Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

CRPD, Mitteilung Nr. 3/2011, (H.M. vs. Sweden)

CRPD, Auffassungen vom 19.04.2012, H. M. (vertreten durch Mr. H-E.G. and Mrs. B.G.) gegen Schweden

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.7)

Die 34-jährige H. M. hat das chronische Ehlers-Danlos-Syndrom, das in ihrem Fall mit so starken Mobilitätseinschränkungen einhergeht, dass sie ihr Haus nicht mehr verlassen kann und auch nicht transportfähig ist. Zum Zeitpunkt der Beschwerde vor dem UN-Ausschuss konnte sie seit acht Jahren nicht mehr stehen, seit zwei Jahren war sie bettlägerig. Um die von Fachärzten als einzige therapeutische Möglichkeit empfohlene Wassertherapie zu erhalten, beantragte H. M. eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Therapieschwimmbades auf ihrem Grundstück. Dazu wollte sie ihr Haus um 63 Quadratmeter erweitern lassen. Die schwedische Behörde lehnte den Antrag wegen Verstoßes gegen den Bebauungsplan ab, da etwa 45 Quadratmeter der ausgewiesenen Fläche kein Bauland waren. Der Widerspruch gegen die Behördenentscheidung war erfolglos.

Das erstinstanzliche Gericht gab H. M. Recht, da ihre Interessen gemessen an der vorgesehenen Nutzung höher zu gewichten seien als das öffentliche Interesse, den Bebauungsplan einzuhalten. Das Schwimmbecken habe große Bedeutung für ihre Lebenssituation und -qualität und wirke sich kostenschonend auf ihre spätere Pflege aus. Schließlich sei ihr Umzug in ein anderes Haus oder eine Eichrichtung nicht möglich; somit bestehe keine Alternative zur Wassertherapie.

Das Berufungsgericht gab jedoch der Gemeinde im Jahr 2010 Recht, da keine  Abweichung vom Bebauungsplan geduldet werden könne. Die Revision von M. gegen diese Entscheidung wurde im August 2010 nicht zur Entscheidung angenommen.

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

H. M. reichte 2010 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf Artikel 1-5, 9, 10, 14, 19, 20, 25, 26 und 28 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention; BRK/CRPD) ein. Diese Vorschriften der BRK seien verletzt, da sie durch die Ablehnung ihrer Baugenehmigung durch schwedische Behörden und Gerichte wegen ihrer Behinderung diskriminiert werde, da die Behörden ihr Recht auf Chancengleichheit in den Bereichen der Rehabilitation und auf Verbesserung des Gesundheitszustandes nicht berücksichtigt hätten. Dieses Recht sowie ihr Recht - auch als „funktional behinderte Person" - auf eine angemessene Lebensqualität müssten das öffentliche Interesse an einer Einhaltung des Bebauungsplans überwiegen. H. M. brachte vor, dass die Abweichung für die Gesellschaft relativ klein sei, da man die Erweiterung von der Straße aus nicht sehen würde und die Nachbarn zugestimmt hätten, während sie für ihre Lebensqualität von überaus wichtiger Bedeutung sei. Sie legte medizinische Atteste vor, wonach es keine Alternative zur Wassertherapie in ihrem Haus gebe, da eine andere medizinische Behandlung nicht möglich sei und sie das Haus nicht verlassen könne. Ohne die Therapie sei die Gefahr groß, dass sie für eine unbestimmte Zeit bettlägerig bliebe und sich ihr Gesundheitszustand so verschlechtere, dass sie in eine Pflegeanstalt verlegt werden müsse.

Ihr Gesundheitszustand und der Grad ihrer Behinderung führten dazu, dass ihr Recht auf Rehabilitation aus Artikel 25 (Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit) und 26 BRK (Habilitation und Rehabilitation) nur durch Bewilligung des Antrags auf Baugenehmigung gewährleistet werden könne. H. M. führte aus, dass die restriktive Anwendung der nach außen hin neutralen Baugesetze und -verordnungen sich indirekt diskriminierend auf sie auswirke, da es keine Alternative gebe und die Behandlung absolut notwendig für ihren Gesundheitszustand sei. Eine "funktional behinderte Person" werde diskriminiert, wenn sie nicht die für ihre Situation geeignete Gesundheitsversorgung erhalte. Der Staat müsse einen angemessenen Ausgleich zwischen den beteiligten Rechten und Interessen schaffen; er könne sich nicht auf Gesundheitsgesetzgebung berufen, wenn durch Auslegung und Anwendung dieser Gesetze die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht erfüllt werden könnten (Rz. 3.1-3.4; 5.1-5.9).

Die schwedische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.

Die Beschwerde sei unzulässig, da sie gemessen an Artikel 2 Buchstabe e des fakultativen Zusatzprotokolls nicht hinreichend begründet worden sei (Rz. 4.9).

Die Beschwerde sei unbegründet, da der Ausschuss nur eine Verletzung feststellen könne, aber nicht die Befugnis habe, ein schwedisches Urteil oder eine schwedische Behörden-Entscheidung aufzuheben oder zu ersetzen. Die Regierung erläuterte, dass unter dem geltenden Baurecht Ausnahmen oder Befreiungen nur bei geringfügigen Abweichungen gewährt würden. H. M. habe nicht nachgewiesen, dass die Abweichung nur geringfügig gewesen wäre. Die Regierung führte aus, dass die Baugenehmigung nicht wegen der Behinderung abgelehnt worden sei und dass das Baurecht auf Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen angewendet werde. Deshalb seien weder die Vorschriften noch ihre Anwendung durch die schwedischen Behörden und Gerichte diskriminierend im Sinne des Artikels 5 BRK.

Artikel 19 BRK sei nicht verletzt, da in die Wohnortwahl von M. nicht eingegriffen werde. Niemand werde gezwungen, gemeindliche Maßnahmen anzunehmen. Es seien alternative Maßnahmen (zum Beispiel Wohnmodernisierungsbeihilfen, Haushaltshilfe, Assistenz) verfügbar, um Personen mit besonderen Bedürfnissen das Leben im eigenen Haus zu erleichtern.

Artikel 25 und 26 seien nicht verletzt, weil die Kreisbehörden zuständig für Gesundheits- und Rehabilitationsmaßnahmen seien. Die Baubehörden hätten damit nichts zu tun. Die schwedische Regierung ging davon aus, dass die Kreisbehörden H. M. entsprechend ihrer Bedürfnisse Behandlungsmöglichkeiten angeboten haben, da H. M. dies nicht widerlegt habe. Deshalb habe sie nicht angemessen begründet, dass ihr nur mit der Errichtung des Schwimmbades geholfen sei (Rz. 4.1-4.8; 4.10-4.16).

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 (Diskriminierungsverbot) und 3 (Bereitstellung angemessener Vorkehrungen) allein und in Verbindung mit Artikel 25 (Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit), Artikel 26 (Habilitation und Rehabilitation) allein und in Verbindung mit Artikel 3 Buchstaben b, d, e (allgemeine Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und der Chancengleichheit), Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe d (Verpflichtung, mit der BRK unvereinbare Handlungen oder Praktiken zu unterlassen) sowie Artikel 19 Buchstabe b BRK (Recht auf selbstbestimmte Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention; BRK/CRPD) fest.

Die Prüfung des Artikels 28 BRK (Recht auf angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz) hält er nicht mehr für erforderlich (Rz. 8.8-8.10).

Der Ausschuss empfahl der schwedischen Regierung, die Erteilung einer Baugenehmigung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Ausschusses erneut zu prüfen, H. M. angemessen zu entschädigen und Maßnahmen zu ergreifen, um erneute Verletzungen zu vermeiden (Rz. 9).

3.1 Zulässigkeit (Rz. 7.1-7.5)

Der Fachausschuss erklärt die Beschwerde für teilweise zulässig, da die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Artikel 3, 4, 5, 19, 25, 26 und 28 BRK ihre Beschwerdebefugnis hinreichend begründet habe.

Dagegen erklärt er die Beschwerde unter Artikel 1 und 2 BRK für unzulässig, da diese Vorschriften keine eigenständigen Rechte enthielten und deshalb nur im Zusammenhang mit anderen Rechten unter der BRK verletzt sein könnten. Ferner sei die Beschwerde unter Artikel 9 (Barrierefreiheit), 10 (Recht auf Leben), 14 (Freiheit und Sicherheit der Person) und 20 BRK (persönliche Mobilität) nicht hinreichend begründet worden und damit unzulässig (Artikel 2 Buchstabe e des fakultativen Zusatzprotokolls; Rz. 7.2-7.5).
 

3.2 Verweigerung „angemessener Vorkehrungen" als Diskriminierung (Artikel 5 Absatz 1 und 3 allein und in Verbindung mit Artikel 25 BRK, Artikel 26 allein und in Verbindung mit Artikel 3 Buchstaben b, d, e, Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe d BRK (Rz. 8.3-8.8))

Der Ausschuss stellt eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 25 BRK und gleichzeitig der staatlichen Verpflichtungen aus Artikel 26 BRK fest. Es liege eine Diskriminierung vor, weil die schwedischen Stellen es ablehnt hätten, „angemessene Vorkehrungen" im Sinne von Artikel 2 Absätze 3 und 4 BRK zu treffen.

Er legt zunächst dar, dass auch ein neutral angewendetes Gesetz diskriminierende Auswirkungen haben könne, wenn die besonderen Umstände der betroffenen Person nicht berücksichtigt werden. Deshalb liege eine Diskriminierung auch dann vor, wenn staatliche Stellen Personen in unterschiedlichen Situationen ohne vernünftige und objektive Rechtfertigung gleich behandelten (Rz. 8.3).

Bezugnehmend auf die Definition von Diskriminierung in Artikel 2 Absatz 3 und 4 BRK betont der Ausschuss, dass auch die Verweigerung von nicht unverhältnismäßigen oder unbilligen Vorkehrungen eine Diskriminierung darstelle ("angemessene Vorkehrungen"; Rz. 8.4). Angewendet auf den Fall stellt der Ausschuss fest, dass die Bewilligung einer Abweichung vom Bebauungsplan für das beantragte Schwimmbad die Voraussetzungen einer angemessenen Vorkehrung im Sinne des Artikels 2 BRK erfülle. Zunächst stelle der Bau eine "notwendige und geeignete Änderung und Anpassung" dar, die für Schweden "keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung" sei. Die Ablehnung der angemessenen Vorkehrung sei unverhältnismäßig und stelle deshalb eine Diskriminierung gegenüber der Beschwerdeführerin dar.

Der Ausschuss führt aus, dass der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin kritisch und der Zugang zu einem Schwimmbad zu Therapiezwecken nicht nur erforderlich sei, sondern die einzig effektive Behandlung darstelle. Schweden habe nicht dargelegt, dass das Abweichen vom Bebauungsplan in diesem Fall eine "unverhältnismäßige oder unbillige Belastung" gewesen wäre. Zudem seien Abweichungen nach dem schwedischen Baugesetz in Ausnahmefällen durchaus zulässig. Diese Ausnahmeregelung hätten die schwedischen Behörden und Gerichte entsprechend anwenden müssen, um die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen  bei der Ausübung aller Menschenrechte sicherzustellen (Rz. 8.5).

Die staatlichen Stellen hätten bei ihrer Ablehnung insbesondere die Umstände der Beschwerdeführerin und ihre besonderen Bedürfnisse aufgrund ihrer Behinderung nicht genügend beachtet. Unter Darlegung des Wortlauts von Artikel 25 und 26 BRK folgert der Ausschuss, dass H. M. somit durch die staatliche Ablehnung der Baugenehmigung der Zugang zur - für sie in ihrer besonderen Lage erforderlichen - Gesundheitsversorgung und Rehabilitation verwehrt werde (Rz. 8.6 f.).

3.3 Verletzung von Artikel 19 Buchstabe b BRK (Rz. 8.9)

Der Ausschuss stellt zudem eine Verletzung von Artikel 19 Buchstabe b BRK fest, da das Vorenthalten der Wassertherapie in ihrem eigenen Haus H. M. die einzige Möglichkeit nehme, innerhalb der Gemeinschaft zu leben und ihr Recht auf selbstbestimmte Lebensführung auszuüben.

Er führt aus, dass Schweden nach Artikel 19 Buchstabe b BRK verpflichtet sei, effektive und geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu fördern und ihre Isolierung zu verhindern. Dies schließe nach dem Wortlaut insbesondere den Zugang zu im Haus befindlichen und zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten einschließlich persönlicher Assistenz ein. Der Ausschuss beruft sich auf die unbestrittene Aussage von M., wonach sie ohne das Schwimmbad langfristig in ein spezialisiertes Pflegezentrum ziehen müsse. Er stellt fest, dass sie nur ein Leben innerhalb der Gemeinschaft führen könne, wenn die Baugenehmigung bewilligt werde. Artikel 19 Buchstabe b BRK wurde folglich verletzt.

3.4 Empfehlungen (Rz. 9)

Der Fachausschuss empfahl in Bezug auf M. die erneute Prüfung und Bescheidung des Bauantrages unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Ausschusses sowie die Zahlung einer angemessenen Entschädigung.

Allgemein sei Schweden verpflichtet, ähnliche Verletzungen in Zukunft zu verhindern. Deshalb müsse der Staat auch sicherstellen, dass seine Gesetze nicht das Ziel oder den Effekt haben, die gleichberechtigte Ausübung ihrer Rechte durch Menschen mit Behinderungen einzuschränken oder unmöglich zu machen.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In seiner ersten kurzen Entscheidung bestätigte der UN-CRPD, dass die Ablehnung angemessener Vorkehrung im Sinne des Artikels 2 Absatz 4 UN-BRK eine Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 BRK darstellt. Er erkennt stillschweigend auch an, dass eine chronische Krankheit mit schwerem Verlauf eine Behinderung darstellen kann. Der Ausschuss stellt klar, dass die Vertragsstaaten jedenfalls im Einzelfall verpflichtet sind, von bestehenden Ausnahmevorschriften - hier im Baurecht - durch angemessene Vorkehrungen Gebrauch zu machen, wenn es die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen erfordern und die Belastung für den Staat nicht unverhältnismäßig ist. Die Darlegungs- und Beweislast für die Unverhältnismäßigkeit oder Unbilligkeit einer Vorkehrung liegt damit beim Staat, sobald die beschwerdeführende Person ihren besonderen Bedarf nachgewiesen hat.

Die Argumentation des CRPD kann auch in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten mit deutschen Baubehörden an, die Ausnahmen oder Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht bewilligen.

5. Follow up (Stand: November 2013)

In ihrem Staatenbericht von September 2012 spricht die schwedische Regierung die Entscheidung nicht an (CRPD/C/SWE/1). Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen nahm in seiner 10. Sitzung im September 2013 eine "List of Issues" an, in der er nach konkreten Umsetzungsmaßnahmen fragt (CRPD/C/SWE/Q/1; Frage 13). Eine Antwort steht noch aus. Der schwedische Staatenbericht wird in der 11. Sitzung des Ausschusses (März/April 2014) begutachtet.

6. Entscheidung im Volltext:

CRPD_19.04.2012_H.M._v._Sweden_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)

Zum Seitenanfang springen