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Beschwerde-Nr. 45744/08

EGMR, Urteil vom 21.12.2010, Beschwerde-Nr. 45744/08, Jasinskis gegen Lettland

1. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, Herr Jasinskis (J.), ist Vater eines nach Festnahme durch die Polizei verstorbenen Mannes. Der Sohn von J. war von Geburt an gehörlos und stumm. Am 26.02.2005 ging er nach einem Barbesuch, bei dem er Alkohol getrunken hatte, gemeinsam mit Freunden zu einer nahe gelegenen Schule, in der eine Party stattfand. Am Schuleingang wurde er gestoßen, fiel eine Treppe hinunter, schlug mit dem Kopf auf und verlor für mehrere Minuten das Bewusstsein. Sicherheitsleute riefen daraufhin Polizei und Krankenwagen und setzten ihn, nachdem er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, auf die Treppe. Die Polizei kam um 1:40 Uhr. Die Polizeikräfte entschieden, nicht auf den Krankenwagen zu warten, und brachten ihn zum Ausnüchtern auf die Polizeistation. Sie informierten auch den Notarzt, dass keine Notwendigkeit für eine medizinische Versorgung bestehe und dass der Mann bloß betrunken sei. Am nächsten Morgen versuchten die Polizeibediensteten den Betroffenen vergeblich zu wecken. Ungefähr vierzehn Stunden nach der Festnahme stellten sie fest, dass der Mann "zu lange geschlafen" habe und riefen einen Krankenwagen. Die Krankenwagenbesatzung verweigerte jedoch eine Mitnahme ins Krankenhaus. Erst zwei Stunden später, auf wiederholte Aufforderung des inzwischen eingetroffenen Vaters wurde der junge Mann ins Krankenhaus gebracht, wo er einige Stunden später am 28.02.2005 starb. Die Autopsie zeigte, dass die Todesursache die Kopfverletzungen gewesen waren.

Direkt nach dem Tod des Mannes wurden durch die Polizei interne Ermittlungen eingeleitet. Sie wurden mehrmals mit der Begründung eingestellt, dass der Jugendliche, der den Sohn von J. gestoßen habe, keinen Straftatbestand erfüllt habe und dass auch seitens der Polizei kein Fehlverhalten erkennbar sei, da die Verletzung des Mannes nicht sichtbar gewesen sei. Die Sache wurde jedoch jeweils von der Staatsanwaltschaft zur weiteren Untersuchung zurückverwiesen. Nachdem die Einstellung des Verfahrens erneut aufgehoben wurde, übernahm am 18.01.2007 das "Büro für interne Sicherheit der Staatspolizei" die Ermittlungen. Am 23.08.2007 endete das Verfahren mit dem Ergebnis, dass keine strafbare Handlung durch die Polizeibediensteten begangen worden sei. Dieser Beschluss wurde in allen Instanzen bestätigt.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

J. führte aus, dass sein Sohn starb, nachdem er von der Polizei festgenommen worden sei; diese sei demnach für den Tod seines Sohnes verantwortlich. Des Weiteren beschwerte er sich, dass das Strafverfahren nicht wirksam gewesen sei. Er berief sich dabei auf das in Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf Leben.

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR führte aus, dass aus dem Recht auf Leben unterschiedliche Verpflichtungen für den Staat resultierten. Erstens verböte Artikel 2 EMRK eine absichtliche Tötung. Zweitens verpflichte diese Vorschrift die Staaten, das Leben der Personen, die seiner Hoheitsgewalt unterstünden, zu schützen. Drittens enthielte Artikel 2 EMRK aktive Untersuchungspflichten. Im Ergebnis stellte der Gerichtshof eine zweifache Verletzung von Artikel 2 EMRK fest: eine Verletzung der positiven Schutzverpflichtungen und eine Verletzung der Verfahrenspflichten.

3.1 Verletzung der positiven Schutzverpflichtungen

Mit Verweis auf seine frühere Rechtsprechung ("Price gegen Vereinigtes Königreich", Beschwerde-Nr. 33394/96; "Farbtuhs gegen Lettland", Beschwerde-Nummer 4672/02) erinnerte der EGMR daran, dass ein Staat bei der Inhaftierung einer behinderten Person Bedingungen gewährleisten müsse, die den aus der Behinderung resultierenden besonderen Bedürfnissen der Betroffenen entsprächen. Die Verpflichtung, das Leben zu schützen, umfasse die Verpflichtung, eine ausreichende ärztliche Versorgung sicherzustellen. In dem vorliegenden Fall bejahte der EGMR eine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten aufgrund folgender Tatsachen: Die Polizeibediensteten seien darüber informiert gewesen, dass der Mann auf den Kopf gefallen und bewusstlos gewesen sei. Auf die Behinderung des Mannes seien sie auch hingewiesen worden. Trotzdem seien sie von einer bloßen Trunkenheit ausgegangen und hätten sich entschieden, nicht auf den Rettungswagen zu warten. Die Polizei habe den Betroffenen auch nicht zu seinem Zustand befragt. Der Gerichtshof merkte kritisch an, dass die Polizeibediensteten dem Opfer, das gehörlos und stumm war, nicht einmal einen Kugelschreiber und Papier zur Verfügung gestellt hätten, damit er sich zu seinem Befinden hätte äußern können. Dies umso mehr, als keiner der Polizisten die Gebärdensprache beherrschte und dem Opfer zuvor der von ihm zur Kommunikation benutzte Notizblock weggenommen worden sei. Der Gerichtshof fand es ebenso inakzeptabel, dass die Polizeibediensteten vierzehn Stunden gewartet hätten, bis sie den Notarzt riefen.

3.2 Verletzung der Verfahrenspflichten

In Hinsicht auf die staatlichen Verfahrenspflichten erklärte der Gerichtshof, dass durchgeführte Untersuchungen geeignet sein müssten, die Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu ermöglichen. Dazu müsse die Untersuchung insbesondere unabhängig sein und zügig durchgeführt werden. Eine Verletzung der Untersuchungspflichten durch Lettland leitete der EGMR aus den folgenden Umständen ab: Die erste Phase der internen Ermittlungen sei nicht durch eine unabhängige Behörde durchgeführt worden. Darüber hinaus seien die durch das Büro für interne Sicherheit geführten Ermittlungen zu spät aufgenommen worden und seien deshalb nicht "zügig" im Sinne von Artikel 2 EMRK gewesen. Außerdem seien nicht alle Beweise gesichert worden, wichtige Fragen seien unbeantwortet geblieben.

4. Bedeutung der Entscheidung

Das Urteil setzt sich auf Grundlage der EMRK mit den staatlichen Schutzpflichten gegenüber Menschen mit Behinderungen auseinander. In dem vorliegendem Fall beschäftigte sich der EGMR konkret mit der Verantwortlichkeit des Staates für den Tod einer festgenommenen Person mit Behinderungen. Aufgrund der besonders gefährdeten Lage, in der sich eine Person mit Behinderungen befindet, steigt die staatliche Verantwortlichkeit entsprechend. Der Staat ist verpflichtet, solche Maßnahme zu ergreifen, die den besonderen Bedürfnissen dieser Person entsprechen. In diesem Fall hätte der Staat beispielsweise durch einfache Mittel wie Zettel und Kugelschreiber, mit dem Betroffenen kommunizieren können.

Damit weist der Sachverhalt enge Bezüge zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), insbesondere zu den Artikeln 10 (Recht auf Leben), 14 Absatz 2 (Bereitstellung angemessener Vorkehrungen bei Freiheitsentziehungen), 4 Absatz 1 b) und j) (allgemeine Staatenverpflichtung), 5 (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung) und 8 UN-BRK (Bewusstseinsbildung).

Entscheidung im Volltext:

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