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Rechtssache C 13/05

EuGH, Urteil vom 11.07.2006, Rechtssache C 13/05, Sonia Chacón Navas gegen Eurest Colectividades SA

1. Sachverhalt

1.a) Hintergrund

Gegenstand des Rechtsstreits zwischen Chacón Navas (C. N.) und ihrem Arbeitgeber war ihre Entlassung während einer krankheitsbedingten achtmonatigen Arbeitsunterbrechung. Der Arbeitgeber sprach C. N. ohne Angabe von Gründen die Kündigung aus. Gleichzeitig erkannte er die Rechtswidrigkeit der Kündigung an und bot C. N. eine Entschädigung an.

Im spanischen Recht wird zwischen „nichtigen“ und „rechtswidrigen“ Kündigungen unterschieden. Die Nichtigkeit führt zur Wiederherstellung des Arbeitsverhältnisses, die Rechtswidrigkeit lediglich zur Zahlung von Entschädigung.

1.b) Verfahrensgeschichte (innerstaatlich)

C. N. begehrte mit einer Klage vor dem zuständigen spanischen Gericht ihre Wiedereinstellung. Ihrer Auffassung nach sei die Kündigung nichtig gewesen, da sie eine verbotene Diskriminierung darstelle. C. N. stützte ihre Klage auf die entsprechenden spanischen Vorschriften und die Europäische Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303, S. 16).

2. Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)

Das nationale Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob der in der Richtlinie 2000/78 enthaltene Schutz vor Diskriminierung auch auf eine Kündigung wegen Krankheit anwendbar sei. In einer zweiten Frage, die dem EuGH vorgelegt wurde, ging es darum, ob eine Krankheit als ein weiterer neben denen in Richtlinie 2000/78 explizit genannten Diskriminierungsgründen angesehen werden kann.

3. Entscheidung des EuGH

Der Gerichtshof hatte erstens den Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 auszulegen und zweitens zu prüfen, inwieweit Menschen mit Krankheiten durch die Richtlinie gegen Kündigungen geschützt sind.

Zum Begriff „Behinderung“ stellte der EuGH fest, dass obwohl der Begriff in der Richtlinie 2000/78 selbst nicht definiert sei, man dennoch seine Bedeutung aus den Zielen der Richtlinie ableiten könne. Demnach sei der Begriff „Behinderung“ so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasse, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen sei und die ein Hindernis für die Teilhabe des oder der Betreffenden am Berufsleben bilde.

Weiter erklärte der EuGH, dass sich aus Art. 1 der Richtlinie ergebe: die Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf aus einem der abschließend aufgezählten Gründe (unter anderem Behinderung) stelle den Zweck der Richtlinie dar. Die Richtlinie verwende dabei den Begriff „Behinderung“ und nicht „Krankheit“. Daher dürften die beiden Begriffe nicht gleichgesetzt werden. Daraus ergebe sich, dass eine Person, der von ihrem Arbeitgeber ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden sei, nicht durch das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschützt werde.

Zu der zweiten Frage führte der Gerichtshof aus, dass die Diskriminierungsgründe in der Richtlinie abschließend aufgezählt seien und nicht erweitert werden könnten. Demzufolge könne Krankheit als solche nicht als ein weiterer Grund nach Richtlinie 2000/78 angesehen werden.

4. Bedeutung der Entscheidung

Einige Kernaussagen dieser Entscheidung wurden inzwischen relativiert, und zwar durch ein Urteil des EuGH aus dem Jahr 2013 (EuGH, Urteil vom 11. April 2013, Rechtssache C 335/11 und C 337/11, „HK Danmark gegen Dansk almesnnyttigt Boligselskab“).

Grund hierfür ist, dass der Gerichtshof den hier vorgestellten Fall „Chacón Navas“ noch vor Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention entschieden und die Richtlinie 2000/78 noch im Lichte des sogenannten medizinischen Behinderungsmodells ausgelegt hatte. Eine solche Auslegung steht jedoch nicht im Einklang mit der inzwischen in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention, die auch von der Europäischen Union ratifiziert worden ist.

In seinem Urteil vom 11. April 2013 in der Sache „HK Danmark gegen Dansk almesnnyttigt Boligselskab“ hat der EuGH daher die restriktivere Definition der Behinderung, die er noch im hier vorgestellten Urteil „Chacón Navas“ vertrat, erweitert und die Richtlinie 2000/78 nunmehr im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention interpretiert. Danach umfasst der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie auch heilbare oder unheilbare Krankheiten, wenn diese eine Einschränkung mit sich bringen, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit anderen Arbeitnehmenden, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist. Dagegen fällt eine Krankheit, die keine solche Einschränkung mit sich bringt, auch weiterhin nicht unter den Begriff Behinderung.

Entscheidung im Volltext:

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