiblichen Sohn der einen Frau zusammen in einem Haushalt in Österreich. Beide Frauen kümmern sich um das Kind, für das die leibliche Mutter das alleinige Sorgerecht hat. 2005 beantragen sie die (Stiefkind-)Adoption des Sohnes durch die Partnerin beim Bezirksgericht. Das Gericht weist den Antrag mit der Begründung ab, dass nach der zugrundeliegenden Vorschrift (§ 182 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB)) bei einer Stiefkindadoption ein leiblicher Elternteil nur durch einen gleichgeschlechtlichen Adoptivelternteil ersetzt werden könne. Die Adoption des Kindes würde damit die Beziehung zu seiner leiblichen Mutter, nicht zu seinem Vater, aufheben. Beide Frauen könnten also nicht gleichzeitig rechtliche Eltern des Kindes sein.
2006 bestätigte das Berufungsgericht die Entscheidung. Nach österreichischem Recht seien "Eltern" grundsätzlich zwei verschiedengeschlechtliche Personen. Da der Sohn beide Elternteile habe, bestehe keine Notwendigkeit, eines durch einen Adoptivelternteil zu ersetzen. Der Sohn habe regelmäßigen Kontakt zu seinem Vater; dieser stimme der Adoption nicht zu. Mit den gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten der Ersetzung der verweigerten Zustimmung aus Gründen des Kindeswohls befasste sich das Gericht nicht.
Der Oberste Gerichtshof wies die Revision zurück, da die Adoption eines Kindes durch die Partnerin seiner Mutter rechtlich ausgeschlossen sei. Zudem gebe es keine Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage in § 182 ABGB.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Die beiden Frauen und der Sohn erhoben 2007 Beschwerde vor dem EGMR. Sie beriefen sich auf Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Verbindung mit Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK. Die Vorschriften seien verletzt, weil sie als gleichgeschlechtliches Paar aufgrund der sexuellen Orientierung diskriminiert würden. Das österreichische Recht ermögliche die Stiefkindadoption bei verheirateten und unverheirateten heterosexuellen Paaren. Es gebe keine vernünftige und objektive Rechtfertigung dafür, gleichzeitig eine entsprechende Adoption bei homosexuellen Paaren zu verbieten. Es liege eine andere Situation als in "Gas und Dubois gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 25951/07) vor, da das französische Recht nur verheirateten Paaren die Adoption erlaubte. Dagegen ähnele ihre Situation "Karner gegen Österreich" (Beschwerde-Nr. 40016/98), da homosexuelle Paare in Österreich von dem gleichen Recht, das heterosexuellen Paaren gewährt wurde, ausgeschlossen worden seien. Das österreichische Gesetz schließe sie als Paar wegen ihrer sexuellen Orientierung automatisch von jeder Adoptionsmöglichkeit aus. Die Situation sei damit vergleichbar wie im Fall "E. B. gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 43546/02). So hätten die Gerichte noch nicht einmal geprüft, ob die verweigerte Zustimmung des Vaters wegen des Kindeswohls ersetzt werden müsse und ob das Interesse der Partnerin das Interesse des leiblichen Vaters damit überwiege. Dies hätten die Gerichte bei jedem heterosexuellen Paar prüfen müssen. Bei ihnen als homosexuellem Paar dagegen sei keine Einzelfallprüfung erfolgt, da die Stiefkindadoption durch eine gleichgeschlechtliche Partnerin von vornherein ausgeschlossen worden sei.
Nach der Rechtsprechung des EGMR müsse die Regierung nachweisen, dass der Ausschluss unverheirateter homosexueller Paare erforderlich sei, um das Kindeswohl zu schützen. Die Beschwerdeführerinnen verwiesen auf die Studie "Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften" (2009) des deutschen Bundesjustizministeriums, wonach gleichgeschlechtliche Paare genauso gut zu einer positiven kindlichen Entwicklung beitragen können wie heterosexuelle Paare. Das Kindeswohl stehe im Zentrum verschiedener Standards der Vereinten Nationen und des Europarates.
Schließlich sei zu berücksichtigen, dass sie faktisch seit vielen Jahren eine Familie seien und ihnen die gesetzliche Anerkennung verweigert werde. Nach österreichischem Recht hätten Kinder häufig mehr als zwei Elternteile, weil die rechtliche Bindung zu dem früheren Elternteil – wenn auch untergeordnet – bestehen bleibe (Rz. 62-69).
Die österreichische Regierung, an die sich die Beschwerde richtete, hält diese für unzulässig und unbegründet.
Die Beschwerde sei unbegründet, da die Situation der Beschwerdeführenden – wie in "Gas und Dubois" – nicht vergleichbar mit der Lage verheirateter Paare sei.
Der Staat habe einen weiten Beurteilungsspielraum im Adoptionsrecht, da nur zehn Mitgliedsstaaten die Adoption durch homosexuelle Paare erlaubten. Das österreichische Recht gebe auf legitime Weise den Rechten der biologischen Eltern den Vorrang. Nur bei klar überwiegendem Kindeswohl sei es gerechtfertigt, ein biologisches Elternteil zu ersetzen. Da das Recht des biologischen Elternteils auch von Artikel 8 EMRK geschützt werde, dürfe dieses es nur mit seinem Einverständnis verlieren. Österreich habe damit die Interessen angemessen abgewogen. Die Beschwerdeführenden würden nicht anders behandelt als unverheiratete heterosexuelle Paare, deren Adoptionsantrag bei fehlendem Einverständnis auch abgewiesen werde, oder als sonstige Verwandte, wie zum Beispiel zwei Schwestern oder die Tante, die einen Neffen adoptieren wolle.
Ferner verfolge das Recht den Zweck, das Kindeswohl zu schützen, und wolle deshalb verhindern, dass ein Kind vier gesetzliche Elternteile habe. Dieses Ziel verfolge der Staat auch mit angemessenen Mitteln (Rz.70-77).
Die ursprünglich berufene Kammer gab die Rechtssache wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung beziehungsweise möglicher Abweichung von früheren Urteilen gemäß Artikel 30 EMRK an die Große Kammer ab.
Drittinterventionen (Rz. 78 ff.)
Der EGMR erhielt zahlreiche Stellungnahmen verschiedener Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen.
Die Organisationen Federation Internationale des Ligues des Droits de l’Homme (FIDH), International Commission of Jurists (ICJ), European Region of the International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA-Europe), British Association for Adoption and Fostering (BAAF), Network of European LGBT Families Associations (NELFA) sowie die European Commission on Sexual Orientation Law (ECSOL) brachten gemeinsam vor, dass nur die Staaten des Europarates als Vergleichsgruppe herangezogen werden dürften, die überhaupt Stiefkindadoptionen für Unverheiratete vorsähen. Unter den dann verbleibenden Staaten erlaubten nur fünf allein die Adoption durch verschiedengeschlechtliche Partnerinnen und Partner und verboten die Adoption durch gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner (Rz. 78 ff.).
Amnesty International wies auf der Grundlage einer Analyse der internationalen und regionalen Diskriminierungsvorschriften und ihrer Auslegung durch die zuständigen Spruchkörper darauf hin, dass Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts nur mit besonders überzeugenden und gewichtigen Gründen gerechtfertigt werden könnten. So habe der Inter-Amerikanische Gerichtshof in seinem Urteil "Atala Riffo und Töchter gegen Chile" festgestellt, dass die sexuelle Orientierung als Teil der persönlichen Intimsphäre irrelevant für die Eignung als Elternteil sei. Ferner verpflichteten Artikel 3 und 21 des UN-Kinderrechtsübereinkommens die Staaten dazu, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen. Damit beschränke das Übereinkommen den staatlichen Beurteilungsspielraum, der somit nicht die sexuelle Orientierung oder die Zusammensetzung der Familie in den Vordergrund stellen dürfe. Deshalb müsse jedes Adoptionsrecht den Gerichten oder Behörden ermöglichen, über Adoptionen auf der Grundlage des Kindeswohls im Einzelfall zu entscheiden (Rz. 87 f.).
Weitere Stellungnahmen gaben das European Centre for Law and Justice (ECLJ), der Attorney General for Northern Ireland und Alliance Defending Freedom ab.
3. Entscheidung des EGMR (Rz. 92 ff.)
Der Gerichtshof stellt eine Verletzung von Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest, da die österreichische Regierung keine überzeugenden Argumente für die Notwendigkeit einer Ungleichbehandlung vorgebracht hätten. Die Beschwerdeführerinnen würden bei der Stiefkindadoption im Vergleich zu unverheirateten heterosexuellen Paaren wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert.
Gleichzeitig betonte der Gerichtshof, dass Staaten nicht verpflichtet seien, unverheirateten Paaren das Recht auf Stiefkindadoption zuzusprechen. Billigen sie es diesen aber zu, müssen sie gleichgeschlechtliche Paare gleich behandeln oder eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können.
3.1 Eröffnung des Anwendungsbereichs (Rz. 92 ff.)
Der EGMR bestätigt, dass die Beschwerdeführenden faktisch ein gemeinsames Familienleben führten, das von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK erfasst sei. Dies habe der Gerichtshof für gleichgeschlechtliche Paare, die gemeinsam Kinder aufziehen, bereits in "Gas und Dubois" festgestellt.
3.2 Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK
Grundsätze (Rz. 98 ff.)
Der Gerichtshof fasst zusammen, dass eine Ungleichbehandlung dann diskriminierend sei, wenn es keine objektive und vernünftige Rechtfertigung dafür gibt. Dies sei der Fall, wenn sie keinen legitimen Zweck verfolgt oder Mittel und Zweck nicht verhältnismäßig sind. Der EGMR bestätigt zudem, dass Staaten einen grundsätzlich weiten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Ungleichbehandlung hätten ("Schalk und Kopf gegen Österreich", Beschwerde-Nr. 30141/04; "Burden gegen das Vereinigte Königreich", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 13378/05).
Der EGMR führt weiter aus, dass Artikel 14 EMRK Diskriminierung wegen sexueller Orientierung erfasst. Ungleichbehandlungen seien in diesem Bereich nur bei besonders überzeugenden und gewichtigen Gründen zulässig und allein aufgrund sexueller Orientierung sogar ausgeschlossen ("E. B. gegen Frankreich"). Der staatliche Beurteilungsspielraum sei in diesen Fällen klein ("Karner gegen Österreich").
Sodann fasst der Gerichtshof ausführlich seine drei bisherigen Entscheidungen zum Adoptionsrecht homosexueller Paare zusammen und grenzt sie gegeneinander ab (Rz. 101 ff.). "Fretté gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 36515/97) und "E. B. gegen Frankreich" betrafen die Adoption durch einen (homosexuellen) Partner, wobei Frankreich alleinstehenden Personen die Adoption erlaubt. Hatte der Gerichtshof in "Fretté" eine Verletzung der EMRK noch verneint, änderte er seine Rechtsprechung im zweiten Fall "E. B.".
Im Fall "Gas und Dubois gegen Frankreich" wollte eine Frau in Lebenspartnerschaft das Kind ihrer Partnerin adoptieren und dadurch das gemeinsame Sorgerecht erlangen. Der EGMR stellte gegenüber Ehepaaren keine Diskriminierung fest, da Frankreich nur verheirateten Paaren das gemeinsame Sorgerecht gewähre und es nicht verpflichtet sei, gleichgeschlechtlichen Paaren die Ehe zu ermöglichen. Im Verhältnis zu unverheirateten heterosexuellen Paaren liege keine Diskriminierung vor, da das französische Recht auch ihnen keine Stiefkindadoption erlaube.
Prüfungsumfang bei der Rechtfertigung (Rz. 132-134)
Der EGMR stellt klar, dass er nicht anstelle der nationalen Gerichte darüber urteilt, ob den Beschwerdeführerinnen die Adoption hätte gestattet werden müssen. Er betont, dass er trotz der politischen Debatte über die Rechte gleichgeschlechtlicher Eltern auch nicht über ein Recht gleichgeschlechtlicher Paare auf Stiefkindadoption oder gar das Recht gleichgeschlechtlicher Paare auf Adoption überhaupt entscheide. Er urteile nur über die enge Frage der behaupteten Diskriminierung zwischen unverheirateten gleich- und verschiedengeschlechtlichen Paaren bei der Stiefkindadoption nach österreichischem Recht. Er betont erneut, dass die EMRK die Staaten nicht verpflichte, unverheirateten Paaren die Stiefkindadoption zu ermöglichen. Gewährt ein Staat jedoch ein Recht im Sinne von Artikel 8 EMRK, dürfe er es nicht auf eine diskriminierende Weise (Artikel 14 EMRK) anwenden ("E. B. gegen Frankreich").
Anwendung der Grundsätze (Rz. 105 ff.)
Der Gerichtshof vergleicht die Beschwerdeführerinnen zunächst mit der Vergleichsgruppe von Ehepaaren und dann mit unverheirateten heterosexuellen Paaren. Hinsichtlich der ersten Gruppe stellt er keine Ungleichbehandlung fest, da sie sich nicht in vergleichbaren Situationen befänden. Bezüglich der zweiten Gruppe nimmt er dagegen eine Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung an. Diese konnte nach Auffassung des Gerichtshofs auch nicht gerechtfertigt werden, da keine überzeugenden, gewichtigen Gründe vorlagen.
Erste Vergleichsgruppe: keine Ungleichbehandlung gegenüber verheirateten verschiedengeschlechtlichen Paaren (Rz. 105 ff.)
Der Gerichtshof führt unter Hinweis auf seine Argumentation im Urteil "Gas und Dubois gegen Frankreich" aus, dass sich die Beschwerdeführerinnen nicht in einer vergleichbaren Situation zu einem Ehepaar befänden, bei denen ein Partner oder eine Partnerin das leibliche Kind des oder der anderen adoptieren möchte. Er sah keinen Grund, von seiner früheren Schlussfolgerung abzuweichen. Er betont, dass Artikel 12 oder 14 in Verbindung mit 8 EMRK Staaten nicht verpflichte, gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit zur Eheschließung zu gewähren ("Schalk und Kopf gegen Österreich"). Artikel 12 EMRK schütze nur die Ausübung des gewährten Rechts auf Eheschließung mit all seinen Folgen. Der Staat habe dagegen einen gewissen Beurteilungsspielraum für die Ausgestaltung des Status‘, wenn er gleichgeschlechtlichen Paaren eine andere Form rechtlicher Anerkennung zubilligt ("Gas und Dubois"). Österreich sehe einen Ehestatus vor, der sich von Unverheirateten unterscheide. Nur verheirateten Paaren sei in Österreich die gemeinsame (Fremdkind-)Adoption erlaubt. Der Gerichtshof legt dar, dass die Beschwerdeführerinnen nicht forderten, die Ehe eingehen zu können, und sich deshalb in Bezug auf eine Stiefkindadoption schon in einer anderen Situation als ein verheiratetes Paar befänden.
Zweite Vergleichsgruppe: Diskriminierung gegenüber unverheirateten verschiedengeschlechtlichen Paaren (Rz. 111 ff.)
Vergleichbare Situation (Rz. 112)
Der Gerichtshof erkennt an, dass sich die Beschwerdeführerinnen in einer mit unverheirateten heterosexuellen Paaren vergleichbaren Situation befänden, da eine von ihnen das Kind der Partnerin adoptieren möchte und das österreichische Recht diese Stiefkindadoption auch für heterosexuelle Paare zulasse. Es sei nicht ersichtlich, dass unverheiratete heterosexuelle und homosexuelle Paare einen unterschiedlichen Status vor dem Gesetz hätten. Auch die Regierung habe zugestanden, dass gleichgeschlechtliche Paare grundsätzlich gleichermaßen zur Adoption geeignet sein können.
Ungleichbehandlung (Rz. 113 ff.)
Der Gerichtshof nimmt eine ausführliche Untersuchung des österreichischen Adoptionsrechts vor und stellt eine Ungleichbehandlung von gleich- und verschiedengeschlechtlichen Paaren fest. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das österreichische Recht einem Partner oder einer Partnerin die Stiefkindadoption bei unverheirateten heterosexuellen Paaren ermögliche, ohne dabei die rechtliche Beziehung des anderen Partners oder der anderen Partnerin zum Kind aufzuheben. Im Gegensatz dazu sei die Stiefkindadoption bei einem gleichgeschlechtlichen Paar rechtlich unmöglich, da der neue Elternteil den gleichgeschlechtlichen Elternteil ersetze. Damit könne das Kind nicht gleichzeitig eine rechtliche Beziehung zu beiden Müttern oder beiden Vätern haben.
Der EGMR stellt fest, dass die Ablehnung der Adoption auch auf dieser rechtlichen Ungleichbehandlung beruhe. Dies ergebe sich aus den Gerichtsurteilen. Die Gerichte hätten sich vorrangig auf die rechtliche Unmöglichkeit der Adoption gestützt. Deshalb hätten sie sich nicht mit den Einzelheiten des Falles befasst. Dies sei daran ersichtlich, dass die Gerichte nicht geprüft hätten, ob die Adoption trotz der fehlenden Zustimmung des Vaters zuzulassen sei. Das Berufungsgericht habe schließlich betont, dass der Begriff "Eltern" Verschiedengeschlechtlichkeit voraussetze, und darauf verwiesen, dass der Umgang mit verschiedengeschlechtlichen Elternteilen dem Kindeswohl diene.
Durch die rechtliche Unmöglichkeit sei der Weg zu einer Überprüfung des Kindeswohls automatisch versperrt gewesen. Bei einem heterosexuellen Paar dagegen hätten die Gerichte den Adoptionsantrag nicht einfach zurückweisen dürfen. Sie wären bei einer Stiefkindadoption verpflichtet gewesen zu untersuchen, ob eine Adoption aus Gründen des Kindeswohls ausnahmsweise erforderlich ist. Dazu hätten sie die Belange des Paares, des Kindes und des biologischen Vaters nach Befragung aller Personen gegeneinander abwägen müssen. Demnach seien alle drei Beschwerdeführenden durch die Ungleichbehandlung direkt betroffen und könnten sich auf eine Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK berufen.
Schließlich stellte der Gerichtshof in Abgrenzung zu "Gas und Dubois gegen Frankreich" fest, dass die Ungleichbehandlung der Beschwerdeführerinnen im Vergleich zu unverheirateten heterosexuellen Paaren auf ihrer sexuellen Orientierung beruhe. Dies sei der Fall, weil in Österreich – im Gegensatz zu Frankreich – unverheiratete heterosexuelle Paare ein Recht auf Stiefkindadoption haben. Der Gerichtshof weist hier das Argument Österreichs zurück, dass auch andere Verwandte (beispielsweise Schwestern oder eine Tante gegenüber dem Neffen) nicht adoptionsberechtigt seien. Dieses Verhältnis falle entweder nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 8 EMRK oder sei jedenfalls ganz anders zu bewerten. Demnach seien die benannten Verwandten nicht in gleicher Weise von der Vorschrift betroffen wie die Beschwerdeführenden.
Keine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Paare (Rz. 132 ff.)
Legitimer Zweck (Rz. 136 ff.)
Der Gerichtshof erkennt an, dass der Schutz der Familie im traditionellen Sinne ebenso wie das Kindeswohl grundsätzlich legitime und gewichtige Zwecke sind. Er akzeptiert die Argumentation Österreichs unkommentiert, dass das österreichische Adoptionsrecht der Nachbildung der Umstände einer biologischen Familie diene und damit dem Leitbild folge, dass ein minderjähriges Kind zwei Eltern verschiedenen Geschlechts haben solle. Demnach solle die bestehende Verbindung zu einem Elternteil nicht zugunsten eines zweiten andersgeschlechtlichen Elternteils gekappt werden.
Verhältnismäßigkeit
Gemessen am engen Beurteilungsspielraum bei Ungleichbehandlungen aufgrund sexueller Orientierung habe Österreich die Notwendigkeit eines (absoluten) Adoptionsverbots für gleichgeschlechtliche Paare nicht nachgewiesen. Es bestünden jedenfalls starke Zweifel an der Verhältnismäßigkeit, die eher dafür sprechen, im Sinne des Kindeswohls und gemäß der internationalen Vorschriften den nationalen Gerichten eine Einzelfallentscheidung zu ermöglichen.
Bei einem so vagen Ziel wie dem Schutz der traditionellen Familie müsse der Staat bei seiner Wahl der Mittel die gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich verändernde Wahrnehmung von Gesellschaft, Familienstand und persönlichen Verhältnissen und die verschiedenen Lebensentwürfe berücksichtigen ("Karner gegen Österreich"). Keines der Argumente des Staates erkennt der EGMR an.
Zunächst habe die Regierung nicht bewiesen, dass die Erziehung durch ein gleichgeschlechtliches Paar oder die rechtliche Beziehung zu zwei Müttern oder Vätern dem Kindeswohl schade. Die österreichische Regelung sei nicht kohärent, da dort auch Einzelpersonen adoptieren könnten. Der österreichische Gesetzgeber habe damit faktisch das Aufwachsen eines Kindes in einer "Regenbogenfamilie" längst akzeptiert, da er die Adoption eines Kindes durch eine (homo- oder heterosexuelle) Einzelperson und damit auch die Erziehung in einer solchen Partnerschaft zulasse.
Der Gerichtshof führt aus, dass den faktisch existierenden "Regenbogenfamilien" mangels Adoptionsrechts die rechtliche Anerkennung und der Schutz versagt würden. Er messe der Anerkennung faktischen Familienlebens große Bedeutung bei ("Wagner und J. M. W. L. Wagner gegen Luxemburg", Beschwerde-Nr. 76240/01). Der EGMR betont, dass die betroffenen Kinder bereits in der Familie lebten, sodass es im Gegensatz zu einer klassischen Adoption nicht um die Erzeugung neuer Bindungen, sondern nur um die Herstellung zusätzlicher rechtlicher Bindungen gehe.
Ausmaß des Beurteilungsspielraums mangels übereinstimmender Rechtsüberzeugung der Mitgliedsstaaten des Europarates
Der Gerichtshof stellt fest, dass sich Österreich nicht darauf berufen könne, dass nur wenige Mitgliedsstaaten die Stiefkindadoption bei gleichgeschlechtlichen Paaren zuließen und folglich ein noch weiterer Beurteilungsspielraum bestehe als sonst schon im Adoptionsrecht.
Der Gerichtshof führt aus, dass der Beurteilungsspielraum unter Artikel 8 EMRK von verschiedenen Faktoren abhänge. Grundsätzlich sei der Spielraum bei besonders wichtigen Aspekten der Persönlichkeit des Einzelnen beschränkt; dagegen sei er erweitert, wenn keine übereinstimmende Rechtsauffassung in den Mitgliedsstaaten bestehe ("A, B und C gegen Irland", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 25579/05). Der EGMR stellt heraus, dass nur diejenigen Staaten als Vergleichsgruppe dienen könnten, die die Stiefkindadoption bei unverheirateten Paaren erlauben, da es allein um die Ungleichbehandlung zwischen unverheirateten verschieden- und gleichgeschlechtlichen Paaren bei der Stiefkindadoption gehe. Aus dieser kleinen Vergleichsgruppe könnten keine Folgerungen abgeleitet werden, da sechs Staaten alle unverheirateten Paare gleich behandelten und (inklusive Österreich) fünf nicht. Schließlich kommt der EGMR bezüglich des Übereinkommens über die Adoption von Kindern von 2008 zum gleichen Ergebnis. Er legt dessen Artikel 7 im Lichte der Empfehlung Rec(2010)5 des Ministerkomitees aus und verweist darauf, dass selbst wenn das Übereinkommen anders auszulegen sei, dies keinen Unterschied mache, da sich ein Mitgliedsstaat nicht auf nach der Ratifikation der EMRK eingegangene Verpflichtungen berufen könne.
3.3 Entschädigung für (materielle und) immaterielle Schäden
Der EGMR sprach den Beschwerdeführerinnen gemeinsam 10.000 Euro Schmerzensgeld für die erlittenen immateriellen Schäden sowie Erstattung der Kosten und Auslagen zu.
3.4 Sondervoten
Der Entscheidung liegen zwei Sondervoten bei. Richter Spielmann trägt – wie in "Gas und Dubois gegen Frankreich" – vor, dass der Vergleich mit der Situation eines Ehepaares überflüssig gewesen sei, zumal die Beschwerdeführerinnen selbst keine Diskriminierung im Verhältnis zur Ehe rügten.
Sieben Richterinnen und Richter lehnen in einem lesenswerten Sondervotum eine Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK ab. Dies begründen sie zum einen mit den Besonderheiten des Sachverhalts und des österreichischen Rechts: Artikel 8 EMRK enthalte nach ständiger Rechtsprechung kein Recht zu adoptieren oder adoptiert zu werden; es gebe also für keine der drei beschwerdeführenden Personen einen Eingriff in den Schutzbereich. Zudem liege jedenfalls eine Rechtfertigung vor. Das österreichische Gesetz sei unterschiedslos anwendbar und berücksichtige alle Interessen. Der Gerichtshof blende aus, dass auch das Recht des Vaters, der sich um seinen Sohn kümmerte, von Artikel 8 EMRK geschützt sei, Adoption sei nur mit Einverständnis des Elternteils möglich und dürfe nur in extremen Ausnahmefällen durchgesetzt werden. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern das Kindeswohl die Ersetzung des Vaters durch die Partnerin der Mutter erfordert habe, da der Sohn immer eine Familie gehabt habe.
Zum anderen habe die Richter-Mehrheit im rechtsvergleichenden Teil Fehler begangen. Unabhängig von der Auswahl der Vergleichsstaaten gehe das Urteil darüber hinweg, dass sich aus der gewählten Gruppe kein Konsens und nicht einmal ein Trend ableiten lasse. Aus Artikel 7 Absatz 2 des Europaratsübereinkommens zu Adoption könne nur abgeleitet werden, dass jeder Staat über seine Gesetzgebung frei entscheiden könne. Auch die zitierte Empfehlung des Ministerkomitees und die bisherige Rechtsprechung des EGMR ließen die gezogenen Schlüsse nicht zu. Vielmehr forderten sie Harmonisierung zwischen den konkurrierenden internationalen Verpflichtungen. Schließlich stellen die Richterinnen und Richter fest, dass die Mehrheit der Richter den Bogen der dynamischen Vertragsauslegung überspannt habe. Während der EGMR eine Änderung begleiten und sogar lenken könne, dürfe er ihr weder vorgreifen noch sie erzwingen.
4. Follow Up (Stand: November 2013)
Der österreichische Nationalrat hat auf Vorlage der Bundesregierung ein Adoptionsrechts-Änderungsgesetz 2013 (AdRÄG) beschlossen. Das Gesetz wurde im August 2013 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Es ermöglicht nunmehr auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Stiefkindadoption. Nicht durchsetzen konnten sich die Grünen im Nationalrat, die ein generelles Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare einforderten.
5. Bedeutung für die Rechtspraxis
Das Urteil "X und andere gegen Österreich" ist inhaltlich von nur begrenzter Reichweite, da es sich allein mit der Stiefkindadoption in einem Staat befasst, der die Stiefkindadoption durch einen unverheirateten Elternteil bereits zuließ. Der EGMR betont, dass sich (derzeit) aus der EMRK kein allgemeines Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare und auch kein Recht auf Stiefkindadoption durch unverheiratete Elternteile ableiten lasse. Diskriminierungsrechtlich interessant ist jedoch die genaue Bildung der Vergleichsgruppen und die damit in Verbindung stehende Rechtfertigung. Der EGMR stellt zunächst eine rechtliche Ungleichbehandlung fest (1.), prüft dann, ob die Ungleichbehandlung bei der Anwendung gerade auf der rechtlichen Differenzierung beruht (2.), schließlich, ob die rechtliche und tatsächliche Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Diskriminierung erfolgt ist (3.). Dies ist in der Regel nicht der Fall, wenn das Familienrecht in dem entsprechenden Bereich verheirateten Paaren noch immer ein großes Ausmaß an Rechten vorbehält, die allen anderen Lebensformen nicht gestattet werden (vergleiche "Gas und Dubois"). Hier greift nach wie vor noch der traditionell weite staatliche Beurteilungsspielraum im Familienrecht.
Daneben zeigt sich jedoch, dass es nicht notwendigerweise auf einen Konsens aller oder der Mehrheit der Mitgliedsstaaten auf einem Rechtsgebiet ankommt. Sehen – wie hier – nur wenige Staaten eine bestimmte Regelung vor, kann der betreffende Staat möglicherweise nicht auf einen gewohnt weiten Beurteilungsspielraum vertrauen. Differenziert er bei einer solchen Regelung aufgrund des Kriteriums der sexuellen Orientierung, muss er spätestens auf Rechtfertigungsebene (ohnehin) gesteigerte Anforderungen erfüllen, sodass sich sein Spielraum verengt. So wird es aufgrund der im Vergleich zu "Fretté gegen Frankreich" mittlerweile deutlich besseren empirischen Lage zum Kindeswohl der in "Regenbogenfamilien" aufwachsenden Kinder für Staaten immer schwieriger, eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.
Bedeutsam ist die seltene Ausführlichkeit und dogmatische Sorgfalt, die der Gerichtshof in der rechtlichen Würdigung an den Tag legt. Über zahlreiche Randnummern hinweg analysiert er die Verhältnisse in den Mitgliedsstaaten genau und wägt jedes Argument des Staates sorgsam ab und unterlegt seine Erwägungen mit eigener Rechtsprechung. In seinem Normenteil führt er Quellen zum menschenrechtlichen Schutz gegen Diskriminierung wegen sexueller Orientierung auf, auf die er in der Würdigung kurz eingeht: Artikel 3 und 21 des UN-Kinderrechtsübereinkommens, Artikel 4, 7 und 11 des Europäischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern (revidierte Version 2008), die Empfehlung R(2010)5 des Ministerkomitees des Europarates zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität und die Studie des Hochkommissars für Menschenrechte des Europarates zu Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität.
Auch wenn sich das Urteil gegen Österreich richtet, sind die Feststellungen dennoch für Deutschland verbindlich. Zwar binden EGMR-Urteile unmittelbar nur die beteiligten Parteien, also Beschwerdeführerin beziehungsweise Beschwerdeführer und Vertragsstaat (Artikel 46 Absatz 1 EMRK). Die Wirkung geht aber mittelbar darüber hinaus, indem zur innerstaatlichen Rechts- und Entscheidungsfindung im Lichte der EMRK deren Inhalt und Entwicklungsstand in Betracht zu ziehen sind. Die EMRK wird als "living instrument" verstanden, das vom EGMR ausgelegt und fortentwickelt wird. Als der insoweit höchsten Autorität kommt dem EGMR die Befugnis zur Konkretisierung der Konventionsnormen zu, die innerstaatlich berücksichtigt werden muss – unabhängig davon, gegen welchen Staat die Entscheidung erging (ausdrücklich BVerfGE 111, 307, 319, 328; zuvor bereits BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120). Die Argumente des EGMR können also bei Verhandlungen, vor deutschen Behörden sowie deutschen und internationalen Spruchkörpern vorgebracht werden.
Gewissermaßen lässt sich in der Vorgehensweise des Gerichtshofs eine Parallele zu seinen Fällen zur Transidentität erahnen. Hier hat der EGMR über Jahre hinweg sorgsam die Entwicklung des Rechts und der Praxis in den Mitgliedsstaaten analysiert (beginnend von "Rees gegen das Vereinigte Königreich", 1986, Beschwerde-Nr. 9532/81), den Beurteilungsspielraum verkleinert und einen Rechtsprechungswechsel angekündigt ("Sheffield und Horsham gegen das Vereinigte Königreich", 1998, Beschwerde-Nrn. 22985/93 und 23390/94) und schließlich wegen einer neuen überwiegenden Praxis vollzogen ("Christine Goodwin gegen das Vereinigte Königreich", Große Kammer, 2003, Beschwerde-Nr. 28957/95).
Ob er bezüglich der Diskriminierung wegen sexueller Orientierung, spezieller im Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare und möglicherweise bei ihrem Recht auf Eheschließung, einen ähnlichen Weg beschreiten wird, bleibt abzuwarten. Eine Tendenz gegenüber den französischen Urteilen "Fretté" und "E. B. " lässt sich durchaus erkennen. Das Urteil "X und andere gegen Österreich" liefert Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwendern jedenfalls eine genaue Übersicht darüber, welche Argumente und Gedankengänge der EGMR derzeit bei der Beurteilung verfolgt, und kann damit als Modell für die eigene Argumentation dienen.
Entscheidung im Volltext:
Deutsche Fundstellen via egmr.org: NJW 2013, 2173; ÖJZ 2013, 476