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Beschwerde-Nr. 39948/06

EGMR, Urteil vom 18.12.2008, Beschwerde-Nr. 39948/06, Saviny gegen Ukraine

1. Sachverhalt

Die Beschwerdeführer, die ukrainischen Eheleute Saviny (S.), sind von Kindheit an blind. Zwischen 1991 und 2001 bekamen sie sieben Kinder. Im Februar 1998 wurden vier ihrer Kinder unter öffentliche Obhut gebracht. Dies wurde mit der Unfähigkeit der Eheleute begründet, den Kindern eine angemessene Betreuung und Erziehung zu garantieren.

Zwischen 1998-2004 besuchten Mitarbeitende des Sozialamts circa zehn Mal die Familie und erstellten danach Berichte über die Eignung der Lebensverhältnisse für die Erziehung der Kinder. In den Berichten war von sehr schlechten Wohnverhältnissen die Rede. Es sei schmutzig, kalt und voll Spinnennetzen gewesen. Ferner habe es kein Essen in der Küche gegeben. Darüber hinaus seien die Kinder schmutzig und unpassend gekleidet gewesen. In dieser Zeit erhielt die Familie gelegentliche Hilfe in Form von Feuerholz, Kleidung, Schuhe und Essen. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter engagierten auch Freiwillige, um die Wohnung zu malern.

Am 02.12.2004 entschied das zuständige Gericht, dass die übrigen drei Kinder ebenso von den Eltern getrennt und unter öffentliche Obhut gebracht werden sollen. Die Entscheidung wurde allein auf die Berichte des Sozialamts gestützt und damit begründet, dass die Wohnverhältnisse gefährlich für das Leben und die Gesundheit der Kinder seien und dass die Eltern nicht erziehungsfähig seien. Die von den Eheleuten S. dagegen eingelegte Berufung blieb erfolglos.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Die Eheleute S. brachten vor, dass die Entscheidung, ihnen ihre Kinder zu entziehen und in öffentlicher Fürsorge unterzubringen, ihre Rechte auf ein faires Verfahren (Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK) und auf Achtung des Familienlebens (Artikel 8 EMRK) sowie das Diskriminierungsverbot (Artikel 14 EMRK) verletzt habe.

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR fasste zunächst die einschlägigen Prinzipien zusammen, die sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben. Danach ist das Zusammenleben von Eltern und Kind ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens. Die Staaten würden zwar einen gewissen Spielraum hinsichtlich der Entscheidungen über das elterliche Umgangsrecht genießen, jedoch könne die Entscheidung, das Kind von den Eltern zu trennen, nur in Ausnahmesituationen gerechtfertigt werden. Der Entzug des Umgangsrechts dürfe zudem erst nach einer sehr sorgfältigen Abwägung der Interessen des Kindes und der Beurteilung des Einflusses der Maßnahme auf die Eltern und das Kind erfolgen. Dies bedeute, dass falls sich die Behörden auf Gefahren für das Kind beriefen, sie das Vorliegen dieser Gefahr zunächst nachweisen müssen. Allein die Tatsache, dass das Kind nach der Trennung in einem für seine Entwicklung günstigerem Umfeld untergebracht ist, sei nicht ausreichend. Der Entzug des Umgangsrechts kann ebenso nicht mit einer instabilen Situation der Eltern begründet werden, die sich mit anderen Mittel (zum Beispiel finanzieller Hilfe) beheben ließe. Außerdem sollte die Unterbringung des Kindes in der öffentlichen Fürsorge in der Regel nur vorübergehenden Charakter haben. Dabei sollten die Staaten Maßnahmen ergreifen, um die Wiederzusammenführung der Familie zu ermöglichen.

Unter Anwendung dieser Kriterien sah der EGMR in dem vorliegenden Fall eine Verletzung von Artikel 8 EMRK. Maßgeblich für diese Einschätzung sei vor allem die Art gewesen, in der die nationalen Gerichte den Sachverhalt ermittelt hätten. Die Gerichtsentscheidung sei alleine auf Grundlage der Berichte und Aussagen der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter über ihre gelegentlichen Besuche bei der Familie getroffen worden. Es wurden keine zusätzlichen Beweise eingeholt, wie etwa Aussagen der Kinder, der Nachbarn der Familie, der Kinderärzte oder eine ärztliche Dokumentation. Die nationalen Behörden hätten prüfen müssen, inwieweit die Probleme der Familie aus der Erziehungsunfähigkeit oder aus der finanziellen Situation resultierten. Der EGMR kritisierte auch, dass zwei der Kinder in Einrichtungen untergebracht worden seien, die weit von dem Familienwohnort entfernt lagen, wodurch ein regelmäßiger Kontakt erschwert gewesen sei.

Zum Abschluss wandte sich der EGMR der gerügten Verletzung des Diskriminierungsverbots zu. Hier allerdings wies er die Argumente der Beschwerdeführenden als offensichtlich unbegründet zurück. Die Eheleute S. hätten nicht überzeugend gezeigt, dass die Entscheidung, die Kinder in öffentliche Fürsorge zu nehmen, aufgrund ihrer Behinderung getroffen worden sei.

4. Bedeutung der Entscheidung

Der EGMR war in dem vorliegenden Fall nicht überzeugt, dass die Kinder aufgrund der Behinderung der Eltern von der Familie getrennt wurden. Nichtdestotrotz lassen sich dem Urteil wichtige Prinzipien entnehmen, die bei Eingriffen in das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern mit Behinderungen zu beachten sind. Ähnlich wie Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) betont der EGMR die verfahrensrechtliche Dimension des Rechts auf Achtung der Familie. Jede Entscheidung über eine Trennung der Familie muss in einem Verfahren nach geltenden Rechtsvorschriften erfolgen. Dabei ist es wichtig, dass die Entscheidung auf umfassende Beweise, wie etwa die Anhörung des Kindes oder ein psychologischen Gutachten, gestützt wird. Des Weiteren sind die staatlichen Behörden stets verpflichtet, sorgfältig zu prüfen, ob andere, mildere Mittel als der Entzug der Kinder aus der Familie zur Verfügung stehen, wie etwa finanzielle oder sonstige Hilfen.

Entscheidung im Volltext:

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