Beschwerde-Nr. 13444/04
EGMR, Urteil vom 30. April 2009, Beschwerdenummer 13444/04, Glor gegen Schweiz
1. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer, Sven Glor (S. G.), ein Schweizer Staatsbürger, wurde im Jahr 1997 wegen Diabetes Typ 1 als untauglich für den Militärdienst erklärt. Nach dem schweizerischen Recht waren männliche Staatsbürger, die keinen Wehrdienst leisteten, zur Zahlung einer sogenannten Militärdienstersatzsteuer gesetzlich verpflichtet. Ausgenommen waren nur Männer mit einer "schweren" Behinderung; die Grenze hierfür lag bei einer mindestens 40-prozentigen Beeinträchtigung. Da die Behinderung des S. G. als weniger schwer eingestuft wurde, wurde er aufgefordert, für das Jahr 2000 eine Militärdienstersatzsteuer in Höhe von 716 Schweizer Franken (ca. 477 Euro) zu zahlen.
S. G. klagte bei den zuständigen Behörden und Gerichten, dass er in diskriminierender Weise behandelt worden sei. Er hob insbesondere hervor, dass er selbst den Militärdienst bzw. Ersatzzivildienst stets leisten wollte, jedoch wegen seiner Krankheit nicht zum Militärdienst zugelassen wurde und der Ersatzzivildienst nur Personen offenstand, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigerten. Seine Klage wurde mit der Begründung abgewiesen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nicht erfüllt waren.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
S. G. rügte eine Verletzung von Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz).
3. Entscheidung des EGMR
Der EGMR stellte eine zweifache Ungleichbehandlung aufgrund der Behinderung fest. Zum einen wurde S. G. benachteiligt gegenüber Personen, die einen höheren Behinderungsgrad vorweisen können. Diese Personen waren vom Militärdienst und von der Ersatzsteuer befreit. Zum anderen wurde S. G. gegenüber Personen benachteiligt, die aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigert haben. Diese konnten nämlich zwischen dem Ersatzzivildienst und der Ersatzsteuer wählen. Personen mit Behinderung war es hingegen nicht erlaubt, den Zivildienst zu leisten.
Diese Ungleichbehandlung war, so der EGMR, nicht gerechtfertigt, somit eine Diskriminierung und verstieß damit gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK). Der Gerichtshof bemängelte zum einen, dass die individuelle Einkommenssituation von S. G. bei der Bemessung der Steuer nicht berücksichtigt worden war, obwohl die Höhe der Steuer und der Zeitraum für den die Steuer zu bezahlen war, nicht unerheblich waren. Zudem rügte der EGMR, dass für Menschen, die wie S. G. trotz einer Behinderung den Militär- bzw. Zivildienst leisten wollten, keinerlei geeigneten alternativen Formen des Militär- oder Ersatzdienstes zur Verfügung standen, die den jeweiligen Fähigkeiten der betreffenden Person angepasst waren. Der Gerichtshof konnte nicht erkennen, warum derartiges nicht möglich sein sollte. Der EGMR widersprach damit dem Argument der Regierung, die Ersatzsteuer schaffe einen fairen Ausgleich zwischen den Militärdienstleistenden und den vom Dienst Befreiten.
4. Bedeutung der Entscheidung
In dieser Entscheidung stellt der EGMR zum einen ausdrücklich klar, dass eine Behinderung zwar nicht ausdrücklich als verbotener Diskriminierungsgrund in Art. 14 EMRK genannt wird, dass diese Bestimmung aber ohne jeden Zweifel auch Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung verbietet.
Im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die nunmehr in ihrem Art. 5 ausdrücklich jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung verbietet, sind insbesondere die Ausführungen der Straßburger Richterinnen und Richter interessant, die geeignete alternative Formen des Militär- oder Ersatzdienstes fordern. Ein pauschaler Ausschluss von staatsbürgerlichen Diensten, ohne im Bedarfsfall die Prüfung gangbarer Alternativen vorzusehen, die dem jeweiligen Grad der Behinderung und den Fähigkeiten der Betroffenen entsprechen, wäre im Lichte dieser Entscheidung als "Versagung angemessener Vorkehrungen" im Sinne Art. 5 UN-BRK – und damit als verbotene Diskriminierung - anzusehen. Angemessene Vorkehrungen sind gemäß Art. 2 Unterabsatz 5 UN-BRK "notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können".
Zudem nimmt diese Entscheidung des EGMR als eine der ersten auf die UN-BRK Bezug, und zwar (in Absatz-Nr. 53) in einem bedeutungsvollen Zusammenhang: Der Gerichtshof rechnet das Übereinkommen, obwohl es die Schweiz noch nicht ratifiziert hatte, ausdrücklich zu denjenigen internationalen Instrumenten, die zum Verständnis der EMRK-Rechte herangezogen werden müssen.
Entscheidung im Volltext: