Beschwerde-Nr. 37679/08
EGMR, Urteil vom 18.10.2012, Beschwerde-Nr. 37679/08, Bures gegen Tschechische Republik
1. Sachverhalt
Herr B. (B.) wurde in Tschechien wegen einer diagnostizierten psycho-sozialen Behinderung behandelt. Zur Zeit der fraglichen Ereignisse nahm er das beruhigende Medikament "Akineton", das ihm von seinem Psychiater verschrieben worden war. Am 9.02.2007 nahm er versehentlich eine Überdosis des Medikaments ein. Infolge der Überdosierung bemerkte er nicht, dass er seine Wohnung halb nackt, nämlich nur mit einem Pullover bekleidet, verlassen hatte. Daraufhin wurde er von der Polizei festgehalten und zu einem psychiatrischen Krankenhaus gebracht. Nach ersten medizinischen Untersuchungen wurde er in das im Krankenhaus gelegene Ausnüchterungszentrum gebracht. Dort verbrachte er die ganze Nacht. Er wurde mehrere Stunden mit Sicherheitsgurten an das Bett gebunden. Wie lange dies dauerte, ließ sich im Nachhinein nicht genau bestimmen, da der Ablauf der Nacht nicht ausreichend protokolliert wurde. Ebenso wurde nicht festgehalten, warum er fixiert werden musste. Am 15.02.2007 wurde B. von einem Neurologen untersucht, der bei ihm - als Folge der Anschnallgurte - eine mittlere bis schwere Parese auf beiden Armen feststellte. Bis zu seiner Entlassung am 13.04.2007 verblieb B. ohne seinen Willen in diesem Krankenhaus. Aufgrund des zweimonatigen Krankenhausaufenthaltes war B. jedoch verwirrt und konnte sich nicht ausreichend selbst versorgen. Er kehrte er am Tag darauf freiwillig zurück und blieb im Krankenhaus bis zum 01.07.2007.
Am 16.02.2007 erfolgte eine gerichtliche Untersuchung der Unterbringung. Hierzu wurde vom Gericht der behandelnde Arzt in Abwesenheit von B. befragt. B. selbst wurde nicht befragt und nicht einmal in Augenschein genommen. Noch am selben Tag, und ohne weiteren Beweis zu erheben, urteilte das zuständige Gericht, dass die zwangsweise Unterbringung rechtmäßig sei, da B. an einer Krankheit leide, die ihn gefährlich für sich selbst und für andere mache.
Direkt nach Beendigung seines Krankenhausaufenthaltes im Juli 2007 suchte B. Hilfe bei der Organisation "Mental Disability Advocy Center". Mit der Unterstützung der Organisation versuchte er, auf zivilrechtlichem Weg gegen die gerichtliche Entscheidung vom 16.02.2007 vorzugehen. Alle Anstrengungen blieben erfolglos. Gleichzeitig versuchte er bezüglich der Ereignisse in der Nacht vom 9. auf den 10.02.2007 ein strafrechtliches Verfahren einzuleiten. Auch dies blieb ohne Erfolg. Es wurde zwar anerkannt, dass die Verletzungen, die der Beschwerdeführer erlitten hatte, auf die fehlende regelmäßige Kontrolle zurückzuführen waren, der Umfang der Schuld möglicher Verantwortlicher ließ sich jedoch nicht bestimmen. Auch das von B. angerufene Verfassungsgericht wies seine Beschwerden zurück.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
B. rügte in seiner Beschwerde vor dem EGMR eine Verletzung der Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). In Bezug auf Artikel 3 EMRK betonte er, dass eine über mehrere Stunden andauernde Fixierung eine unmenschliche Behandlung darstelle. Er kritisierte, dass die Anwendung der Gurte nicht ausreichend protokolliert worden sei. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass er längere Zeit unter den Folgen dieser Behandlung gelitten habe und dass es ihm künftig unmöglich sei, seine Karriere als Violoncellist weiterzuverfolgen. Die tschechische Regierung entgegnete, dass das Fixieren notwendig gewesen sei und seinem Schutz gedient habe.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) auf zweifache Weise fest:
Zum einen wies der EGMR darauf hin, dass in dem vorliegenden Fall allein die Verwendung von Sicherheitsgurten eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellte. Die Anwendung von Sicherheitsgurten sei nur unter folgenden drei Voraussetzungen erlaubt: Erstens müsse die Gewaltanwendung aufgrund des Verhaltens der betreffenden Person erforderlich sein, zum Beispiel wenn die Person sehr aggressiv sei. Eine bloße Unruhe könne nicht die Verwendung der Gurte rechtfertigen. Die Erforderlichkeit stehe erst dann fest, wenn andere mildere Maßnahmen sich als nicht ausreichend erwiesen hätten. Zweitens müsse diese Erforderlichkeit über die ganze Zeit der Anwendung der Maßnahme bestehen, das heißt, sobald sich die betreffende Person beruhigt habe, müssten die Gurte wieder gelöst werden. Drittens bestehe die Pflicht, den Zustand der betreffenden Person regelmäßig zu überprüfen. Da diese drei Voraussetzungen bei B. nicht erfüllt gewesen seien, stelle die Anwendung der Sicherheitsgurte eine Verletzung von Artikel 3 EMRK dar.
Zum anderen stellte der Gerichtshof fest, dass der Staat seine Verpflichtung, eine angemessene und sorgfältige Untersuchung des Vorfalls durchzuführen, nicht erfüllt habe. Hierzu erklärte der Gerichtshof, dass im Fall eines Verdachts einer Verletzung von Artikel 3 EMRK ein Strafverfahren notwendig sei und dieses auch wirksam sein müsse. Das bedeute, dass im Laufe des Verfahren herausgefunden werden müsse, ob der Einsatz von Gewalt tatsächlich notwendig gewesen sei. Auch die Ermittlung und Bestrafung von Schuldigen müsse möglich sein. Da in dem vorliegenden Fall nicht klar gewesen sei, auf welche Beweise die Staatsanwaltschaft ihre Schlussfolgerungen gestützt habe, könne das innerstaatliche Verfahren nicht als sorgfältig anerkannt werden. Somit habe der Staat seine Verfahrenspflichten verletzt.
Der Gerichtshof äußerte sich auch kritisch zu der Art, wie die Angestellten des Krankenhauses den Ablauf der Nacht protokolliert hätten. Die Angaben seien unvollständig und es fehlten die Gründe, warum der Beschwerdeführer hätte angeschnallt werden müssen.
Darüber, ob der Staat mit seinem Verhalten auch gegen Artikel 5 EMRK verstoßen hat, konnte der Gerichtshof nicht entscheiden, da B. den nationalen Rechtsweg nicht ausgeschöpft hatte (die Verfassungsbeschwerde war nicht ordnungsgemäß gestellt worden).
4. Bedeutung der Entscheidung
Die vom Gerichtshof im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall benannten staatlichen Verpflichtungen aus Artikel 3 EMRK spiegeln sich auch in den Artikeln 13 (Zugang zur Justiz), 15 (Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe), 16 (Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch) und 17 (Schutz der Unversehrtheit der Person) der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wider.
Die Entscheidung des EGMR ist aus zwei Gründen von zentraler Bedeutung: Zum einen wurden wichtige Prinzipien genannt, die bei der Anwendung von Gewalt gegenüber psychisch Kranken zu beachten sind. Insbesondere muss der Staat beweisen, dass die Anwendung von Fixierungsmaßnahmen unbedingt erforderlich ist. Diese dürfen nur als letzten Mittel angewandt werden, wenn andere Beruhigungsversuche fehlgeschlagen sind. Für die Überwachung der Anwendung von Gewalt und die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit ist die Erfassung aller wichtigen Daten notwendig. Zum anderen betonte der Gerichtshof die staatliche Verpflichtung, Fälle, bei denen ein Verdacht auf Misshandlung von Personen mit Behinderungen bestehe, sorgfältig auch in einem Strafverfahren zu untersuchen. Ein für die betroffene Person erfolgreiches zivilrechtliches Verfahren allein ist danach nicht ausreichend.
Entscheidung im Volltext: