Beschwerde-Nr. 20082/02
EGMR, Urteil vom 16.07.2009, Beschwerde-Nr. 20082/02, Zehentner gegen Österreich
1. Sachverhalt
Frau Zehentner (Z.) wohnte in einer Eigentumswohnung in Österreich. Wegen einer unbezahlten Rechnung für Installationsarbeiten von circa 7.500 € wurde die Wohnung zwangsversteigert und zwangsgeräumt.
Vier Monate nach der Zwangsversteigerung stellte sich heraus, dass Z. seit mehreren Jahren unter einer paranoiden Psychose litt, die ihre Fähigkeit zu rationalen Lebensentscheidungen stark einschränkten. Aufgrund dessen wurde für sie ein Betreuer bestellt. Wenige Tage nach seiner Ernennung beantragte der Betreuer vor dem zuständigen Gericht die Nichtigkeit der Zwangsversteigerung wegen mangelnder Prozessfähigkeit von Z. Dieser Antrag wurde jedoch in allen Instanzen abgewiesen, da die vierzehntägige Frist zur Einreichung dieses Rechtsmittels bereits abgelaufen war. Der in letzter Instanz zuständige Oberste Gerichtshof sah die absolute vierzehntägige Ausschlussfrist als verfassungsgemäß an und begründete dies unter anderem mit dem notwendigen Käuferschutz. Die Frage, ob Z. zum Zeitpunkt des Verfahrens prozessunfähig war, wurde dabei als irrelevant angesehen.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Vor dem EGMR brachte Z. vor, dass die Zwangsversteigerung ihrer Wohnung eine Verletzung ihres Eigentumsrechts darstelle. Sie berief sich in ihrer Beschwerde auf Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Z. reichte ihre Beschwerde selbst ein. Sie erklärte, dass sie nicht durch den Betreuer vertreten werden möchte und dass sie keinen anderen Vertreter habe. Nach der Übermittlung der Beschwerde an die Regierung informierte der Betreuer den EGMR, dass sie der Einbringung der Beschwerde nicht zugestimmt habe und diese zurückziehen wolle. Der Gerichtshof wies den Antrag des Betreuers zurück und gestattete Z., ihren Fall selbst zu vertreten.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass er nicht an die Formulierung der Beschwerde gebunden sei. Deswegen zog er zusätzlich eine Verletzung des Rechts auf Wohnung (Artikel 8 EMRK), des Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK) und des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Artikel 13 EMRK) in Betracht.
Die Zwangsversteigerung sah der EGMR als einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8 EMRK an - wozu auch das Recht auf Achtung der Wohnung gehört. Da der Entzug der eigenen Wohnung einer der schwersten Eingriffe in dieses Recht sei, müsse laut EGMR jede davon betroffene Person die Möglichkeit haben, die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme von einem unabhängigen Gericht überprüfen zu lassen. Eine besondere Bedeutung komme dabei den prozessualen Sicherungen ("procedural safeguards") zu.
Im Fall von Z. sah der Gerichtshof die Rechtsverletzung darin, dass ihr nach Feststellung ihrer mangelnden rechtlichen Handlungsfähigkeit keine Möglichkeiten eingeräumt worden seien, die Zwangsversteigerung noch einmal gerichtlich prüfen zu lassen. Zwar hätten die nationalen Gerichte zum Zeitpunkt der Zwangsversteigerung noch nicht wissen können, dass Z. prozessunfähig gewesen sei. Jedoch habe das spätere Betreuungsverfahren ergeben, dass sie bereits seit mehreren Jahren nicht in der Lage gewesen sei, effektiv an einem Verfahren teilzunehmen. Trotzdem sei ihr die Möglichkeit der Überprüfung ihres Falles verweigert worden. Der EGMR rügte, dass die österreichischen Gerichte keine Abwägung zwischen den Interessen des gutgläubigen Meistbieters und den Interessen der prozessunfähigen Schuldnerin vornahmen, sondern ihre Entscheidung allein mit dem Ablauf der absoluten Frist begründeten. Der Gerichtshof akzeptierte zwar, dass es gute Gründe für Ausschlussfristen zum Schutz des gutgläubigen Meistbieters bei einer Zwangsversteigerung und für die Rechtssicherheit gebe. Diese Gründe rechtfertigten aber nicht, dass die Betroffene keine Möglichkeit gehabt habe an dem Verfahren teilzunehmen und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen.
Zugleich stellte der EGMR auch eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Eigentums (Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK) fest. Dazu erklärte der Gerichtshof, dass dieses Recht auch Verfahrensgarantien beinhalte, die in diesem Fall verletzt worden sein. Auch wenn das innerstaatliche Verfahren sich auf eine Streitigkeit zwischen Privatparteien bezogen habe, sei der Staat jedoch verpflichtet, den Streitparteien ein faires gerichtliches Verfahren zur Verfügung zu stellen, in dem die Interessen aller Parteien adäquat berücksichtigt werden könnten. Da die absolute Frist zur Einreichung des Rechtsmittels Z. den Rechtsweg verschlossen habe, sei diese Garantie laut EGMR verletzt worden.
Angesichts der festgestellten Verletzung der Artikel 8 EMRK und 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK hielt es der EGMR für nicht notwendig, die Verletzung von Artikel 6 und 13 EMRK zu prüfen.
4. Bedeutung der Entscheidung
Der EGMR beschäftigte sich in dieser Entscheidung erneut mit den staatlichen Verfahrensverpflichtungen gegenüber besonders schutzbedürftigen Personen und betonte diese Verpflichtung im Kontext des Eigentumsschutzes und des Rechts auf Achtung der Wohnung. Der Gerichtshof stellte klar, dass es nicht ausreicht, formal die Möglichkeit einzuräumen, Eingriffe gerichtlich überprüfen zu lassen, wenn Betroffene diese Möglichkeit aufgrund ihres psychischen Gesundheitszustands nicht in Anspruch nehmen können. Staaten müssen angemessene Maßnahmen im Einzelfall - hier eine Ausnahme von der strengen Fristregelung - vorsehen, um sich menschenrechtskonform zu verhalten.
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund von Artikel 13 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wichtig, wonach die Vertragsstaaten Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zur Justiz gewährleisten, unter anderem durch verfahrensbezogene Vorkehrungen, um ihre wirksame Teilnahme an Gerichtsverfahren zu erleichtern. Die erwähnte Ausnahme bezüglich einer absoluten Frist zur Abgabe des Rechtmittels wäre ein Beispiel für solch eine verfahrensbezogene Vorkehrung im Sinne von Artikel 13 Absatz 1 UN-BRK.
Die Entscheidung ist auch aus Sicht des Artikels 12 UN-BRK interessant: Der EGMR gestattete Z., an dem Verfahren in ihrem eigenen Namen teilzunehmen, obwohl sie nach österreichischem Recht prozessunfähig war. Darüber hinaus hat der Gerichtshof die Beschwerde in einer beschwerdeführerfreundlichen Weise gelesen und selbstständig weitere relevante Artikel geprüft, obgleich diese in der Beschwerde nicht genannt wurden.#
Entscheidung im Volltext: