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Beschwerde-Nr. 13469/06

EGMR, Urteil vom 14.02.2012, Beschwerde-Nr. 13469/06, D. D. gegen Litauen

1. Sachverhalt

Die litauische Beschwerdeführerin, Frau D. D. (D. D.), leidet seit 1979 an psychischen Störungen. Im Jahr 2000 wurde sie für geschäftsunfähig erklärt. Das Gericht stützte seine Entscheidung auf einen ärztlichen Bericht, in dem unter anderem festgestellt wurde, dass D. D. unfähig sei "ihre Handlungen zu verstehen und zu kontrollieren". Im Jahr 2002 wurde sie unter Betreuung gestellt. Am 30.06.2004 wurde sie auf Initiative ihres Adoptivvaters, der damals gleichzeitig ihr Betreuer war, in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen und dort untersucht. Am 08.07.2004 kam eine medizinische Kommission dieses Krankenhauses zu dem Schluss, dass D. D. unter "anhaltender paranoider Schizophrenie" leide. Gleichzeitig stellte die Kommission fest, dass die Unterbringung von D. D. in einer Einrichtung für geistig behinderte Personen angemessen sei. Am 02.08.2004 wurde zwischen dem Krankenhaus sowie den örtlichen Betreuungs- und Sozialbehörden eine Vereinbarung über ihre Unterbringung in einem Pflegeheim für Personen mit geistigen Behinderungen geschlossen.

D. D. versuchte vergeblich vor den nationalen Behörden und Gerichten zu beantragen, dass ein neuer Betreuer für sie bestellt werde. Ihre zahlreichen Beschwerden gegen die Unterbringung blieben ebenso erfolglos.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Vor dem EGMR rügte D. D. insbesondere, dass ihr durch die Unterbringung in einer Einrichtung gegen ihren Willen unrechtmäßig die Freiheit entzogen worden sei (Artikel 5 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK). Des Weiteren beschwerte sie sich über die Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK). Darüber hinaus machte sie die Verletzung von Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) geltend.

3. Entscheidung des EGMR

3.1 Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK)

Der Gerichtshof befasste sich als Erstes mit dem Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK) im Hinblick auf das Betreuungsverfahren. Hierzu erklärte er, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht absolut sei und Beschränkungen unterliegen könne. Der Gerichtshof erinnerte unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung (siehe "Winterwerp gegen Niederlande", Beschwerde-Nr. 6301/73), dass es in bestimmten Fällen notwendig sei, Beschränkungen des Rechts geistig behinderter Menschen auf Zugang zu einem Gericht einzuführen, etwa wenn jemand absolut unfähig sei, die eigene Meinung in verständlicher Weise darzustellen. Diese Zugangsbeschränkungen dürften aber nicht den Kern dieses Rechts beeinträchtigen.

Wenn die betreffende Person aufgrund einer psychischen Krankheit ihre Angelegenheiten nicht besorgen kann, bedeute das nicht, dass sie nicht in der Lage sei, ihre Meinung zu äußern. Besonders in Fällen, wenn ein Konflikt zwischen der betreffenden Person und deren Betreuer bestehe, sollte sichergestellt werden, dass der oder die Betroffene direkten Zugang zum Gericht habe und entweder persönlich oder, wenn notwendig, durch eine Vertretung gehört werde. Um die Interessen geistig behinderter Personen zu schützen, die wegen ihrer Behinderung nicht voll in der Lage seien, eigenständig zu handeln, müssten spezielle verfahrensrechtliche Sicherungen ("special procedural safeguards") gewährt werden.

Der Gerichtshof durfte zwar im vorliegenden Fall das Verfahren aus dem Jahr 2000 wegen Fristablauf nicht beurteilen, merkte jedoch kritisch an, dass D. D. an dem Verfahren nicht teilgenommen habe und dass das Gericht lediglich aufgrund eines Sachverständigengutachtens entschieden habe, ohne den Sachverständigen selbst anzuhören.

Gegenstand der Prüfung durch den EGMR war lediglich das Verfahren, in dem über den Antrag auf Betreuerwechsel entschieden wurde. Als besonders negativ bewertete der EGMR, dass D. D. keinen Rechtsbeistand bekommen habe. Der Gerichtshof kritisierte auch, dass die Stimmung im Gerichtsaal dazu beigetragen habe, dass sich D. D. isoliert und minderwertig gefühlt habe. Sie sei allein gelassen worden und niemand habe ihre Interessen repräsentiert. Dies habe dazu geführt, dass in dem Verfahren ihre Interessen nicht richtig verteidigt wurden und somit Artikel 6 EMRK verletzt worden sei.

3.2 Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5 EMRK)

Weiter prüfte der Gerichtshof, ob D. D. durch ihre unfreiwillige Unterbringung die Freiheit im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 EMRK entzogen worden sei. Als entscheidenden Faktor sah der EGMR die Tatsache an, dass in dem Pflegeheim durch die Verabreichung von Medikamenten und durch die Überwachung eine völlige und wirksame Kontrolle der Beschwerdeführerin stattgefunden habe. Sie durfte nicht ohne Erlaubnis die Einrichtung verlassen. Es wurde für sie entschieden, von wem sie Besuche empfangen könne und mit wem sie telefonieren dürfe. Diese Einschränkungen bedeuteten laut EGMR einen Freiheitsentzug im Sinne der EMRK. Die EMRK gestatte jedoch den Freiheitsentzug bei Personen mit psychischen Krankheiten, wenn drei bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien: Erstens müsse die geistige Störung von der zuständigen Stelle festgestellt werden. Zweitens müsse die geistige Störung derart schwerwiegend sein, dass sie eine Unterbringung erfordere (zu Beispiel bei Selbstgefährdung der Betroffenen). Drittens dürfe die Unterbringung nur so lange andauern, wie die Krankheit bestehe.

Mit einer sehr knappen Begründung sah der EGMR die erste und zweite Voraussetzung als erfüllt an. Entscheidend sei in diesem Fall, dass D. D. kurz vor ihrer Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen und dort untersucht worden sei. Die Diagnose habe die Zwangsunterbringung gerechtfertigt. Damit kam der Gerichtshof zum Ergebnis, dass die Unterbringung in das Pflegeheim am 02.08.2004 den Artikel 5 Absatz 1 EMRK nicht verletzt habe.

Der Gerichtshof prüfte weiter, ob das Recht auf richterliche Überprüfung der Notwendigkeit der Freiheitsentziehung verletzt worden sei. Diese Garantie ist in Artikel 5 Absatz 4 EMRK enthalten. Zunächst fasste der EGMR die hierfür geltenden, allgemeinen Prinzipien wie folgt zusammen:

a) Die betroffene Person müsse grundsätzlich berechtigt sein, in angemessenen Abständen ein Verfahren zu initiieren, in dem die Notwendigkeit des Freiheitsentzugs durch ein Gericht überprüft werde.
b) Das Verfahren müsse gerichtlichen Charakter haben.
c) In dem Verfahren müssten Mindestverfahrensgarantien beachtet werden. Insbesondere müssten sich die Betroffenen am Verfahren beteiligen können und die Möglichkeit haben, entweder persönlich oder, wenn notwendig, durch eine Vertretung gehört zu werden. Im Fall geistig behinderter Betroffener seien gegebenenfalls spezielle verfahrensrechtliche Sicherungen zu gewähren, um die Interessen der Personen zu schützen, die aufgrund ihrer geistigen Behinderung nicht voll in der Lage seien, eigenständig zu handeln.

Ausschlaggebend für die Verletzung dieser Garantie im vorliegenden Fall sei die Tatsache, dass D. D. überhaupt keine rechtliche Möglichkeit gehabt habe, einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung ihrer Zwangsunterbringung zu stellen.

3.3 Verstoß gegen die Artikel 3 und 8 EMRK

D. D. hob in Bezug auf die Artikel 3 und 8 EMRK drei Argumente hervor: Erstens sei sie gezwungen worden, bestimmte Medikamente einzunehmen, ohne darüber informiert zu werden, zweitens sei sie am 25.01.2005 am Bett fixiert worden und drittens sei das Essen von sehr schlechter Qualität gewesen.

Der EGMR ging nur auf die beiden letzten Punkte ein und stellte im Ergebnis keine Verletzung fest. Zu der Fixierung akzeptierte der Gerichtshof die Erklärung der Regierung. Insbesondere sei die Notwendigkeit der Fixierung mit der Lebensgefahr von D. D. erklärt. Die gesamte Dauer der Fixierung, die 30 Minuten nicht überschritten habe, sei den Umständen angemessen gewesen. Dass ihr in dieser Zeit eine kleine Dosis eines beruhigenden Medikaments verabreicht worden sei, wurde vom Gerichtshof im Hinblick auf ihren Zustand ebenfalls als notwendig akzeptiert. Die Beschwerde über das Essen wies der Gerichtshof zurück, da die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht erreicht worden sei.

4. Bedeutung der Entscheidung

Das Urteil in der Rechtssache "D. D. gegen Litauen" ist nur wenige Wochen nach dem Urteil "Stanev gegen Bulgarien" (Beschwerde-Nr. 36760/06) ergangen. Auf dem ersten Blick weisen die Sachverhalte der beiden Fälle viele Ähnlichkeiten auf. Beide betreffen Personen, die für geschäftsunfähig erklärt worden sind, für die ein Betreuer bestellt wurde und die ohne ihre Einwilligung in einer Einrichtung für psychisch kranke Personen untergebracht wurden. Dennoch ist die Beurteilung des vorliegenden Falles ganz anders ausgefallen als in dem Fall "Stanev gegen Bulgarien".

Vor allem der Freiheitsentzug wurde als vereinbar mit der EMRK angesehen. Im Unterschied zu dem Fall "Stanev gegen Bulgarien" wurde die Beschwerdeführerin kurz vor ihrer Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen und dort untersucht. Ein ärztliches Gutachten hat das Bestehen einer tatsächlichen derartigen Geistesstörung bestätigt, die eine zwangsweise Unterbringung nach Ansicht des EGMR in diesem Fall rechtfertigte.

Der Gerichtshof stellte aber klar, dass auch wenn eine Unterbringung an sich gerechtfertigt sei, den Betroffenen gleichwohl bestimmte Verfahrensgarantien gewährt werden müssen. Im Zusammenhang mit Artikel 5 Absatz 4 und Artikel 6 EMRK erinnerte der EGMR daran, dass der Staat verpflichtet sei, geistig behinderten Personen eine tatsächliche und wirksame Beteiligung an einem Verfahren zu verschaffen.

Ähnlich sind die Staaten gemäß der Artikel 12 und 13 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen und einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz zu gewährleisten. Hierbei ist es wichtig, dass der Wille der betroffenen Personen, auch wenn diese nicht voll handlungsfähig sind, berücksichtigt wird. Dazu muss die Person angehört werden. Diese Garantie spiegelt sich besonders in den Artikeln 12 Absatz 4 und 13 Absatz 1 UN-BRK wider.

Entscheidung im Volltext:

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