Beschwerde-Nr. 41526/10
EGMR, Urteil vom 24.07.2012, Beschwerde-Nr. 41526/10, Đordevic gegen Kroatien
1. Sachverhalt
Der kroatische Beschwerdeführer, Herr Đordevic (D.), ein geistig und körperlich behinderter Mann, der bei seiner Mutter wohnte und von ihr gepflegt wurde, war zwischen Juli 2008 und Februar 2011 von Nachbarskindern aufgrund seiner Behinderung belästigt worden. Die Form dieser Belästigungen reichte von verbalen Beleidigungen über körperliche Belästigungen, wie etwa das Stoßen gegen einen Eisenzaun oder das Bewerfen mit einem Ball, bis zu schweren körperlichen Angriffen. Beispielsweise zeigte ein ärztlicher Bericht vom April 2009, dass D. auf beiden Händen Zigarettenbrandwunden aufwies.
Die Mutter machte verschiedene staatliche Behörden immer wieder auf die Vorfälle aufmerksam. Sie bat auch mehrmals die Polizei um Hilfe – zum ersten Mal bereits im Juli 2008. Die Polizei kam jedes Mal, um die Kinder zu belehren und nach Hause zu schicken. Angesichts des Alters der Kinder hätten diese nicht strafrechtlich belangt werden können, lautete ihre Argumentation.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Vor dem EGMR machten D. und seine Mutter geltend, dass die Belästigungen und Angriffe auf D. ihr tägliches Leben störten und ein bedeutendes Maß an andauerndem Stress und Leiden verursachten. Der Staat habe die Verpflichtung, vor derartigen Übergriffen zu schützen. Da der Staat ihnen keinen Schutz geboten hätte, seien Artikel 2 (Recht auf Leben), Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt worden.
Die kroatische Regierung argumentierte zu Artikel 3 EMRK, dass die Vorschrift gar nicht anwendbar sei, da das Geschehen nicht schwerwiegend genug sei, um die vom EGMR geforderte Mindestschwere zu erreichen.
3. Entscheidung des EGMR
Der EGMR widersprach den Ausführungen Kroatiens. Der Gerichtshof befand die Misshandlungen des Sohnes als so schwerwiegend, dass er einstimmig eine Verletzung von Artikel 3 EMRK bejahte.
Dazu führte der Gerichtshof aus, dass der Staat verpflichtet gewesen sei, D. vor dem aggressiven Verhalten der Kinder zu schützen. Zum Umfang dieser Verpflichtungen erklärte der EGMR, dass dem Staat zwar keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegt werden könne. Ein Staat, der von einer bestehenden oder vorhersehbaren Gefährdung eines Betroffenen wisse, müsse aber alles tun, was von ihm vernünftigerweise verlangt werden könne, um eine (weitere) Rechtsverletzung zu verhindern.
Der Staat verfüge zwar über einen großen Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten, die ergriffenen Maßnahmen müssten jedoch einen effektiven Schutz gewährleisten. Im Fall von D. waren die Behörden sich des Problems aufgrund der wiederholten Beschwerden seiner Mutter bewusst. Nichtsdestotrotz haben die informierten Behörden nicht zusammengearbeitet und keine umfassende Strategie erarbeitet, um gegen die Belästigungen vorzugehen. Stattdessen hätten sie jeden Übergriff isoliert betrachtet. Dadurch habe der Staat seine Schutzpflichten gegenüber D. verletzt.
Mit Bezug auf die Mutter stellte der EGMR fest, dass die andauernden Belästigungen ihres Sohnes sich auch auf ihr eigenes Leben negativ auswirkten. Indem die Behörden keine Maßnahmen zum Schutz des Sohnes ergriffen hätten, verletzten sie auch ihr Recht auf Privat- und Familienleben (Artikel 8 EMRK).
Schließlich stellte der Gerichtshof fest, dass es für D. und seine Mutter unmöglich gewesen sei, eine wirksame Beschwerde gegen die Belästigungen und Gewaltübergriffe zu führen. Somit sei auch Artikel 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verletzt worden.
4. Bedeutung der Entscheidung
Das Urteil setzt sich auf Grundlage der EMRK mit den staatlichen Schutzpflichten gegenüber Menschen mit Behinderungen auseinander. Der EGMR betonte, dass der Staat auch bei diesen Übergriffen durch Privatpersonen verpflichtet gewesen wäre, effektive Maßnahmen zu ergreifen, um D. als eine besonders schutzbedürftige Person vor derlei Übergriffen zu bewahren.
Wie die EMRK enthält auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) aktive Handlungsverpflichtungen des Staates zum Schutz vor Übergriffen durch Privatpersonen. Gemäß Artikel 5 Absatz 2 UN-BRK garantieren die Staaten allen Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen Schutz vor Diskriminierung. Gemäß Artikel 16 UN-BRK sind die Staaten verpflichtet, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial-, Bildungs- und sonstige Maßnahmen einzusetzen, um Menschen mit Behinderungen vor jeder Form von Gewalt zu schützen. Artikel 15 UN-BRK verpflichtet die Staaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um vor erniedrigender und unmenschlicher Behandlung zu schützen. Eine besondere Verpflichtung zur Bewusstseinsbildung ist in Artikel 8 UN-BRK geregelt, mit dem sich die Staaten verpflichtet haben, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Achtung der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen zu fördern und um Vorurteile und schädliche Praktiken ihnen gegenüber zu bekämpfen.
Sollte ein Vertragsstaat diesen genannten Pflichten nicht nachkommen, kann dieses EGMR-Urteil ein wichtiges Referenzdokument sein.
Entscheidung im Volltext: