Beschwerdenummer 44009/05
EGMR, Urteil vom 27.03.2008, Beschwerdenummer 44009/05, Shtukaturov gegen Russland
1. Sachverhalt
Pavel Vladimirovich Shtukaturov (P. V. S.), litt seit 2002 an einer psychischen Störung ("mental disorder") und war deshalb mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung. Im Jahr 2003 erhielt er den Behindertenstatus nach russischem Recht.
Im Jahr 2004 beantragte seine Mutter die Einleitung eines Entmündigungsverfahrens. Am 28. Dezember 2004 erklärte das zuständige Gericht P. V. S. nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens für geschäftsunfähig und setzte seine Mutter als Betreuerin ein mit der Befugnis, ihn in allen Angelegenheiten rechtlich zu vertreten. Mit der Begutachtung waren die Ärztinnen und Ärzte desjenigen Krankenhauses beauftragt worden, in denen P. V. S. stationär untergebracht war. Er selbst wurde über das Verfahren nicht informiert, und er war nicht während der Verhandlung anwesend. Eine persönliche Anhörung war nicht erfolgt. Das Urteil wurde nach Ablauf einer zehntägigen Berufungsfrist rechtskräftig.
P. V. S. erfuhr von dem Urteil erst durch Zufall im November 2005. Mithilfe eines Rechtsanwalts stellte er einen Wiedereinsetzungsantrag, um die Berufung nachholen zu können. Sein Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgewiesen, dass er nicht ohne Zustimmung seiner Betreuerin rechtlich agieren könne.
Im November 2005 wurde P. V. S. - auf Initiative seiner Mutter als Betreuerin - in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Nach innerstaatlichen Vorschriften galt die Aufnahme in das Krankenhaus als freiwillig und bedurfte daher keiner gerichtlichen Bewilligung. Laut P. V. S. war die Unterbringung jedoch gegen seinen Willen erfolgt. Während der Dauer seiner Unterbringung erlaubte ihm die Krankenhausleitung nicht, seinen Rechtsanwalt zu treffen. Dies wurde damit begründet, dass er für geschäftsunfähig erklärt worden sei und nur durch seine Betreuerin handeln könne. Diese lehnte jedoch jegliches Tätigwerden ab. Ab Dezember 2005 wurde ihm jeglicher Kontakt zur Außenwelt untersagt, schriftlicher wie mündlicher. Seine zahlreichen Versuche, eine Entlassung aus dem Krankenhaus zu erwirken, blieben ebenso erfolglos wie die seines Anwalts. Dessen Anträge wurden von den Gerichten mit dem Argument zurückgewiesen, dass er wegen der Geschäftsunfähigkeit von P. V. S. nicht wirksam von diesem bevollmächtigt sei, dazu hätte es nach russischem Recht einer Erklärung seiner Mutter als Betreuerin bedurft.
Erst am 16. Mai 2006 wurde P. V. S. aus dem Krankenhaus entlassen und konnte daraufhin seinen Anwalt treffen; 2007 wurde er jedoch auf Betreiben seiner Mutter erneut in dasselbe Krankenhaus eingewiesen.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
P. V. S. klagte vor dem EGMR und rügte, dass die innerstaatlichen Gerichte Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzt hätten, indem sie das Entmündigungsverfahren ohne seine Teilnahme und sein Wissen führten. Des Weiteren machte er geltend, dass durch seine Zwangsunterbringung in dem psychiatrischen Krankenhaus Art. 3 (Verbot der Folter) und Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) verletzt wurden.
3. Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
a) Das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK)
Der EGMR stellte eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest. Als entscheidenden Faktor sah der Gerichtshof die Tatsache an, dass P. V. S. an dem Verfahren nicht teilgenommen hatte. Hierzu führte der EGMR aus, dass verfahrensrechtliche Beschränkungen für Menschen mit geistigen Behinderungen zwar in bestimmten Fällen zulässig sein können, beispielsweise wenn ihre persönliche Anwesenheit eine Gefahr für sie selbst oder andere darstellen würde. Solche Beschränkungen dürfen jedoch nicht den Kern dieses Rechts beeinträchtigen. Das bedeutet: wenn ein Verfahren wie hier wichtige Angelegenheiten für die oder den Betroffenen betrifft, muss er oder sie persönlich angehört werden. In dem vorliegenden Fall war die persönliche Teilnahme von P. V. S. insbesondere aus zwei Gründen geboten: Zum einen hätte er nur auf diese Art dem Gericht seine eigene Sichtweise präsentieren können. Zum anderen hätte sich der Richter nur durch den persönlichen Kontakt mit P. V. S. eine eigene Meinung über dessen mentalen Zustand bilden können. Hingegen war das Entscheiden lediglich nach Aktenlage, ohne P. V. S. zu sehen und anzuhören, mit dem Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens, also einem streitigen Verfahren, bei dem sich zwei gegnerische Parteien gegenüberstehen, nicht vereinbar. Dies wiegt, so der EGMR, umso schwerer, als die anschließenden Anträge von P. V. S. beim Berufungsgericht auch von diesem ohne persönliche Anhörung entschieden wurden. Stattdessen wurden die Anträge ohne nähere Prüfung aus formalen Gründen, nämlich mit dem bloßen Verweis auf seine erstinstanzlich festgestellte Geschäftsunfähigkeit, zurückgewiesen.
b) Das Recht auf Achtung der Privatsphäre (Art. 8 EMRK)
Der Gerichtshof stellte außerdem eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest. Hierzu führte er unter anderem aus, dass eine psychische Störung der oder des Betroffenen, auch wenn es sich um eine schwerwiegende Störung handelt, nicht der einzige Grund für eine volle Entmündigung sein darf. Eine solch weitreichende Maßnahme muss im Einzelfall durch Art und Schwere der psychischen Störung geboten sein. Im vorliegenden Fall wurden die Schwere und Art der psychischen Krankheit von P. V. S. in dem Entmündigungsverfahren aber nicht näher erörtert. Hinzu kommt, dass die russischen gesetzlichen Vorschriften keine andere Option zwischen "voller Geschäftsfähigkeit" und "voller Geschäftsunfähigkeit" vorsahen. Im Ergebnis stellte der EGMR fest, dass die Rechte des von P. V. S. in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt wurden.
c) Das Recht auf persönliche Freiheit (Art. 5 Abs. 1 EMRK)
Der EGMR wertete die weitgehende Einschränkung der Freiheit von P. V. S. während seiner Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus zwischen November 2005 und Mai 2006 als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EMRK.
Eine Freiheitsentziehung kann gerechtfertigt sein, wenn die Voraussetzungen aus Art. 5 EMRK erfüllt werden. Eine der Voraussetzungen ist die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung. Dies bedeutet zum einen, dass die Freiheitsentziehung in Einklang mit den nationalen Vorschriften erfolgen muss. Darüber hinaus muss das innerstaatliche Recht selbst konventionskonform und mit dem Ziel und Zweck von Art. 5 EMRK - dem Schutz vor willkürlicher Freiheitsentziehung - vereinbar sein. Unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung (EGMR, Urteil vom 24. Oktober 1979, Beschwerdenummer 6301/73, Winterwerp gegen Niederlande) erinnerte der EGMR daran, dass die Unterbringung von psychisch kranken Personen nur gerechtfertigt sein kann, wenn drei Mindestvoraussetzungen erfüllt sind: Erstens muss die psychische Störung von der zuständigen Stelle aufgrund von Gutachten von einem Sachverständigen festgestellt werden. Zweitens muss die psychische Störung derart schwerwiegend sein, dass sie eine Unterbringung erfordert (zum Beispiel bei Selbstgefährdung des beziehungsweise der Betroffenen). Schließlich darf die Unterbringung nur so lange andauern, wie die Störung besteht.
In dem vorliegenden Fall hatten die Behörden ihre Entscheidung über die Zwangsunterbringung lediglich auf den Rechtsstatus (Geschäftsunfähigkeit) von P. V. S. gestützt. Dagegen war kein Nachweis eingeholt worden, dass seine Unterbringung zum Zeitpunkt ihrer Anordnung tatsächlich notwendig war. Damit war die Zwangsunterbringung nicht rechtmäßig im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e) EMRK, sondern willkürlich, und verletzte Art. 5 Abs. 1 EMRK.
d) Das Recht auf richterliche Überprüfung (Art. 5 Abs. 4 EMRK)
Des Weiteren hat der EGMR eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK festgestellt. Er begründete das zum einen mit dem Umstand, dass keine gerichtliche Überprüfung der Unterbringung stattgefunden hatte und dass im russischen Recht auch keine automatische Überprüfung von Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus vorgesehen ist. Zum anderen rügte der EGMR, dass P. V. S. selbst keine Möglichkeit hatte, die Entscheidung über seine Zwangsunterbringung gerichtlich überprüfen zu lassen. Er konnte nur durch seine Mutter ein Verfahren initiieren, sodass er von dieser abhängig war. Einen direkten Zugang zu Rechtsmitteln hatte er dagegen nicht.
4. Bedeutung der Entscheidung
Der Sachverhalt in dem vorliegenden Fall weist enge Bezüge zu der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf. Der Gerichtshof betont die Bedeutung der direkten Teilnahme der beziehungsweise des Betroffenen für ein faires Verfahren. Dazu gehört auch das Recht angehört zu werden. Diese Rechte spiegeln sich auch in Art. 12 Abs. 4 und 13 UN-BRK wider.
Der EGMR sah die Pauschalentscheidung, P. V. S. als geschäftsunfähig zu erklären, als eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention an. Der EGMR kritisierte, dass das russische Rechtssystem keine passgenauen Lösungen vorsieht, um auf die besonderen Bedürfnisse einer Person mit Behinderung entsprechend reagieren zu können. In dieser Aussage der Straßburger Richter und Richterinnen kann man die Verpflichtungen der Staaten aus der UN-BRK (Art. 8 Abs. 1b) wiedererkennen, Maßnahmen zu ergreifen, um Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen zu bekämpfen. Die vollständige Aberkennung der Geschäftsfähigkeit ist auch mit Art. 12 Abs. 4 UN-BRK unvereinbar. Die UN-BRK fordert ebenfalls Maßnahmen, die verhältnismäßig und auf die Umstände der Person zugeschnitten sind.
Der Ausführungen zu Art. 5 EMRK überschneiden sich ebenfalls mit der Behindertenrechtskonvention. In diesem Zusammenhang ist besonders zu betonen, dass nach Art. 14 Abs. 1b UN-BRK das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigen kann. In diesem Sinne führte auch der EGMR aus, dass eine Freiheitsentziehung wegen anderer Gründe, zum Beispiel wegen einer Gefahr, welche der oder die Betroffene für sich selbst oder andere darstellt, notwendig sein muss. Das in Art. 14 UN-BRK enthaltene Verbot, die Freiheit willkürlich zu entziehen, bedeutet im Lichte dieser EGMR-Entscheidung, dass immer eine aktuelle medizinische Beurteilung des Gesundheitszustandes der bzw. des Betroffenen notwendig ist. Eine Staatenpraxis, die erlaubt, auf Grundlage älterer Dokumente über eine Zwangsunterbringung zu entscheiden, ist mit Art. 5 EMRK und mit Art. 14 UN-BRK nicht vereinbar.
Entscheidung im Volltext: