Beschwerde-Nr. 25536/14
EGMR, Urteil vom 28.03.2017, Beschwerde-Nr. 25536/14, Škorjanec gegen Kroatien
1. Sachverhalt
Die Beschwerdeführende und ihr Partner, der der ethnischen Gruppe der Roma angehört, waren im Juni 2013 angegriffen und mit rassistischen Anti-Roma-Äußerungen beschimpft worden. Die Angreifer_innen wurden wegen rassistisch motivierter Gewaltattacken gegen den Partner 2014 verurteilt. Die kroatischen Ermittlungsbehörden stellten jedoch das Verfahren bezüglich rassistisch motivierter Gewalt im Hinblick auf die Angriffe gegen die Beschwerdeführende selbst 2014 mit der Begründung ein, dass die Gewalt, die gegen sie ausgeübt wurde, nicht rassistisch motiviert gewesen sei, da sie keine Romni sei. Sie wurde darauf hingewiesen, dass eine Strafverfolgung wegen der Körperverletzung, die sie erlitten hatte, nur mittels einer Privatklage erfolgen könne.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Die Beschwerdeführende berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2014 unter anderem auf Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), da die kroatischen Behörden es versäumt hätten, die diskriminierenden Motive der Gewalt zu untersuchen, nur weil sie selbst nicht der ethnischen Gruppe der Roma angehöre. Sie führte aus, dass das kroatische Rechtssystem keinen Schutz gegen Diskriminierung durch Assoziierung biete.
Die kroatische Regierung, gegen die die Beschwerde gerichtet war, wies diese zurück. Die Betroffene habe nicht den Rechtsweg erschöpft. So hätte sie Strafantrag stellen oder Schadenersatz verlangen können. Die Beschwerdeführende erklärte, sie habe den Rechtsweg erschöpft und die Beschwerde beim EGMR erst eingereicht, als klar war, dass die Angreifer_innen wegen der Gewalt an ihr nicht bestraft werden.
Zur Frage, ob die Beschwerde begründet war, führte die Regierung aus, die Polizei habe sorgfältig ermittelt. Es sei festgestellt worden, dass der Partner der Beschwerdeführende Opfer einer rassistischen Attacke gewesen und dass er allein Ziel der Attacke gewesen sei. Sie sei nur ein zufälliges Opfer gewesen, weil sie ihrem Partner zu helfen versucht hatte. In dem Verfahren habe sie auch nicht angedeutet, dass sie aufgrund der Roma-Herkunft ihres Partners zum Opfer geworden sei. Unter diesen Umständen hätten die Behörden alles getan, was berechtigterweise erwartet werden konnte, um die Umstände der Attacke auf die Beschwerdeführende aufzuklären.
3. Entscheidung des EGMR (Rz. 35 ff)
Der EGMR stellte eine Verletzung von Artikel 3 EMRK unter seinem verfahrensrechtlichen Aspekt in Verbindung mit Artikel 14 EMRK fest, da Kroatien gegen die Verpflichtung zur effektiven Untersuchung möglicher rassistischer Motive verstoßen hat.
Rechtswegerschöpfung (Rz. 42 ff)
Hinsichtlich der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs führte der EGMR aus, dass es nicht mehr notwendig ist eine Privatklage zu erheben, wenn der_die Betroffene Strafanzeige erstattet hat, insbesondere, da in einem solchen Strafverfahren nicht das Vorliegen von rassistischen Äußerungen beziehungsweise rassistisch motivierter Gewaltanwendung behandelt worden wäre. Dies sei jedoch ein essenzieller Bestandteil ihrer Beschwerde gewesen.
Staatliche Verfahrensverpflichtungen aus Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK (Rz. 52 ff)
Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung betonte der EGMR die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK, bei gewaltsamen Akten mögliche rassistische Motive zu untersuchen. Besteht der Verdacht, dass gewaltsame Handlungen aus rassistischen Anschauungen motiviert waren, sind die Behörden verpflichtet, alle vernünftigen Maßnahmen zu ergreifen, um diese Frage aufzuklären ("Abdu gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 26827/08). Die Gleichbehandlung von Straftaten mit und ohne rassistische Motivation käme einer wissentlichen Ignorierung der spezifischen Art der Hassdelikte gleich, die sich besonders verheerend auf grundlegende Menschenrechte auswirken. Das Versäumnis einer solchen Unterscheidung kann eine ungerechtfertigte, mit Artikel 14 EMRK unvereinbare Behandlung darstellen.
Der EGMR erklärte, dass diese Verpflichtung ebenso gilt, wenn Personen Opfer sind, die aufgrund ihrer persönlichen Merkmale nicht selbst das Ziel des ethnischen Hasses sind, jedoch mit einer solchen Person in Verbindung stehen.
Der EGMR stellte fest, dass Kroatien eine gesetzliche Rechtsgrundlage geschaffen hat, die einen angemessenen Schutz vor Misshandlung mit rassistischem Hintergrund bieten kann. Insbesondere rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe gelten bei Straftaten als erschwerender Umstand. Nach den entsprechenden Vorschriften war es auch nicht notwendig, dass das Opfer ein "Schutzmerkmal" aufweist, um von einem Hassdelikt auszugehen.
Im vorliegenden Fall hatten die Behörden über plausible Hinweise auf ein mögliches rassistisches Motiv für die Gewaltanwendung gegen die Beschwerdeführende verfügt. Sie hatten jedoch ihre Ermittlungen und die Analyse der rassistischen Motive der Gewaltakte nur auf ihren Partner beschränkt, weil sie selbst keine Romni war. Sie hatten auch nicht untersucht, ob die Beschwerdeführende von den Angreifer_innen als Roma-Angehörige wahrgenommen wurde. Die Verbindung zwischen dem rassistischen Motiv der Attacke und der Beziehung der Beschwerdeführenden zu ihrem Partner war auch nicht berücksichtigt worden. Somit hat Kroatien gegen seine Verpflichtung aus Artikel 3 EMRK verstoßen, alle vernünftigen Schritte zur Aufdeckung rassistischer Motive zu unternehmen.
Entschädigung
Der EGMR sprach der Beschwerdeführenden Schmerzensgeld in Höhe von 12.500 Euro zu.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
Der EGMR erklärte, der Staat ist verpflichtet, nicht nur Vorwürfe wegen Misshandlungen zu untersuchen, sondern auch Vorwürfe, denen zufolge diese Misshandlungen rassistisch motiviert und damit diskriminierend gewesen seien. Da rassistisch motivierte Gewalt auch gegenüber Personen erfolgen kann, die zwar selbst nicht das Ziel des Hasses sind, aber zu solchen Personen in Verbindung stehen, muss die Untersuchung entsprechend durchgeführt werden. Insbesondere ist eine sorgfältige Analyse und Beurteilung der Motive für die Gewaltakte notwendig.