Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

Beschwerdenummer 9375/02

EGMR, Urteil vom 09.10.2007, Beschwerdenummer 9375/02, Saoud gegen Frankreich

1. Sachverhalt

1.a) Hintergrund

Die Beschwerdeführenden sind die Familienangehörigen eines während eines Polizeieinsatzes verstorbenen Mannes, Mohamed Saoud (M. S.). Er litt an Schizophrenie. Es wurde bei ihm nach französischem Recht eine Behinderung von 80 Prozent festgestellt.

Am 20. November 1998 wurde der örtlichen Polizei in Toulon per Telefon mitgeteilt, dass der damals 26-jährige M. S. gewalttätig gegen seine Mutter und seine beiden jüngeren Schwestern sei. Die Polizei wurde bei ihrem Eintreffen von der Familie darauf hingewiesen, dass M. S. psychisch krank sei und beruhigt werden müsse. Während des Einsatzes entwickelte sich ein Kampf zwischen dem gewalttätigen M. S. und den Polizeibeamten. Die Polizisten brachten ihn am Boden in Bauchlage, um ihn zu fixieren. Seine Hände und Füße wurden in Handschellen gelegt. Die Einsatzkräfte beschlossen, auf den Notarzt zu warten und verabreichten M. S. für die Zwischenzeit ein beruhigendes Medikament. Die gesamte Wartezeit von etwa 35 Minuten wurde er mit Gewalt am Boden in dieser Stellung, in der er kaum Luft bekam, festgehalten. Nach der Ankunft des Notarztes stellte sich heraus, dass bei M. S. ein Herz-Kreislauf-Stillstand eingetreten war. Die Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Die Autopsie offenbarte, dass die Todesursache Ersticken als Folge der Fixierung am Boden war.

1.b) Verfahrensgeschichte (innerstaatlich)

Die Beschwerdeführenden erstatteten Strafanzeige wegen Mordes an einer besonders verletzlichen Person. Das Strafverfahren wurde jedoch mit der Begründung eingestellt, es sei kein fahrlässiges Verhalten seitens der Polizeibeamten festzustellen.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Die Beschwerdeführenden rügten eine Verletzung von Art. 2 (Recht auf Leben) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie behaupteten, dass die Sorglosigkeit der Einsatzkräfte sowie die fehlende medizinische Versorgung zum Tod ihres Angehörigen geführt hätten. Die Beschwerdeführenden rügten außerdem, dass das durchgeführte Strafverfahren kein faires Verfahren im Sinne des Art. 6 EMRK (Recht auf faires Verfahren) gewesen sei.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof erklärte zunächst, dass Art. 2 EMRK in keinem Fall eine absichtliche Tötung erlaubt. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift kann eine Tötung allerdings in Fällen gerechtfertigt werden, in denen die dafür ursächliche Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war, um jemanden gegen rechtwidrige Gewalt zu verteidigen (Abs. 2 a) oder um jemanden rechtmäßig festzunehmen (Abs. 2 b). In dem vorliegenden Fall diente der Einsatz der Polizei dem Schutz der Mutter und der Schwestern des gestorbenen M. S. Auch die Festnahme und Anwendung von Gewalt gegenüber M. S. seien angesichts seines aggressiven und gewalttätigen Verhaltens erforderlich gewesen. Allerdings stellte der Gerichtshof fest, dass der Staat dessen ungeachtet seiner Verpflichtung zum Schutz festgenommener Personen nicht nachgekommen ist.

Dabei stützte sich der EGMR auf folgende Erwägungen: Nachdem M. S. an Händen und Füßen gefesselt worden war, stellte er keine Gefahr für die Umgebung mehr dar. Gleichwohl hatten die Polizisten seinen Gesundheitszustand im Laufe der Wartezeit nicht nachgeprüft. Darüber hinaus hat der Gerichtshof auch darauf hingewiesen, dass die angewandte Festhaltetechnik von dem Anti-Folter-Komitee des Europarates als besonders gefährlich angesehen wird. Des Weiteren merkte der EGMR kritisch an, dass es keine präzisen Instruktionen zur sicheren Handhabung dieser gefährlichen Festhaltetechnik gab.

Der Gerichtshof bejahte auch eine Verletzung von Art. 6 EMRK. Das innerstaatliche Verfahren sei nicht gerecht gewesen, da es dem Rechtsanwalt, der den Beschwerdeführenden im Rahmen der Prozesskostenhilfe zugeteilt wurde, objektiv unmöglich war, einen ergänzenden Schriftsatz fristgerecht abzugeben, da er erst ernannt wurde, als die gesetzliche Frist bereits abgelaufen war.

4. Bedeutung der Entscheidung

Der Gerichtshof sah in dem vorliegenden Fall das Recht auf Leben verletzt, da der Staat seine Verpflichtungen zum Schutz eines psychisch kranken Mannes nicht erfüllt habe. Der EGMR hat diese Verpflichtungen in dem vorliegenden Fall im Kontext des Rechts auf Leben geprüft. Derartige staatliche Verpflichtungen sind jedoch auch im Rahmen anderer Konventionsrechte relevant. Insbesondere bei der Festnahme schutzbedürftiger Personen trägt der Staat eine besondere Verantwortung. Der Staat muss die Sicherheit einer solchen Person durch angemessene Maßnahmen gewährleisten. Dazu gehören präventive Maßnahme wie zum Beispiel Ausbildung und Schulung der Beamtinnen und Beamten. Dem Staat obliegt es auch, eine ausreichende ärztliche Versorgung sicherzustellen.

Derartige Schutzpflichten der Vertragsstaaten speziell gegenüber Menschen mit Behinderungen sind auch in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) benannt. Neben den Schutzpflichten nach Artikel 10 (Recht auf Leben) und Artikel 17 (Schutz der Unversehrtheit der Person) besteht beispielsweise nach Artikel 16 Absatz 1 UN-BRK die Verpflichtung der Staaten, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial-, Bildungs- und sonstigen Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen vor Gewalt zu schützen.

Entscheidung im Volltext:

Zum Seitenanfang springen