Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

Beschwerde-Nr. 10851/13

EGMR, Urteil vom 17.01.2017, Beschwerde-Nr. 10851/13, Király und Dömötör gegen Ungarn

1. Sachverhalt

Alfréd Király (A. K.) und Norbert Dömötör (N. D.), gehören der ethnischen Gruppe der Roma an. Im August 2012 fand eine Anti-Roma-Demonstration in der ungarischen Stadt Devecser statt, an der mehrere rechtsradikale Parteien teilnahmen. In Reden wurde auf vermeintlich von Angehörigen der Roma-Gemeinschaft begangene Verbrechen hingewiesen und die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert. Es wurde außerdem behauptet, dass die Roma-Minderheit "genetisch kodiert" sei, sich kriminell zu verhalten.

Danach marschierten die Demonstrierenden zwischen den Häusern der Roma- Siedlung, warfen Steine, Flasche und Ähnliches in die Gärten der Bewohner_innen und skandierten Beleidigungen sowie Drohungen, zum Beispiel "Roma, ihr werdet sterben" und "Wir werden euer Haus niederbrennen und ihr werdet drinnen sterben". Nach Angaben der Beschwerdeführenden war die Polizei während der Demonstration passiv und ergriff keine Maßnahmen, um die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Teilnehmenden festzustellen. Die Regierung hingegen behauptete, die Polizei sei tätig geworden, sobald die Demonstrierenden gewalttätig geworden seien. Sie habe die Massen unter Kontrolle gehalten und habe die feindseligen Demonstrierenden von den anderen getrennt.

In Bezug auf die Ereignisse fanden folgende Verfahren statt:

a) Die Polizei befragte 40 Personen, darunter fünf, die an der Demonstration teilgenommen hatten, und leitete ein Strafverfahren wegen Gewalt gegen Mitglieder einer Gruppe ein. Im Laufe der Ermittlungen wurde festgestellt, dass vier Personen an den Gewalthandlungen beteiligt gewesen waren. Drei von ihnen konnten aber nicht identifiziert werden. Der_die vierte Täter_in wurde schuldig gesprochen und verurteilt.

b) A. K. und N. D. erhoben vor der Polizeibehörde Beschwerden, in denen sie unterstrichen, dass die Polizei keine Maßnahmen gegen die Demonstrierenden ergriffen habe und dadurch ihr Leben, ihre Gesundheit und Menschwürde gefährdet habe. Die Polizei wies die Beschwerden zurück und argumentierte, dass es keine Gründe für die Auflösung der Demonstration gegeben habe, da Gewaltakte nur sporadisch erfolgt seien. Auf das Argument, dass Individualmaßnahmen gegen bestimmte Personen hätten unternommen werden können, antworteten die Behörden, dass diese zu einer Eskalation der Lage hätten beitragen können. Das oberste Rechtsprechungsorgan in Ungarn (Kúria) wies die Revisionsanträge der Beschwerdeführenden zurück (September 2015 und Januar 2016). In der Begründung wurde ebenfalls betont, dass die Auflösung der Demonstration zu schwerwiegenden Konsequenzen hätte führen können. Ferner sei die operative Einheit der Polizei dazu eingesetzt worden, die Ordnung zu bewahren. Sie sei nicht berechtigt gewesen, Maßnahmen gegen einzelne Demonstrierenden zu unternehmen.

c) Ein strafrechtliches Verfahren wegen Aufstachelung zum Hass gegen eine Gruppe wurde eingestellt, weil die fraglichen Äußerungen den Tatbestand dieses Verbrechens nicht erfüllt hätten. Die Reden seien für die Minderheit der Roma zwar verletzend und moralisch verwerflich gewesen, hätten aber nicht als Straftat klassifiziert werden können.

d) Im November 2012 veröffentlichte das Büro des Kommissars für Menschenrechte einen Bericht über die Ereignisse. Der Kommissar kritisierte, dass die Polizei nicht geprüft habe, ob die Demonstration die Rechte und Freiheiten Anderer nicht verletzt habe. Das Ziel der Demonstration sei gewesen, die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu verschärfen. Manche  Äußerungen hätten zum Hass angestiftet, was sich daran zeige, dass einige Demonstrierenden Steine auf die Häuser in der Roma-Siedlung geworfen hätten. Der Kommissar bedauerte, dass die Polizei nicht direkt vor Ort die Täter_innen identifiziert habe.

2.    Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

A. K. und N. D. machten in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2013 eine Verletzung ihres Rechts auf Privatsphäre (Artikel 8 EMRK) geltend. Sie rügten insbesondere, dass der Staat seine positiven Verpflichtungen, sie während der Demonstration zu schützen und effektive Ermittlungen durchzuführen, verletzt habe. In Bezug auf den Verlauf der Demonstration beschwerten sie sich insbesondere darüber, dass die Polizei nicht angemessen reagiert habe, indem sie die Demonstration nicht aufgelöst und keine Individualmaßnahmen gegen gewalttätige Personen ergriffen habe.

Die ungarische Regierung, gegen die sich die Beschwerde richtete, wies diese zurück. Sie argumentierte, dass die Betroffenen nicht den Rechtsweg erschöpft hätten, da keine Verfassungsbeschwerde gegen die Kúria-Urteile erhoben worden sei. Ferner sei Artikel 8 EMRK ratione materiae, also hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs der EMRK, auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Zur Begründetheit erklärte die Regierung, die Polizei habe die Demonstration nicht verboten oder aufgelöst, um den gerechten Ausgleich zwischen der kollidierenden Grundrechten nach Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) und 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) auf der einen Seite und Artikel 8 EMRK auf der anderen Seite zu garantieren. Darüber hinaus sei die Beeinträchtigung des Privatlebens geringfügig gewesen. Die Demonstration habe nur zwei Stunden gedauert, sei insgesamt friedlich verlaufen und es sei nur vereinzelt zur Gewaltanwendung gekommen. Auch die späteren Ermittlungen entsprächen den positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 EMRK.

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest.

Zulässigkeit (RZ. 41 ff)

Der EGMR wies die Einrede der Regierung hinsichtlich einer Unvereinbarkeit ratione materiae zurück. Dazu erinnerte er daran, dass der Begriff des Privatlebens im Sinne von Artikel 8 EMRK weit auszulegen ist und kaum erschöpfend definiert werden kann. Der Begriff der persönlichen Autonomie ist ein wichtiges Prinzip, das hinter der Auslegung der von Artikel 8 gewährten Garantien steht. Er umfasst verschiedene Aspekte der Identität einer Person, darunter auch die ethnische. Eine negative Stereotypisierung einer Gruppe kann sich auf das Identitätsgefühl der Gruppe sowie ihren Selbstwert und ihr Selbstbewusstsein auswirken, so der EGMR weiter. In einem solchen Fall kann es zu einer Beeinträchtigung des Privatlebens von Mitgliedern der Gruppe kommen ("Aksu gegen Türkei" (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 4149/04 und 41029/04).

Der EGMR erklärte, dass die Ereignisse während der Demonstration ausreichend waren, um die psychische Integrität und ethnische Identität der Beschwerdeführenden im Sinne von Artikel 8 EMRK zu beeinträchtigen. Es ist zwar nur vereinzelt zu gewalttätigen Akten gekommen, die Demonstrierenden skandierten aber feindliche Parolen und Drohungen gegen die Roma-Minderheit. Diese Situation konnte eine begründete Furcht vor Gewalt und Erniedrigung bei den Beschwerdeführenden hervorrufen. Unter Verweis auf sein Urteil im Fall "Vona gegen Ungarn", Beschwerde-Nr. 35943/10, erinnerte der EGMR daran, dass paramilitärische Demonstrationen einer Vereinigung, die rassische Trennung zum Ausdruck bringt und implizit zu rassistischen Handlungen aufruft, einen einschüchternden Effekt auf Mitglieder einer Minderheit haben müssen, insbesondere wenn sie sich als unfreiwilliges Publikum in ihren Häusern befinden.

Zur Erschöpfung des Rechtsweges unterstrich der EGMR, dass die Verpflichtung zur Erschöpfung des Rechtsweges sich nur auf wirksame Rechtsbehelfe bezieht. In dem vorliegenden Fall gibt es nach dem innerstaatlichen Recht kein Verfassungsrecht, auf das sich die Beschwerdeführenden vor dem Verfassungsgericht berufen konnten. Eine von vornherein aussichtlose Verfassungsbeschwerde musste daher nicht ergriffen werden.

Begründetheit (Rz. 60 ff)

Der EGMR führte aus, dass Artikel 8 EMRK sowohl Schutz vor Eingriffen seitens des Staates als auch eine positive Verpflichtung zum Schutz umfasst. Diese positive Verpflichtung des Staates bietet auch Schutz vor Übergriffen von privater Seite. Positive Verpflichtungen umfassen die Schaffung und Anwendung eines angemessenen Rechtsrahmens zum Schutz vor Verletzungen durch Private. In dem vorliegenden Fall akzeptierte der EGMR den Entscheidungsprozess und die Entscheidung der nationalen Behörden, die  Demonstration nicht aufzulösen. Diesbezüglich stellte der EGMR fest, dass die nationalen Gerichte die Argumente der Beschwerdeführenden sorgfältig prüften, das Verhältnismäßigkeitsprinzip berücksichtigten und ihre Schlussfolgerungen weder willkürlich noch offensichtlich unbegründet waren. Ähnlich beurteilte der EGMR die Reaktion der Polizei während der Demonstration. A. K. und N. D. hatten kritisiert, dass die Polizei keine Identitätskontrollen und keine Befragung während der Demonstration durchgeführt habe. Diese Fragen wurden ebenso einer sorgfältigen Analyse durch die Ermittlungsbehörden und die Gerichte unterzogen. Insbesondere prüften die Gerichte, ob die Maßnahmen, die die Polizei getroffen hat, sachlich gerechtfertigt und ausreichend waren, um die Beschwerdeführenden zu schützen.

Der EGMR befand jedoch, dass die Ermittlungen nach der Demonstration Mängel aufwiesen: Die Ermittlungen wegen Aufstachelung zum Hass gegen eine Gruppe wurden eingestellt, weil die Behörden befanden, dass die fraglichen Äußerungen den Tatbestand dieses Verbrechens nicht erfüllten. Bei den Ermittlungen wegen Gewalt gegen Mitglieder einer Gruppe konnte nur ein_e Täter_in identifiziert werden.

In solchen Fällen ist es wichtig, die Äußerungen im weiteren Kontext zu beurteilen, das heißt, ob sie als direkte oder indirekte Anstiftung zu rassistisch motivierter Gewalt oder Rechtfertigung für Gewalt, Hass oder Intoleranz angesehen werden können. Im vorliegenden Fall hätten die Behörden diesem besonderen Kontext ihre Aufmerksamkeit schenken sollen, so der EGMR. Die Versammlung war gegen die Minderheit der Roma gerichtet, die angeblich für sogenannte "Zigeuner-Kriminalität" verantwortlich war, und hatte die Einschüchterung der Roma als Ziel. Die Demonstration wurde zu einer Zeit organisiert, in der viele ähnliche gegen Roma gerichtete Kundgebungen großer Gruppen stattfanden. In diesem Kontext hätten die strittigen Äußerungen beurteilt werden sollen. Die nationalen Behörden fanden, dass sie zwar missbräuchlich und gehässig waren, jedoch keine Anstiftung zur Gewalt darstellten. Dadurch war den Umfang der Ermittlungen begrenzt.

Die Ermittlungen wegen Gewalt gegen Mitglieder einer Gruppe dauerten fast drei Jahre. Die Polizei hat nur fünf Personen, die an der Demonstration teilgenommen haben, befragt. Damit waren die Ermittlungen nicht geeignet, die gesamten Umstände des Sachverhaltes zu klären.

Das Zusammenspiel dieser Defizite und insbesondere der fehlende umfassende Ansatz führten dazu, dass eine rassistische Demonstration ohne rechtliche Konsequenzen blieb und den Beschwerdeführenden der erforderliche Schutz nicht garantiert wurde. Damit hat der Staat seine positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 EMRK nicht erfüllt.

Entschädigung nach Artikel 41 EMRK

Der EGMR sprach beiden Beschwerdeführenden jeweils eine Entschädigung in Höhe von 7.500 Euro für immateriellen Schaden zu.

Abweichende Meinungen

Dem Urteil liegen drei abweichende Meinungen bei.

Richter_in Bošnjak fand die Begründung der Menschenrechtsverletzung nicht ausreichend. Darüber hinaus kritisierte er_sie, dass der EGMR nicht analysiert habe, warum die Redner_innen für ihre feindlichen Äußerungen nicht zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit gezogen worden seien. Insbesondre sei nicht beantwortet worden, ob diese Mängel auf Defizite im Rechtssystem oder auf willkürliche Anwendung der existierenden Strafrechtsvorschriften zurückzuführen seien. Richter_in Wojtyczek vertrat die Meinung, dass der Fall im Lichte des Artikels 3 EMRK (Verbot der Folter) geprüft werden solle. Richter_in Kūris war der Ansicht, die Beschwerde sei unzulässig gewesen. Die Beschwerdeführenden hätten eine Verfassungsbeschwerde einlegen müssen. Kūris kritisierte, dass das Urteil nicht alle relevanten Informationen über die Rechtslage in Ungarn zu Verfassungsbeschwerden enthalte. Die Regierung habe ausreichende Informationen dargelegt, wonach in dem Fall eine Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.

Entscheidung im Volltext:

Zum Seitenanfang springen