Beschwerde-Nr. 50330/07
EGMR, Urteil vom 07.12.2010, Beschwerde-Nr. 50330/07, Seal gegen Vereinigtes Königreich
1. Sachverhalt
Im Vereinigten Königreich wurde am 09.12.1997 Herr Seal (S.) von der Polizei festgenommen und in ein nahe gelegenes Krankenhaus eingewiesen, wo er bis zum 18.12.1997 festgehalten wurde. Die zwangsweise Unterbringung erfolgte auf Grundlage des "Gesetzes über mentale Gesundheit" (Mental Health Act) von 1983. Die genauen Einzelheiten des Vorfalls sind zwischen den Parteien strittig.
Am 08.12.2003, einen Tag vor Verjährung etwaiger Ansprüche aus dem erwähnten Gesetz, machte S. einen Entschädigungsanspruch bezüglich des Vorfalls vom 09.12.1997 gegen die Polizei beim zuständigen Zivilgericht geltend, verwies auf Machtmissbrauch durch die Polizei und führte aus, dass es keine Grundlage für seine Festnahme gegeben hätte. Das einschlägige "Gesetz über mentale Gesundheit" sah jedoch vor, dass zivilrechtliche Ansprüche erst dann gerichtlich geltend gemacht werden dürfen, wenn zuvor die Erlaubnis des zuständigen High Court eingeholt wurde. Da S. dies nicht getan hatte, wies das angerufene Zivilgericht den Fall ab, ohne ihn in der Sache zu prüfen.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
S. rügte vor dem EGMR die Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Er behauptete, dass die zusätzliche formale Voraussetzung der Einholung einer Erlaubnis eine unverhältnismäßige Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht darstelle. Die britische Regierung entgegnete, dass diese Zulässigkeitsvoraussetzung S. den Zugang zum Gericht nicht versperrt habe. Diese spiele lediglich die Rolle eines Filters, um wenig Erfolg versprechende Klagen im Vorfeld auszusortieren.
Als dritte Partei äußerte sich die britische "Equality and Human Rights Commission" (EHRC) gegenüber dem EGMR zum vorliegenden Fall. In ihrer Stellungnahme verwies die EHRC unter anderem auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und hier insbesondere auf Artikel 12, in dem das Recht von Menschen mit Behinderungen auf gleiche Anerkennung vor dem Recht bekräftigt werde. Dies verdeutliche, dass alle zusätzlichen Hürden, und seien sie auch noch so niedrig, die den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Gerichten erschwerten, auf den Prüfstand gehörten. Solche Hürden seien nur gerechtfertigt, wenn es für ihre Erforderlichkeit einen klaren Nachweis gebe. Das sei aber bei der hier geforderten Erlaubnis nicht der Fall.
3. Entscheidung des EGMR
Der EGMR führte zunächst aus, dass das Recht auf Zugang zum Gericht Einschränkungen unterworfen werden dürfe. Die Vertragsstaaten genössen dabei einen gewissen Ermessensspielraum. Die Beschränkungen dürften jedoch nicht den Wesensgehalt des Rechts berühren. Sie müssten ein legitimes Ziel verfolgen und dürften zur Verwirklichung dieses Ziels keine unverhältnismäßigen Mittel einsetzen.
In dem vorliegenden Fall befand der EGMR, dass die Einschränkungen des Rechts auf Zugang zu einem Gericht verhältnismäßig und angemessen gewesen seien. Der EGMR stützte sich auf folgende Argumente: Das Ziel des Gesetzes sei, den Zugang zum Gericht nur für die Personen zu beschränken, die offensichtlich unbegründete Klagen einreichten. Diese Beschränkung sei für alle Personen anwendbar, die ihre Ansprüche mit dem Gesetz über mentale Gesundheit begründen wollten, ungeachtet ob sie selbst an psychischen Krankheiten litten. Diese Regelung solle vor allem Polizeibediensteten zugutekommen und diese vor unbegründeten Klagen schützen. Über die Erlaubnis entscheide immer ein unabhängiger Richter beziehungsweise eine unabhängige Richterin. Darüber hinaus betonte der EGMR, dass S. keine Erklärung abgegeben habe, warum er fast sechs Jahre mit seiner Klage gewartet habe. Aus diesen Gründen verneinte der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 EMRK.
Auf die Argumentation der EHRC zur UN-Behindertenrechtskonvention ging der Gerichtshof nicht ein.
4. Bedeutung der Entscheidung
Das Recht auf Zugang zur Justiz und damit auf eine Entscheidung durch ein Gericht ist geregelt sowohl in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 6 EMRK) als auch in der UN-Behindertenrechtskonvention (Artikel 13 UN-BRK). Wie die Entscheidung jedoch zeigt, ist diese Garantie nicht absolut. Der Staat darf in bestimmten Fällen Beschränkungen zum Gericht einführen. Diese Beschränkungen müssen ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein. Den Wesensgehalt des Rechts dürfen sie jedoch nicht antasten.
Leider hat sich der Gerichtshof nicht damit auseinandergesetzt, welche Folgen Artikel 12 UN-BRK (Gleiche Anerkennung vor dem Recht) für die Rechtfertigung bestehender Zugangsbeschränkungen im Lichte dieser allgemeinen Anforderungen hat.
Entscheidung im Volltext: