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Beschwerde-Nr. 36500/05

EGMR, Urteil vom 13.10.2009, Beschwerde-Nr. 36500/05, Salontaji-Drobnjak gegen Serbien

1. Sachverhalt

Herr Slavko Salontaji-Drobnjak (S. S.-D.) hatte in Serbien seit 1973 circa 200 Zivilklagen und Strafanzeigen gegen verschiedene Personen eingereicht, darunter sein Arbeitgeber und dessen Geschäftsführung sowie diverse Staatsbedienstete und Privatpersonen. Im Jahr 1996 wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen Bedrohung eingeleitet, nachdem er den Geschäftsführer seines Arbeitgebers mit einem Messer bedroht hatte. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass er strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könne, da er nicht fähig sei, seine Handlungen zu kontrollieren und zu verstehen.

Im März 2002 leitete das zuständige Gericht ein Verfahren ein, in dem die Geschäftsfähigkeit von S. S.-D. beurteilt werden sollte und ordnete seine psychiatrische Untersuchung an. S. S.-D. wurde in einem Institut für Psychiatrie untersucht. Im Dezember 2004 befand das Institut, dass S. S.-D. an Querulantenwahn leide und empfahl, seine Geschäftsfähigkeit einzuschränken. Im Februar 2005 fand hierzu eine mündliche Anhörung statt. S. S.-D. nahm daran nicht teil, da er sich zu diesem Zeitpunkt aufgrund eines anderen Strafverfahrens in Untersuchungshaft befand. Er wurde durch einen vom Staat bestellten Anwalt repräsentiert, zu dem er jedoch nie Kontakt gehabt hatte. Im Anschluss an die Anhörung beschränkte das Gericht die Geschäftsfähigkeit von S. S.-D. In seiner Begründung stützte sich das Gericht auf das Gutachten des Instituts für Psychiatrie. Ohne dies näher zu begründen, stellte das Gericht auch fest, dass es nicht notwendig gewesen wäre, S. S.-D. anzuhören. 2006 wurde das Urteil in letzter Instanz bestätigt.

Im Februar 2005 wurde S. S.-D. festgenommen und wegen Bedrohung eines Richters angeklagt. Er wurde erneut einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen. Hierbei wurde bei ihm eine Borderline-Persönlichkeitsstörung festgestellt, die jedoch nicht als psychische Krankheit gilt. Daher wurde seine strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit nicht ausgeschlossen. Im Jahr 2006 wurde er verurteilt.

Seit 2005 versuchte S. S.-D. mehrmals, seine Geschäftsfähigkeit wiederherstellen zu lassen. Seine Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass er nicht fähig sei, sich selbst vor Gericht zu vertreten. Die Anträge seines Betreuers wurden wiederum mit der Begründung abgelehnt, dass der Betreuer ohne Zustimmung der zuständigen Behörde keine entsprechende Klagebefugnis habe. Das zuständige Amt verweigerte ebenfalls die Zustimmung und begründete dies mit der Behauptung, dass S. S.-D. prozesssüchtig sei.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

S. S.-D. beschwerte sich vor dem EGMR über die Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK) in Bezug auf das Verfahren, in dem seine Geschäftsfähigkeit eingeschränkt wurde. Dabei hob er unter anderem hervor, dass er aus der Schlussgerichtsverhandlung ausgeschlossen und nicht wirksam vertreten worden sei. Des Weiteren rügte er, dass er keinen Zugang zum Gericht habe, um die Wiederherstellung seiner Geschäftsfähigkeit zu beantragen. Darüber hinaus brachte er vor, dass die Einschränkung seiner Geschäftsfähigkeit nicht verhältnismäßig gewesen sei und somit Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzt worden sei.

3. Entscheidung des EGMR

3.1 Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK)

Der EGMR stellte im Hinblick auf das gerichtliche Verfahren, in dem über die Geschäftsfähigkeit von S. S.-D. entschieden wurde, eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest. Die Verletzung leitete der Gerichtshof aus den folgenden Tatsachen ab: Erstens sei S. S.-D. von der Schlussgerichtsverhandlung ausgeschlossen worden und hätte sich deswegen nicht persönlich zum Bericht der Sachverständigen äußern können. Zweitens böte die diesbezügliche Entscheidung des Gerichts keine Erklärung, warum das Gericht das Erscheinen von S. S.-D. für nicht zweckmäßig hielt. Drittens hätte sich S. S.-D. nicht mit dem ihm zugewiesenen Rechtsanwalt treffen können, um ihm Anweisungen zu erteilen.

3.2 Recht auf Zugang zum Gericht (Artikel 6 EMRK)

Weiterhin beschäftigte sich der EGMR damit, dass S. S.-D. nicht das Verfahren zur Wiederherstellung seiner Geschäftsfähigkeit einleiten konnte. Hierzu erklärte der Gerichtshof, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht absolut sei und Beschränkungen unterliegen könne. Die Vertragsstaaten genössen dabei einen gewissen Ermessensspielraum. Diese Zugangsbeschränkungen dürften aber nicht den Kern dieses Rechts beeinträchtigen. Sie müssten ein legitimes Ziel verfolgen und dürften zur Verwirklichung dieses Ziels keine unverhältnismäßigen Mittel einsetzen.

Nach der Analyse des Sachverhalts kam der EGMR zu dem Schluss, dass in dem vorliegenden Fall der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zum Gericht berührt worden sei. Die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit von S. S.-D. sei im Einklang mit nationalem Recht erfolgt, aber gleichwohl unverhältnismäßig gewesen. Drei Aspekte waren dabei für den Gerichtshof entscheidend: Erstens sei über vier Jahre hinweg keine Entscheidung in der Sache getroffen, obwohl S. S.-D. und sein Betreuer zahlreiche Anträge auf Wiederherstellung der Geschäftsfähigkeit gestellt hätten. Zweitens habe es in der gesamten Zeit keine umfangreiche psychiatrische Untersuchung von S. S.-D. gegeben. Drittens hätte die innerstaatliche Rechtsordnung keine regelmäßige Überprüfung seines Zustands vorgesehen.

3.3 Recht auf Privatsphäre (Artikel 8 EMRK)

Der EGMR stellte ebenfalls eine Verletzung von Artikel 8 EMRK in Bezug auf die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit von S. S.-D. fest. Der Gerichtshof erklärte hierzu, dass die Staaten einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen einer Person mit geistiger Behinderung und anderen legitimen Zielen anstreben sollten. Allerdings hätten die staatlichen Behörden in solch einer komplexen Angelegenheit wie der Beurteilung der geistigen Fähigkeiten einer Person grundsätzlich einen großen Beurteilungsspielraum. Dies habe hauptsächlich damit zu tun, dass sie gegenüber dem EGMR den Vorteil hätten, in direktem Kontakt mit der betroffenen Person zu stehen und daher besonders gut in der Lage seien, solche Fragen zu beurteilen. Der EGMR sei dagegen dazu berufen, die von den staatlichen Behörden getroffenen Entscheidungen anhand der EMRK zu überprüfen. Der staatliche Beurteilungsspielraum variiere aber in Abhängigkeit von der Art des Eingriffs und dem Gewicht der betroffenen Interessen. Bei sehr weitgehenden Einschränkungen der Privatsphäre sei eine striktere Kontrolle durch den Gerichtshof geboten.

Bezogen auf den Fall von S. S.-D. befand der EGMR, dass die Maßnahme nicht verhältnismäßig gewesen sei, unter anderem weil die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit in einem unfairen Verfahren erfolgt und die gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung mehr als vier Jahre verschleppt worden sei. Darüber hinaus erwähnte der EGMR, dass der Staat zwar ein Interesse daran haben könne, dass missbräuchliche Klagen verhindert würden, dieses Ziel jedoch mit anderen wirksamen Mittel erreicht werden könne, ohne dass auf Maßnahmen zurückgegriffen werden müsse, die die Geschäftsfähigkeit berührten.

4. Bedeutung der Entscheidung

Wie dieses Urteil des EGMR zeigt, ist das Recht auf Zugang zum Gericht und damit auf eine Entscheidung durch ein Gericht für ein faires Verfahren eine sehr wichtige Garantie (siehe auch "Shtukaturov gegen Russland", Beschwerde-Nr. 44009/05; "Stanev gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 36760/06), die auch im Fall beschränkter Geschäftsfähigkeit voll zum Tragen kommt. Dieses Recht ist sowohl in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 6 EMRK) als auch in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (Artikel 13 UN-BRK) geregelt. Der Gerichtshof betonte die Bedeutung der direkten Teilnahme der Betroffenen an dem Verfahren für ein faires Verfahren. Dazu zählt auch das Recht, persönlich angehört zu werden. Diese Rechte spiegeln sich auch in den Artikeln 12 Absatz 4 und 13 UN-BRK wider.

Die Entscheidung ist auch ein Beispiel dafür, dass Beschränkungen der Geschäftsfähigkeit unter Umständen auch eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre gemäß Artikel 22 UN-BRK darstellen können.

Entscheidung im Volltext:

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