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CRPD, Mitteilung Nr. 10/2013 (SC vs. Brazil)

CRPD, Auffassungen vom 02.10.2014, S. C. gegen Brasilien

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.7)

S. C. leidet infolge von drei Motorradunfällen an einer Kniescheibenverletzung. Seit 2004 arbeitet sie für die BESC-Bank (BESC). Diese versetzte S. C. von Campinas (Brasilien) nach Florianópolis. Mit der Versetzung war ihre Beförderung zur Kassiererin bei der BESC verbunden. Ihr erster Motorradunfall ereignete sich im Juni 2006 und führte zu einer Verletzung ihres linken Knies. Wegen der Schwere dieser Verletzung kehrte sie erst nach zwei Monaten an ihren Arbeitsplatz zurück. Im September 2007 ereignete sich der zweite Motorradunfall, weswegen sie im Juni 2008 operiert wurde. Im Januar 2009 hatte S. C. einen dritten Motorradunfall. Bevor sie sich krankheitsbedingt beurlauben ließ, erwarb die Banco do Brasil die BESC. Diese informierte S. C. über ihre unternehmensinternen Richtlinien, wonach ihre krankheitsbedingten Fehlzeiten nicht einen Zeitraum von drei Monaten überschreiten dürften. Andernfalls würde sie ihre Position als Kassiererin verlieren. Sollte die krankheitsbedingte Fehlzeit drei Monate übersteigen, sahen die Richtlinien vor, dass der Banco do Brasil ein Ermessenspielraum zustehe, zu bestimmen, ob die Angestellten, je nach Krankheitsverlauf, innerhalb von drei oder sechs Monaten an ihren Arbeitsplatz zurückkehren dürfen. Der Gesundheitszustand von S. C. ließ es nicht zu, dass sie innerhalb von drei Monaten wieder zur Arbeit gehen konnte. Dies bestätigten medizinische Atteste, die von ihrem Arzt und einem Arzt der Banco do Brasil ausgestellt wurden. Als sie - vor Ablauf von sechs Monaten - zur Arbeit zurückkehrte, verlor sie ihre Position als Kassiererin. Sie blieb aber weiterhin bei der Banco do Brasil angestellt.

Im November 2009 stellte S. C. einen schriftlichen Antrag an die Banco do Brasil, dass sie zurück nach Campinas und damit näher an ihr Zuhause versetzt werden wolle. Ihre Versetzung sei schließlich nur mit ihrer Beförderung zur Kassiererin verbunden gewesen. Sie habe gesundheitliche Probleme, die es ihr erschwerten, den weiten Anfahrtsweg nach Florianópolis in Kauf zu nehmen. Auch sei sie weiterhin in Behandlung. Sie wolle auch nicht mehr mit ihrem Motorrad pendeln, die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel sei ihr jedoch zu zeitintensiv. Ihren Antrag lehnte die Banco do Brasil ab, da bereits zu viel Personal in Campinas arbeite und S. C. in Florianópolis einer Tätigkeit nachgehe, die ihren gesundheitlichen Zustand berücksichtige. Sie hebe keine Materialien, die 5 kg überschritten, müsse keine Treppen nehmen oder für längere Zeit sitzen oder stehen.

2010 hatte S. C. Muskelkrämpfe, wogegen ihr Muskelentspannungsmittel verschrieben wurden. Ihr Arzt attestierte S. C. im Dezember 2010, dass sie an einer chronischen Krankheit leide und deshalb keine weiten Strecken pendeln solle. Sie litt weiterhin unter Schmerzen und ließ sich krankheitsbedingt beurlauben. Anschließend nahm sie verschiedene Beschäftigungen bei der Banco do Brasil wahr. Die damit verbundenen Tätigkeiten beeinträchtigten ihre Gesundheit. Dazu zählten etwa der Ausfall des Fahrstuhls, als S. C. im zweiten Stock arbeitete, dass ihr Schreibtisch und ihre Tastatur nicht auf gleicher Höhe angebracht waren und ihr dreieinhalbstündiger Arbeitsweg.

Daraufhin legte S. C. im Februar 2011 Klage gegen ihren Arbeitgeber ein. Sie führte aus, dass ihre Zurückstufung aufgrund ihrer mehr als dreimonatigen Fehlzeit verfassungswidrig sei und überdies diskriminierend, da die internen Richtlinien nur auf Personen anwendbar seien, die mehr als drei Monate krankheitsbedingt abwesend seien. Ein medizinisches Attest bestätige, dass sie aufgrund ihres linken Knies eine dauerhafte Behinderung habe, die mit einem moderaten Funktionsverlust einhergehe. Deshalb sei es ihr dauerhaft nicht möglich, der Tätigkeit nachzugehen, die sie damals bei der Banco do Brasil ausgeübt habe. Sie sei aber imstande, einer Beschäftigung nachzugehen.

Das erstinstanzliche Gericht gab S. C. im Mai 2011 nicht Recht. Ihre Versetzung nach Florianópolis sei freiwillig erfolgt und habe sie nicht benachteiligt. Sie habe den internen Richtlinien zugestimmt und es falle in den Verantwortungsbereich der Bank, über Beförderungen und Zurückstufungen zu entscheiden. Weiterhin führte das Gericht aus, dass die Richtlinien gleichermaßen auf alle Beschäftigten anwendbar seien, weshalb keine Diskriminierung vorliege.

Ihre Berufung und Revision wurden im Juli beziehungsweise Dezember 2011 nicht zur Entscheidung angenommen. Vor dem brasilianischen Bundesarbeitsgericht besteht Anwaltszwang. S. C. legte aber Revision ohne einen Rechtsbeistand ein. Ihr Antrag auf Prozesskostenhilfe war im Oktober 2011 abgelehnt worden und der Rechtsanwalt ihrer Wahl hatte die Übernahme ihres Mandats abgelehnt. S. C. legte sodann erneut Revision ein. Dieses Mal fügte sie eine Kopie bei, die bestätigte, dass sie ihre Klage bei der nationalen Anwaltskammer eingereicht habe. Das Bundesarbeitsgericht teilte S. C. im Januar 2012 mit, dass es die Revision nicht zur Entscheidung annehme.

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

S. C. reichte 2012 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf die Artikel 3, 4, 5 und 27 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein, weil sie aufgrund der internen Richtlinien der Banco Brasil wegen ihrer Behinderung benachteiligt worden sei.

Die Vorschriften der Artikel 3 Buchstaben b und e BRK (Allgemeine Grundsätze) und Artikel 5 Absatz 1 und 2 BRK (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung) seien verletzt, da die Maßnahmen, die die Banco do Brasil gegen sie ergriffen habe, und die Gerichte, die diese Maßnahmen durch ihre Urteile bestätigt hätten, nur darauf abzielten, Menschen mit Behinderungen, wie sie, in ihren Möglichkeiten einzuschränken. Daher verstießen die Richtlinien und die Entscheidungen der Gerichte gegen die BRK.

Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben a, b, c und e BRK (Allgemeine Verpflichtungen) seien verletzt, da die Banco do Brasil die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen fördere. Sie verlange die Zurückstufung von Beschäftigten, die krankheitsbedingt mehr als drei beziehungsweise sechs Monate ihrem Arbeitsplatz fernblieben. Daraus folgerte S. C., dass die Banco do Brasil nur gesunden Mitarbeiter*innen erlaube, in ihrer Position zu bleiben. Dies verletze zudem Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe e BRK, da die Banco do Brasil sowohl eine private als auch eine staatliche Bank sei.

Die Vorschrift des Artikels 27 Absatz 1 Buchstabe a BRK (Schutz vor Diskriminierung im Zusammenhang mit einer Beschäftigung) sei verletzt, da ihre Diskriminierung im Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung und ihren Arbeitsbedingungen stehe. Auch sei eine Verletzung des Artikels 27 Absatz 1 Buchstabe b BRK (gerechte und günstige Arbeitsbedingungen) erfolgt, da ihr aufgrund ihrer Behinderung nicht dieselben Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten wie ihren Kolleg*innen gewährt worden seien, obwohl sie dieselben Qualifikationen wie diese gehabt habe. Die Banco do Brasil habe ihr nicht erlaubt, ihre Tätigkeit als Kassiererin in Campinas fortzusetzen. Dort seien laut der Bank zu dieser Zeit zu viele Kassierer*innen beschäftigt gewesen. Zwei andere Mitarbeiter*innen, von denen eine aus dem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt sei, hätten dort aber ihre Arbeit als Kassierer*innen fortsetzen dürfen (Rz. 3.1-3.5).

Die brasilianische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig zurück.

Die Beschwerde sei ratione materiae, also hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs der Konvention, unzulässig, da S. C. keine Behinderung im Sinne der BRK habe. Eine Behinderung im Sinne des Artikels 1 BRK sei eine langfristige Sinnesbeeinträchtigung, wogegen S. C. nur für einen bestimmten Zeitraum unfähig sei, ihre Beschäftigung auszuüben. Dieser Schluss lasse sich aus den Untersuchungen des Instituts für Sozialhilfe (INSS) ziehen, einer staatlichen Einrichtung, zuständig für die Vergabe von Beihilfen für Menschen mit Behinderungen,. S. C. war berechtigt, aufgrund ihrer Motorradunfälle Krankengeld für insgesamt vier Monate im Zeitraum von 2007 bis 2012 zu beziehen. Die Bewilligung des Krankengeldes für einen solch kurzen Zeitraum mache deutlich, dass das INSS davon ausgegangen sei, dass sich S. C. von ihrer Krankheit wieder erholen würde. Auch die medizinischen Atteste von S. C., ausgestellt durch das INSS, bestätigten, dass sie nur als vorübergehend arbeitsunfähig angesehen worden sei. Daneben habe sie kein ärztliches Attest eingereicht, um ihre Behinderung nachzuweisen. Dies wäre aber erforderlich gewesen, um einen Anspruch auf Krankengeld geltend machen zu können.

Der Ausschuss sei ferner nicht für die Beschwerde zuständig, da diese bereits ausreichend durch brasilianische Gerichte erörtert worden sei. Nach brasilianischem Prozessrecht falle es nicht in die Zuständigkeit internationaler Organisationen, vermutete Tatsachen- und Rechtsirrtümer brasilianischer Gerichte zu untersuchen. Dies ändere sich nur dann, wenn es zu einer schwerwiegenden Verletzung internationaler Menschenrechtsstandards im innerstaatlichen Rechte komme.

Weiterhin sei die Beschwerde unzulässig, da S. C. nicht alle ihr zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Sie habe nur Rechtsbehelfe hinsichtlich der Kürzung ihres Gehalts wegen ihrer Versetzung, nicht aber hinsichtlich ihrer Zurückstufung vor brasilianischen Gerichten eingelegt (Rz. 4.1-4.3).

S. C. trug vor, dass die Beschwerde zulässig sei. Sie habe eine Behinderung im Sinne des Artikels 1 BRK. Dies bestätige das medizinische Attest, das durch das Institut für forensische Medizin ausgestellt worden sei (Rz. 5.1).

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Der Fachausschuss erklärte sich für unzuständig im Sinne des Artikels 2 Buchstabe d BRK (Rz. 6.1).

3.1 Zulässigkeit (Rz. 6.1-6.5)

Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für unzulässig, da die Beschwerdeführerin nicht alle ihr zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe.

Der Ausschuss erklärte die Beschwerde zunächst ratione materiae, also bezogen auf die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs der BRK, für zulässig. Insbesondere liege hier eine Behinderung im Sinne des Artikels 1 BRK vor. Danach zählten zu den Menschen mit Behinderungen auch Personen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Der Ausschuss führte aus, dass der Unterschied zwischen Krankheit und Behinderung im Ausmaß und nicht in der Bezeichnung liege. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die zunächst als Krankheit angesehen werde, könne sich aufgrund ihrer zeitlichen Dauer oder Chronizität zu einer Beeinträchtigung im Sinne einer Behinderung entwickeln. Der Ausschuss folgerte aus der Präambel Absatz e und Absatz i BRK, dass der Behinderungsbegriff in einem menschenrechtlichen Kontext gesehen werden müsse, was einschließe, die Vielfalt der Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Weiterhin verwies der Ausschuss auf Artikel 4 Absatz 4 BRK, wonach Übereinkommen, die zur Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen besseren Schutz gewährten und auf den jeweiligen Vertragsstaat anwendbar seien, unberührt blieben. Dazu zähle vorliegend die Interamerikanische Konvention zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung gegen Menschen mit Behinderungen. Diese definiere den Begriff „Behinderung“ als eine körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigung, die verhindere, eine oder mehrere wesentliche Tätigkeiten des täglichen Lebens auszuüben und welche durch die soziale oder wirtschaftliche Umgebung verursacht oder verschlechtert werden könne. Dabei könne es sich um eine längerfristige oder vorübergehende Beeinträchtigung handeln. Daraus schloss der Ausschuss, dass es vorliegend nicht darauf ankomme, ob S. C. eine dauerhafte oder nur eine temporäre körperliche Beeinträchtigung habe. Ihre Beeinträchtigung, in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren, hindere S. C. jedenfalls daran, dass sie voll, wirksam und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben könne.

Die Beschwerde sei auch nicht offensichtlich unbegründet. Die Beschwerde beschäftige sich mit der Frage, ob S. C. die Zurückstufung im Fall einer mehr als 90 Tage andauernden krankheitsbedingten Beurlaubung unverhältnismäßig schwer treffe (Artikel 2 Buchstabe e des fakultativen Zusatzprotokolls).

Die Beschwerde sei aber unzulässig, da S. C. nicht alle ihr zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Die Revision sei deshalb nicht zur Entscheidung angenommen worden, da vor dem Bundesarbeitsgericht Anwaltszwang bestehe und S. C. sich dort selbst vertreten habe. Nachdem ihr Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt worden sei, habe sie aber nur einen Rechtsanwalt aufgesucht und nicht weitere Optionen für ihre Vertretung vor Gericht in Erwägung gezogen.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In seiner Entscheidung machte der UN-CRPD deutlich, dass eine Mitteilung unzulässig ist, wenn nicht alle zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft wurden. Dies gilt auch dann, wenn das letztinstanzliche Gericht deshalb nicht zur Sache entscheidet, weil die Beschwerdeführer*in nicht den Anwaltszwang am Gericht befolgt hat. Allein die Ablehnung des Antrags auf staatliche Kostenhilfe genügt in diesem Zusammenhang nicht, um den Ausschuss anrufen zu können. Vielmehr müssen weitere Anstrengungen unternommen werden, um eine anwaltliche Vertretung zu finden. Der UN-CRPD ließ offen, ob eine Beschwerde zulässig sein kann, wenn substanziiert darlegt wird, weshalb dem Anwaltszwang nicht entsprochen werden konnte.

Der UN-CRPD hob hervor, dass auch eine permanente oder chronische Erkrankung als Beeinträchtigung im Sinne des Artikels 1 BRK angesehen werden kann. Weiterhin verwies er darauf, dass im Einklang mit Artikel 4 Absatz 4 BRK bei der Auslegung der BRK jederzeit besser geeignete Bestimmungen aus anderen UN-Übereinkommen herangezogen werden können. Dies setzt voraus, dass der Beschwerdegegner diese gezeichnet und ratifiziert hat.

Die Argumentation des CRPD kann zum Beispiel in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten an, wenn unklar ist, ob eine „Behinderung“ vorliegt.

5. Entscheidung im Volltext:

CRPD_02.10.2014_SC_v._Brazil_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)

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