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Beschwerdenummer 6253/03

EGMR, Urteil vom 24.10.2006, Beschwerdenummer 6253/03, Vincent gegen Frankreich

1. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, Olivier Vincent (O. V.), ist querschnittsgelähmt. Er kann sich nicht ohne Rollstuhl bewegen. Im November 2002 wurde gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet und er wurde in Untersuchungshaft genommen. 2006 wurde O. V. zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Seine Untersuchungshaft verbrachte er in mehreren Gefängnissen, die zum Teil nicht behindertengerecht ausgestattet waren.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

O. V. reichte, nachdem er alle Beschwerdemöglichkeiten vor den nationalen Behörden ausgeschöpft hatte, eine Beschwerde über die Haftbedingungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Er rügte die Verletzung von Art. 3 (Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Er brachte unter anderem vor, dass die Gefängnisse und deren Zellen nicht für Rollstuhlfahrer ausgelegt seien und dass er mehrere Probleme im täglichen Leben erfahren habe. O. V. führte beispielsweise an, dass im Gefängnis Fresnes, wo er im Jahr 2003 vier Monate verbracht hatte, die Türen so eng gewesen seien, dass er mit seinem Rollstuhl nicht durch die Tür fahren konnte. Folglich sei er auf die Hilfe anderer Personen angewiesen gewesen. Hinsichtlich anderer Gefängnisse beklagte er unter anderem, dass ihm die Bibliothek aufgrund seiner Behinderung nicht ohne Unterstützung zugänglich gewesen sei. Darüber hinaus machte er eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) geltend. Hierzu führte er aus, dass er nur mit fremder Hilfe die Räume erreichen konnte, in denen Gottesdienste oder religiöse Andachten stattfanden.

3. Entscheidung des EGMR

Die meisten Beschwerden von O. V. bezüglich seiner Haftbedingungen wurden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Unannehmlichkeiten, denen er sich ausgesetzt sah, nicht den Schweregrad erreichten, um als erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zu gelten. Hierzu führte der EGMR aus, dass die Haftbedingungen mit der Menschenwürde der oder des Gefangenen vereinbar sein müssen, was bedeutet, dass sie nicht mehr Leid verursachen dürfen, als mit einer Haft normalerweise verbunden sind. Diese Grenze hat der Gerichtshof in den meisten Aspekten als nicht überschritten angesehen.

In Bezug auf das Gefängnis Fresnes hat der EGMR allerdings der Beschwerde stattgegeben. Die dortigen Haftbedingungen für O. V. hat der Gerichtshof als erniedrigende Behandlung und damit als Verletzung von Art. 3 EMRK gewertet. Ausschlaggebend hierfür war für den Gerichtshof Folgendes: Die Zelle selbst war zwar behindertengerecht eingerichtet, aber O. V. konnte weder allein die Zelle verlassen, noch sich in dem Gebäude frei bewegen. Die Tatsache, dass er, um die Zelle zu verlassen, herausgetragen und sein Rollstuhl zusammengeklappt werden musste, machte ihn von anderen abhängig. Der EGMR stellte fest, dass die Inhaftierung einer behinderten Person in einer Einrichtung, in welcher die oder der Betroffene sich nicht bewegen kann und insbesondere seine Zelle nicht selbständig verlassen kann, eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellt.

Die Beschwerde von O. V. hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit wurde vom EGMR wiederum als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Dass ihm Hilfe angeboten wurde, um an den Gottesdiensten teilzunehmen, und dass auch ein Pfarrer ihn in seiner Zelle besuchte, hat der Gerichtshof im Hinblick auf die Religionsfreiheit als ausreichend angesehen.

4. Bedeutung der Entscheidung

Der EGMR betont in seinem Urteil die Verpflichtung der Staaten, behinderten Strafgefangenen Bedingungen zu gewährleisten, die deren Bedürfnissen entsprechen. Laut dieser Entscheidung ist es beispielsweise erniedrigend für einen Rollstuhlfahrer oder eine Rollstuhlfahrerin, wenn die Zellen und Gefängnisse, in denen er bzw. sie die Haft verbringen muss, nicht rollstuhlgerecht sind und er bzw. sie damit faktisch immer auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Dieses Urteil entspricht früheren Entscheidungen des Gerichtshofes (EGMR, Urteil vom 02.12.2004, Beschwerdenummer 4672/02, Farbtuhs gegen Lettland; EGMR, Urteil vom 10.07.2001, Beschwerdenummer 33394/96, Price gegen Vereinigtes Königreich). Es bestätigt, dass die betreffende Behandlung nicht vorsätzlich erfolgt sein muss, um als erniedrigend gewertet zu werten und damit gegen Artikel 3 zu verstoßen, und dass die Inhaftierung eines Menschen mit Behinderungen ausreichende Vorkehrungen verlangt.

Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet in ihren Artikeln 5 (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung), 14 (Freiheit und Sicherheit der Person) und 15 (Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) die Staaten ebenfalls, inhaftierten Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen bereitzustellen und sie im Einklang mit den Menschenrechten zu behandeln.

Entscheidung im Volltext:

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