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Beschwerde-Nr. 36760/06

EGMR, Urteil vom 17.01.2012, Beschwerde-Nr. 36760/06, Stanev gegen Bulgarien

1. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, Herr Stanev (S.), lebt in Bulgarien. Wegen seiner Schizophrenie wurde er arbeitsunfähig erklärt und bezog eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Im Jahr 2000 wurde er von einem Gericht als teilweise geschäftsunfähig erklärt. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass er sich nur eingeschränkt um seine Angelegenheiten kümmern könne. Darüber hinaus habe er sein ganzes Geld für Alkohol ausgegeben und sei nach dem Alkoholkonsum aggressiv. 2002 wurde ein Betreuer für ihn bestellt. Ein paar Tage später schloss der Betreuer - ohne S. darüber zu informieren - eine Vereinbarung über dessen Unterbringung in einem Pflegeheim für geistig behinderte Personen. Das Pflegeheim war 400 km von der Heimatstadt von S. entfernt. Die Lebensbedingungen in dem Heim waren sehr armselig: Die Räume wurden selten beheizt, das Essen war unzureichend und von sehr schlechter Qualität. Die Bewohnerinnen und Bewohner durften den Duschraum nur ein Mal pro Woche nutzen. Es gab kaum Freizeitaktivitäten. S. durfte das Heim nur mit der Erlaubnis des Direktors verlassen. Während seines Aufenthalts standen ihm keine Therapieangebote zur Verfügung.

S. versuchte mehrmals, seine Geschäftsfähigkeit wiederzuerlangen. Seine Versuche blieben jedoch erfolglos. Einerseits war er nicht berechtigt, den Antrag selbst zu stellen, und andererseits weigerten sich die Berechtigten (sein Betreuer, der Staatsanwalt), den nötigen Antrag beim zuständigen Gericht zu stellen.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

S. rügte in seiner Klage vor dem EGMR Verletzungen des Artikels 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie der Artikel 5 Absatz 1 (Recht auf persönliche Freiheit), 5 Absatz 4 (Recht auf richterliche Haftkontrolle), 5 Absatz 5 (Recht auf Haftentschädigung), 6 Absatz 1 (Recht auf Zugang zu einem Gericht), 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde).

Die bulgarische Regierung bestritt, dass es sich in dem vorliegenden Fall um Freiheitsentzug handele. Die Unterbringung in dem Pflegeheim habe aufgrund eines zivilrechtlichen Vertrages stattgefunden. Die Pflegeheime für Erwachsene mit geistigen Behinderungen böten ein weites Angebot an Dienstleistungen, sodass man die Unterbringung in solchen Einrichtungen nicht als Freiheitsentzug betrachten dürfe. Vielmehr sei das eine Schutzmaßnahme, die im Interesse des Beschwerdeführers unternommen worden sei und stelle eine angemessene Reaktion auf einen sozialen und medizinischen Notfall dar.

3. Entscheidung des EGMR

3.1 Freiheitsentzug psychisch kranker Personen (Verstoß gegen Artikel 5 EMRK)

Der EGMR erklärte, dass Bulgarien mehrere Artikel der EMRK verletzt habe. Zum Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5) führte der Gerichtshof aus, dass die Verlegung von S. in das Heim vom Staat ausgegangen sei, sodass diese Maßnahme dem Staat zuzurechnen sei. Die Maßnahme selbst wertete der EGMR im Hinblick auf die schweren und lang andauernden Einschränkungen des Betroffenen als Freiheitsentzug. Eine Freiheitsentziehung sei nur dann gerechtfertigt, wenn alle folgenden Voraussetzungen aus Artikel 5 EMRK erfüllt seien:

a) Es müsse ein gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren existieren.
b) Dieses Verfahren müsse rechtmäßig durch die nationalen Behörden angewendet werden.
c) Die Festnahme müsse aufgrund eines der in Artikel 5 genannten Gründe erfolgen.

Einer der in Artikel 5 EMRK aufgezählten Fälle sei der Freiheitsentzug psychisch kranker Personen. Für die Rechtmäßigkeit der Unterbringung psychisch Kranker sei aber nicht allein die Einhaltung nationaler Vorschriften entscheidend, sondern das innerstaatliche Recht müsse selbst konventionskonform und mit dem Ziel und Zweck von Artikel 5 EMRK - dem Schutz vor willkürlicher Freiheitsentziehung - vereinbar sein. Der Gerichtshof erinnerte hierzu unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung (siehe insbesondere "Winterwerp gegen Niederlande", Beschwerde-Nr. 6301/73) daran, dass die Unterbringung psychisch kranker Personen nur gerechtfertigt sein könne, wenn drei Mindestvoraussetzungen erfüllt seien. Erstens müsse die psychische Krankheit von der zuständigen Stelle festgestellt werden. Zweitens müsse die psychische Störung derart schwerwiegend sein, dass sie eine Unterbringung erfordere (zum Beispiel bei Selbstgefährdung der betreffenden Person). Drittens dürfe die Unterbringung nur so lange andauern, wie die Krankheit bestehe.

In dem vorliegenden Fall hatte der Gerichtshof keine Zweifel an der Rechtswidrigkeit des Freiheitsentzugs. Die Unterbringung geschah nämlich ohne Einwilligung und Kenntnis des Beschwerdeführers, obwohl dies in dem einschlägigen nationalen Gesetz verlangt worden sei. Die staatlichen Stellen hätten auch nicht geprüft, ob eine andere, weniger restriktive Maßnahme ausreichend gewesen wäre, um den Mann im täglichen Leben zu unterstützen. Die Entscheidung, ihn in dem Pflegeheim einzusperren, sei auf eine zwei Jahre alte psychiatrische Expertise gestützt worden. Es fehlte also eine aktuelle medizinische Beurteilung seines Gesundheitszustandes. Die Behörden konnten die Notwendigkeit des Freiheitsentzugs nicht belegen. Es gab insbesondere keine Beweise, dass S. eine Gefahr für sich selbst oder für andere darstellte. In diesem Zusammenhang erklärte der EGMR, dass das Wohlergehen einer Person berücksichtigt werden müsse, jedoch gleichzeitig der objektive Bedarf einer Person an Unterkunft und Betreuung nicht automatisch zu freiheitsentziehenden Maßnahmen führen dürfe. Der Gerichtshof betonte, dass jede Schutzmaßnahme, die der Staat ergreife, so weit wie möglich die Wünsche der Betroffenen widerspiegeln müsse. Das Versäumnis, die Meinung der betroffenen Person einzuholen, könne zu Missbrauch führen und die Ausübung der Rechte schutzbedürftiger Personen behindern. Im vorliegenden Fall fehlte auch eine regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit einer weiter andauernden Unterbringung.

3.2 Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 und 5 EMRK

Ferner bejahte der EGMR eine Verletzung von Artikel 5 Absatz 4 EMRK (Recht auf richterliche Haftkontrolle), da S. keine rechtliche Möglichkeit gehabt habe, die Entscheidung über seine Unterbringung in dem Heim gerichtlich überprüfen zu lassen. Der EGMR kritisierte auch die Tatsache, dass der Betroffene selbst keine Möglichkeit hatte, sich gegen die Entscheidungen seines Betreuers zu wenden.

Der Gerichtshof führte aus, dass ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung den Erfordernissen von Artikel 5 Absatz 4 EMRK entsprechen müsse. Hierzu erklärte der EGMR, dass das Verfahren auf Veranlassung der betroffenen Person erfolgen müsse. Dieses Rechtsmittel müsse für die Betroffenen zugänglich und in angemessenen Abständen möglich sein. Im Fall geistig behinderter Personen müssten gegebenenfalls spezielle verfahrensrechtliche Sicherungen gewährt werden, um die Interessen der Personen zu schützen, die aufgrund ihrer geistigen Behinderung nicht voll in der Lage seien, eigenständig zu handeln. In dem Verfahren müssten auch Mindestverfahrensgarantien beachtet werden. Die Betroffenen müssten sich am Verfahren beteiligen können und die Möglichkeit haben, gehört zu werden, entweder persönlich oder, wenn notwendig, durch eine Vertretung.

Die Verletzung von Artikel 5 Absatz 5 EMRK (Recht auf Haftentschädigung) sah der EGMR in der Tatsache, dass nach bulgarischem Recht kein Verfahren existierte, in dem der Beschwerdeführer eine Entschädigung für den Freiheitsentzug hätte einklagen können.

3.3 Verstoß gegen Artikel 3, 6 und 13 EMRK

Der EGMR bestätigte auch eine Verletzung von Artikel 6 EMRK (Recht auf Zugang zu einem Gericht). S. hatte nämlich keinen direkten Zugang zum Gericht, um die Wiederherstellung seiner Geschäftsfähigkeit zu beantragen. Dazu erklärte der Gerichtshof, dass es sich hier um ein grundlegendes Verfahrensrecht handele. Zugangsbeschränkungen seien zwar möglich, zum Beispiel hinsichtlich der erlaubten Anzahl der Anträge in einem festgelegten Zeitraum, aber eine gänzliche Verweigerung des Zugangs zum Gericht sei mit der EMRK nicht vereinbar.

Darüber hinaus erklärte der EGMR, dass die Lebensbedingungen in dem Pflegeheim gegen Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) verstoßen hätten. Dafür sei es unerheblich, ob der Staat eine Erniedrigungsabsicht habe oder nicht.

Darin, dass es keine Beschwerdemöglichkeit über die Bedingungen in dem Heim gab, sah der EGMR außerdem eine Verletzung von Artikel 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde).

4. Bedeutung der Entscheidung

Der EGMR sah die Unterbringung von S. in dem Heim für psychisch kranke Personen als Freiheitsentzug an. Dieser schwerwiegende Eingriff in die Freiheit des Individuums kann unter besonderen Umständen gerechtfertigt werden. Eine Unterbringung in einer Anstalt für psychisch kranke Personen darf demnach nur erfolgen, wenn ärztlich attestiert wurde, dass eine schwerwiegende Geistesstörung vorliegt, die eine Gefahr für die Betroffenen selbst oder für ihre Mitmenschen darstellt. Artikel 14 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) schützt ebenso die Freiheit und Sicherheit der Person und betont, dass die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen werden kann.

Der EGMR hob in seinem Urteil auch die Bedeutung der Verfahrensrechte hervor, indem er auf die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit weiterer Unterbringung sowie auf eine Entschädigung im Fall einer rechtswidrigen Anwendung dieser Maßnahme hinwies. Das Urteil kritisiert auch, dass der geschäftsunfähige Betroffene kein Recht hatte, seinen Status vom Gericht überprüfen zu lassen. In dem Urteil findet sich ein direkter Verweis auf die in der Behindertenrechtskonvention geforderten Autonomie von Menschen mit Behinderungen, eigene Entscheidungen zu treffen.

Andere Bezugspunkte zur UN-BRK findet man in Artikel 12 (Gleiche Anerkennung vor dem Recht) und Artikel 13 BRK (Zugang zur Justiz) wieder. Der Gerichtshof betonte bestimmte Mindestgarantien, die eine wirksame Teilnahme der Betroffenen am Verfahren gewährleisten sollen. Die Betroffenen müssen sich am Verfahren beteiligen können und die Möglichkeit haben, entweder persönlich oder, wenn notwendig, durch eine Vertretung gehört zu werden. Der EGMR forderte auch spezielle verfahrensrechtliche Sicherungen, um die Interessen der Personen zu schützen, die aufgrund ihrer Behinderung eine Unterstützung im gerichtlichen Verfahren benötigen.

Eine andere wichtige Aussage des Gerichtshofes in diesem Urteil: Bei der Beurteilung, ob eine erniedrigende Behandlung vorliegt, ist keine diesbezügliche staatliche Absicht notwendig. Auch wenn der Staat aus reiner Fürsorge tätig ist, können seine Handlungen zur Verletzung von Artikel 3 EMRK und damit auch Artikel 15 Absatz 2 BRK führen.

Entscheidung im Volltext:

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