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Beschwerdenummer 61603/00

EGMR, Urteil vom 16.06.2005, Beschwerdenummer 61603/00, Storck gegen Deutschland

1. Sachverhalt

1.a) Hintergrund

Der Fall betrifft die wiederholte Unterbringung der Beschwerdeführerin, Waltraud Storck (W. S.), in einer psychiatrischen Privatklinik, ihren Aufenthalt im Universitätsklinikum Mainz, ihre medizinische Behandlung und verschiedene von ihr erhobene Schadenersatzklagen. W. S. ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100.

Von Juli 1977 (W. S. war damals 18 Jahre alt und damit volljährig) bis April 1979 wurde sie auf Veranlassung ihres Vaters auf einer geschlossenen Station in einer psychiatrischen Privatklinik untergebracht. Sie hatte nicht eingewilligt. Die Unterbringung war auch nicht vom Gericht genehmigt worden. Während ihrer Zwangsunterbringung war es ihr verwehrt, soziale Kontakte zu Personen außerhalb der Klinik aufrecht zu erhalten, zudem führte die medizinische Behandlung in der Klinik zu einer Verschlechterung ihrer Gesundheit. Sie versuchte mehrfach zu fliehen, jedoch erfolglos. Von Januar bis April 1981 wurde sie erneut in der gleichen Privatklinik untergebracht. Danach wurde sie in mehreren Kliniken und Krankenhäusern, unter anderem im Universitätsklinikum Mainz, zum Teil stationär behandelt.

1994 erstellte ein Professor für Pädopsychiatrie an der Universität Gießen auf ihre Bitte hin ein Gutachten, in dem er zu dem Ergebnis kam, dass bei W. S. „zu keinem Zeitpunkt (…) eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ vorgelegen habe und dass ihr Verhalten aus familiären Konflikten herrühre. 1999 wurde dieser Befund in einem zweiten psychiatrischen Gutachten bestätigt. Darin hieß es außerdem, dass W. S. sich zur fraglichen Zeit lediglich in einer „Pubertätskrise“ befunden, durch die damalige Fehldiagnose aber über viele Jahre hinweg Medikamente erhalten habe, deren nachteilige Nebenwirkungen bekannt gewesen seien. Stattdessen hätte sie wegen einer früheren Kinderlähmung mit der größten Vorsicht behandelt werden müssen.

1.b) Verfahrensgeschichte (innerstaatlich)

Im Jahr 1997 erhob W. S. beim zuständigen Landgericht Klage auf Zahlung von Schadenersatz gegen die Privatklinik, in der sie in den Jahren 1977 bis 1979 und 1981 zwangsuntergebracht worden war. Sie stützte sich auf das Gutachten von 1994 und berief sich darauf, dass die Einweisungen gegen ihren Willen rechtswidrig gewesen seien und die vorgenommene medizinische Behandlung ihre körperliche und geistige Gesundheit ruiniert habe. Ihrer Klage wurde zunächst vom Landgericht stattgegeben; allerdings wurde das Urteil, nachdem die Klinik dagegen Berufung eingelegt hatte, in zweiter Instanz durch das Oberlandesgericht aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht entschied unter anderem, dass ihre Schadenersatzansprüche mit dreijähriger Frist bereits verjährt seien. Das Oberlandesgericht ging in seiner Begründung auch davon aus, dass W. S. stillschweigend einen Behandlungsvertrag mit der Klinik geschlossen hatte. Die medizinische Behandlung selbst erachtete das Gericht nicht als fehlerhaft. Dabei stützte es sich auf ein ärztliches Gutachten, das sowohl schriftlich als auch mündlich während der Verhandlung vorgestellt wurde.

In einem anderen Verfahren klagte W. S. gegen das Universitätsklinikum Mainz, weil sie dort wegen psychosomatischer Symptome behandelt worden sei, während sie in Wirklichkeit an einem Post-Polio-Syndrom gelitten habe. Diese Klage wurde mit der Begründung abgewiesen, es sei nicht ausreichend bewiesen worden, dass ihr Post-Polio-Syndrom und ihre gleichzeitigen psychischen Erkrankungen nicht richtig behandelt wurden.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

W. S. machte in ihrer Beschwerde vor dem EGMR eine Verletzung ihres Rechts auf Freiheit (Art. 5 EMRK) in Bezug auf ihre Zwangsunterbringung und des Rechts auf Privatsphäre (Art. 8 EMRK) in Bezug auf die medizinische Behandlung geltend. Darüber hinaus rügte sie, dass beide Gerichtsverfahren ihr Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) verletzt hätten.

3. Entscheidung des EGMR

a) Das Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK)

Der Gerichtshof hat die Prüfung, ob Art. 5 Abs. 1 EMRK verletzt wurde, in Bezug auf zwei Zeiträume unterteilt. Zunächst hat sich der EGMR mit dem Aufenthalt von W. S. in der Privatklinik von Juli 1977 bis April 1979 befasst. Er prüfte, ob es sich hierbei um eine Freiheitsentziehung gehandelt hatte. Der Gerichtshof erinnerte daran, dass bei der Beurteilung immer von der besonderen Situation der betroffenen Person auszugehen sei und die verschiedenen Faktoren wie Art, Dauer, Wirkung und Form der Durchführung der jeweiligen Maßnahme zu berücksichtigen seien. In dem vorliegenden Fall war W. S. gegen ihren Willen auf einer geschlossenen Station untergebracht worden, wo sie ununterbrochen kontrolliert und überwacht wurde. Sie durfte die Klinik nicht verlassen und konnte keine sozialen Kontakte außerhalb der Klinik pflegen. Ihre Fluchtversuche wertete der EGMR als Indiz dafür, dass W. S. in die Unterbringung nicht wirksam eingewilligt hatte. Eine Freiheitsentziehung war in Anbetracht all dessen nach Ansicht des EGMR zweifellos zu bejahen.

Als zweites befasste sich der Gerichtshof mit der Frage, ob diese Freiheitsentziehung dem Staat zuzurechnen ist. Die deutsche Regierung hatte dazu unter anderem vorgebracht, dass W. S. nicht in einer staatlichen, sondern in einer privaten Klinik untergebracht worden war und es keine staatliche Anordnung für diese Unterbringung gegeben habe. Der Gerichtshof erklärte dazu, dass ein Staat in dreierlei Hinsicht für eine Unterbringung zur Verantwortung gezogen werden könne: Erstens, wenn deutsche Behörden unmittelbar an der Unterbringung mitgewirkt haben; zweitens, wenn die Gerichte in Zivilverfahren die zivilrechtlichen Bestimmungen über Schadenersatzansprüche nicht im Einklang mit Artikel 5 angewandt haben, oder drittens, wenn der Staat seine positive Verpflichtung verletze, Personen vor Eingriffen durch Private zu schützen. Der Gerichtshof hat im Fall von W. S. alle drei Alternativen bejaht: Die Polizei habe erstens aktiv an der Freiheitsentziehung mitgewirkt, da sie die W. S. nach ihren Fluchtversuchen in die Privatklinik zurückbrachte. Das Oberlandesgericht habe zweitens die zivilrechtlichen Bestimmungen zur Verjährung nicht im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 EMRK ausgelegt. Insbesondere habe das Gericht dem Gesundheitszustand von W. S. und der Tatsache, dass ihr starke Medikamente verabreicht worden waren, nicht genügend Rechnung getragen. Der EGMR sah auch die Feststellung des Oberlandesgerichts als willkürlich an, dass es eine vertragliche Beziehung zwischen W. S. und der Klinik gegeben habe, obwohl sie sich erkennbar gegen ihren Aufenthalt gewehrt hatte. Darüber hinaus sei, drittens, der Staat seiner Verpflichtung nicht nachgekommen, W. S. vor Eingriffen in ihre Freiheit durch Private zu schützen: Der Staat müsse auch private psychiatrische Kliniken überwachen und kontrollieren. Eine Aufsicht, die sich wie hier nur auf das Erteilen einer Konzession für das Führen einer Privatklinik beschränke, reiche nicht aus, um den Schutz vor rechtswidrigen Freiheitsentziehungen in einer solchen Klinik sicherzustellen.

Art. 5 EMRK gestattet eine Freiheitsentziehung nur, wenn die in dieser Vorschrift enthaltenen Voraussetzungen erfüllt sind. Da die Unterbringung von W. S. in der Privatklinik in der Zeit von 1977 bis 1979 nicht durch Gerichtsbeschluss genehmigt worden war, sei ihre Freiheitsentziehung bereits aus diesem Grund nicht rechtmäßig gewesen und daher ihr Recht auf Freiheit nach Art. 5 EMRK verletzt worden.

Die weitere Prüfung bezog sich auf den zweiten Aufenthalt in der Privatklinik von Januar bis April 1981. Hier gelangte der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Aufenthalt von W. S. in diesem Fall nicht gegen ihren Willen und nicht ohne ihre Einwilligung stattgefunden hatte. Der EGMR stützte sich dabei auf die Tatsache, dass W. S. diesmal aus eigenem Antrieb in der Klinik erschienen sei und kein Fluchtversuch aus der Klinik festgestellt wurde. Daher stellte der EGMR in diesem Zeitraum keine Freiheitsentziehung fest.

b) Das Recht auf Achtung der Privatsphäre (Art. 8 EMRK)

Der EGMR prüfte anschließend, ob W. S. auch in ihrem Recht aus Art. 8 EMRK auf Achtung der Privatsphäre verletzt worden war. Dazu stellte der Gerichtshof fest, dass eine medizinische Behandlung ein Eingriff in dieses Recht ist, wenn sie gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt wird. Der EGMR unterteilte seine diesbezügliche Prüfung in die drei unterschiedlichen Klinikaufenthalte. Eine Verletzung stellte der Gerichtshof nur in Bezug auf den ersten Aufenthalt in der Privatklinik fest. Hier wiederholte er die gleichen Argumente, die auch bei Art. 5 EMRK eine Rolle spielten: Die Behörden hätten an der medizinischen Behandlung mitgewirkt, dadurch dass die Polizei W. S. gewaltsam in die Klinik zurückgebracht hatte; die Auslegung der maßgeblichen Vorschriften zu dem Schadenersatzanspruch sei nicht im Sinne von Art. 8 EMRK erfolgt; und darüber hinaus sei der Staat seiner positiven Verpflichtung nicht nachgekommen, angemessene und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht von W. S. auf Achtung ihres Privatlebens zu gewährleisten und zu schützen. Der Staat hätte die private psychiatrische Einrichtung überwachen und kontrollieren müssen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK sind Eingriffe in das Recht auf Achtung der Privatsphäre nur dann gerechtfertigt, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und zur Verfolgung eines legitimen Ziels notwendig sind. Da für die Unterbringung in dem Fall keine gerichtliche Anordnung vorlag, die nach dem deutschen Recht erforderlich gewesen wäre, war bereits diese Voraussetzung nicht erfüllt und damit Art. 8 EMRK verletzt.

Hingegen seien der spätere Aufenthalt in der Klinik im Jahr 1981 sowie die Behandlung in der Universitätsklinik Mainz keine Verletzungen ihres Rechts auf Achtung ihrer Privatsphäre gewesen, weil W. S. in beide Aufenthalte eingewilligt habe.

c) Das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK)

Als nächstes ging der EGMR auf die Ausführungen von W. S. in Bezug auf Art. 6 EMRK ein. Sie hatte gerügt, die Gerichte hätten die für ihre Schadenersatzansprüche maßgeblichen Rechtsvorschriften zu eng ausgelegt und die Beweise fehlerhaft bewertet. Der EGMR konnte jedoch keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren feststellen. Er erinnerte daran, dass Ziel und Zweck des Art. 6 EMRK darin liegt, zu prüfen, ob das Verfahren insgesamt fair war und ob das Prinzip der Waffengleichheit gewährleistet wurde. W. S. habe an dem Verfahren aktiv teilnehmen und Fragen stellen sowie ihre Beweise präsentieren können. Der vom Gericht bestellte Sachverständige habe seine Aufgabe erfüllt, ein überzeugendes ärztliches Gutachten erstellt, und sei ebenfalls durch das Gericht angehört worden.

4. Bedeutung der Entscheidung

Das Urteil betont den Umfang der staatlichen Schutz- und Gewährleistungspflichten gegenüber Personen, die in privaten Einrichtungen untergebracht werden.

Der EGMR hat in seiner Entscheidung drei voneinander unabhängige Kriterien benannt, die eine Verantwortung des Staates begründen können. So kann etwa bereits ein polizeilicher Einsatz dafür ausreichen, dass eine eigene Mitwirkung des Staates an einer Zwangsunterbringung und an einer damit zusammenhängenden medizinischen Behandlung vorliegt. Der Gerichtshof sah auf diese Weise eine direkte Verbindung zwischen der Rechtsverletzung durch einen privaten Akteur – hier die Privatklinik - und den Handlungen des Staates.

Die Entscheidung macht daneben auch deutlich, dass ein Staat seine Pflichten aus der EMRK auch dann verletzt, wenn er seinen positiven Verpflichtungen nicht nachkommt, die betroffene Person vor Rechtsverletzungen durch Private zu schützen. Der EGMR betont hierzu, dass dem Staat eine besondere Verpflichtung obliegt, einen wirksamen Schutz für schutzbedürftige Personen, wie etwa psychisch Kranke, zu garantieren sowie angemessene Vorkehrungen zu treffen, um eine rechtswidrige Freiheitsentziehung zu verhindern.

Diese Auslegung stimmt mit den in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) enthaltenen Schutzverpflichtungen überein. Insbesondere Art. 14, 15 und 17 UN-BRK formulieren erneut die Verpflichtung der Vertragsstaaten, alle geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen vor rechtwidriger Freiheitsentziehung, Folter, grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung sowie Eingriffen in das Recht auf Achtung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit zu schützen.

Entscheidung im Volltext:

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