Beschwerdenummer 60669/00
EGMR, Urteil vom 12.10.2004, Beschwerdenummer 60669/00, Asmundsson gegen Island
1. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer, Kjartan Asmundsson (K. A.), hatte von 1969 bis zu einem schweren Arbeitsunfall 1978 als Seefahrer gearbeitet. Infolge dieses Unfalls konnte er seinen Beruf nicht weiter ausüben. Seine Berufsunfähigkeit wegen körperlicher Behinderung wurde mit 100 Prozent eingestuft und er erhielt daraufhin eine gesetzliche Berufsunfähigkeitsrente.
Im Jahr 1992 wurde das einschlägige Gesetz über Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit geändert. Laut der neuen Rechtslage war Voraussetzung für die Rentenberechtigung nicht mehr die Unfähigkeit, die bisherige Tätigkeit auszuüben, sondern eine allgemeine Erwerbsminderung von mindestens 35 Prozent. Diese gesetzliche Änderung betraf auch Personen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Gesetzesänderung bereits die Leistung bezogen. Nach erneuter Untersuchung wurde festgestellt, dass K. A. eine allgemeine Erwerbsminderung von 25 Prozent aufweise und damit die Voraussetzungen für die Rente nicht mehr erfülle. Zum 1. Juli 1997 wurde die Auszahlung der Rente eingestellt.
K. A. klagte gegen die Einstellung der Rente vor den zuständigen nationalen Gerichten. Diese wiesen seine Klage ab und erklärten die Gesetzesänderung unter Hinweis auf die finanziellen Schwierigkeiten des Pensionsfonds für gerechtfertigt.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
K. A. machte in seiner Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geltend, dass der Verlust seiner Rente einen Verstoß gegen sein Recht auf Achtung des Eigentums (Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)) darstelle, und zwar sowohl alleine als auch in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK.
Die isländische Regierung hat eingeräumt, dass es sich bei der Kürzung der Rente um einen Eingriff in das Eigentum von K. A. handele. Diese Maßnahme sei jedoch rechtmäßig und verfolge ein legitimes Ziel.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof hat zunächst bejaht, dass die aus Sozialver¬sicherungsbeiträgen erwachsenden Rechte ein Teil des Rechts auf Achtung des Eigentums sind. Allerdings könne dies nicht dahingehend verstanden werden, dass es einer Person einen Anspruch auf eine Rente in bestimmter Höhe einräume.
Um festzustellen, ob eine Verletzung des Rechts auf Eigentum vorliegt, sei die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ausschlaggebend. Der EGMR erklärte, dass eine faire Abwägung zwischen den Allgemeininteressen der Gemeinschaft und dem Recht auf Eigentum des Individuums getroffenen werden muss. In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, ob eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung des betreffenden Individuums erfolgt sei.
Eingriffe in das Recht auf Eigentum könnten nur dann als verhältnismäßig gelten, wenn die eingesetzten Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet sind. Hierzu merkte der Gerichtshof an, dass sich die Regierung hier auf die finanziellen Schwierigkeiten des Pensionsfonds berufen hat. Da die erfolgte Gesetzesänderung die Einstellung von Leistungen aber nur für eine kleine Gruppe von ca. 15 Prozent der Rentenberechtigten zur Folge hatte, zweifelte der Gerichtshof daran, ob diese Lösung tatsächlich geeignet sein konnte, um die finanziellen Probleme des Fonds zu bekämpfen. Der Status der meisten Rentenberechtigten habe sich nach der Gesetzesänderung nicht geändert, sondern sie seien weiter berechtigt, die Leistungen zu beziehen.
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit könne auch nicht ignoriert werden, dass von der Gesetzesänderung nur eine kleine Gruppe betroffen war, und dass diese besonders schwer betroffen war, da ihnen die Leistungen infolge der Änderung nicht nur gekürzt, sondern vollständig entzogen wurden. Bereits dieser Umstand als solcher und die darin liegende stark ungleiche Behandlung der verschiedenen Gruppen von Rentenempfängern spreche für einen diskriminierenden Charakter der Maßnahme.
Darüber hinaus hat der EGMR berücksichtigt, dass die Einstellung der Rente nicht durch in der Person des Beschwerdeführers liegende Umstände begründet war, sondern nur durch die gesetzliche Änderung der Anspruchsvoraussetzungen.
Im Ergebnis stellte der Gerichtshof fest, dass in dem konkreten Fall dem Beschwerdeführer eine unverhältnismäßige Last auferlegt und somit Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK verletzt wurde. Gleichzeitig betonte der EGMR, dass eine vernünftige und angemessene Reduktion seiner Rentenansprüche möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.
4. Bedeutung der Entscheidung
Die vom EGMR geforderte Gleichberechtigung und der Schutz vor willkürlichen Eingriffen in das Eigentum spiegelt sich in Art. 5 und Art. 12 Abs. 5 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wider.
Die Entscheidung macht insbesondere deutlich, dass der pauschale Verweis auf einen legitimen Zweck nicht ausreicht, um Eingriffe in geschützte Rechtsbereiche zu rechtfertigen. Vielmehr muss genau geprüft werden, ob die in individuelle Rechtspositionen eingreifenden Maßnahmen auch in dieser konkreten Form wirklich effektiv zur Erreichung des angegebenen Zwecks beitragen oder nicht, und ob die vorgenommene Lastenverteilung einzelne Personen möglicherweise unverhältnismäßig stark trifft.
Aus dem Urteil kann man jedoch nicht das Recht auf bestimmte Leistungen oder Renten im Sinne von Art. 28 Abs. 2 e) UN-BRK ableiten. Ebenso kann man aus den gerichtlichen Ausführungen keine Leitlinien zur Regelung der Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeitsrente entnehmen. Das Urteil bezieht sich lediglich auf die ungerechtfertigte Einstellung der Leistungen, für die der Beschwerdeführer über viele Jahre gesetzlich berechtigt gewesen war.
Entscheidung im Volltext: