Afghanistan: Menschenrechtsverteidiger*innen in Lebensgefahr
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Meldung
Seit ihrer Machtergreifung im August 2021 haben die Taliban die Menschenrechte in Afghanistan massiv eingeschränkt, vor allem für Frauen und Mädchen. Sayed Abdul Qader Rahimi, ehemals Stellvertretender Direktor der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans, im Gespräch mit Institutsdirektorin Beate Rudolf über mutige Frauen, internationale Unterstützung und die Frage, weshalb die Demokratisierung in Afghanistan fehlgeschlagen ist.
Herr Rahimi, Sie haben für die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans gearbeitet, bevor sie im Mai 2021 ihr Land verlassen mussten. Können Sie die Arbeit der Kommission beschreiben?
Rahimi: Für die Menschenrechtskommission waren rund 600 Personen in ganz Afghanistan tätig. Es gab acht Regionalbüros, sechs Provinzbüros und die Zentrale war in Kabul. Wir haben zu vielen Menschenrechtsthemen gearbeitet, hauptsächlich jedoch zu den Rechten von Frauen, Kindern und Menschen mit Behinderungen sowie zu willkürlicher Inhaftierung und Folter. Menschenrechtsbildung war ein Arbeitsschwerpunkt. Zu Beginn unserer Arbeit haben wir uns auch intensiv mit der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen beschäftigt, die unter der Herrschaft der Kommunisten, Mudjahedin und Taliban begangen wurden.
Wir haben zum einen die Situation von benachteiligten Gruppen in den Blick genommen. Wenn Frauen und Mädchen ihre Menschenrechte auf Gesundheit oder Bildung nicht wahrnehmen konnten, haben wir bei den politisch Verantwortlichen die Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen angemahnt. Wir haben sie aufgefordert, Kliniken und Mädchenschulen zu bauen. Und wir haben die Betroffenen über ihre Rechte aufgeklärt, denn sie wussten oft nicht, dass sie überhaupt Rechte haben.
Wir haben uns zum anderen um Einzelfälle gekümmert. Zu uns kamen beispielsweise Frauen, die von ihren Männern misshandelt worden waren und den Mut hatten, dies öffentlich zu machen. Dann haben wir den Ehemann bei der Polizei angezeigt und dafür gesorgt, dass er verurteilt wurde. Wir haben auch Polizeistationen aufgesucht, um die Freilassung von willkürlich Inhaftierten zu erreichen.
Was waren die größten Herausforderungen bei Ihrer Arbeit?
Rahimi: Die Vorurteile der Leute gegenüber den Menschenrechten abzubauen und uns gegen öffentliche Schmutzkampagnen zur Wehr zu setzen. Es gab Leute, die Angst hatten, für zurückliegende Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie haben die Menschenrechte absichtlich in Misskredit gebracht, indem sie behaupteten, die Menschenrechte seien eine Erfindung des Westens, ausländische Kräfte würden sie uns überstülpen und sie stünden im Widerspruch zu den Werten des Islams. Vor allem die ländliche Bevölkerung glaubte das und unterstellte uns, wir würden die islamische Kultur des Landes ändern wollten.
Dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und auch Mädchen eine Schulbildung erhalten sollen, war nicht Teil der afghanischen Kultur. Mädchen sollten jung heiraten und als Ehefrauen ihre Männer umsorgen. Wir haben diese selbstverständlichen Annahmen infrage gestellt. Wir haben die Leute gedrängt, ihre Mädchen zur Schule zu schicken. Wir haben Frauen ermuntert, ihre Meinung öffentlich zu äußern. All das stand im Widerspruch zur traditionellen Kultur.
Wurden Sie angefeindet?
Rahimi: Zwei meiner direkten Kollegen wurden umgebracht. Nicht einfach nur getötet, sondern in Stücke geschnitten. So groß war der Hass mancher Leute gegen Menschenrechtsaktivisten. Mir war klar, dass mein Leben auf dem Spiel steht, wenn ich in die Gefangenschaft der Taliban gerate.
Rudolf: Was haben Sie Menschen entgegnet, die die universale Gültigkeit der Menschenrechte in Abrede stellten?
Rahimi: Wir haben ihnen gezeigt, dass sich kulturelle Praktiken wie Zwangsheiraten oder der Schulausschluss von Mädchen keinesfalls aus Koranversen ableiten lassen. Wir haben deutlich gemacht, dass der Koran unterschiedlich interpretiert werden kann und dass die eigentliche Frage ist: Wer hat die Macht, den Koran auszulegen? Wenn man die Machtfrage stellt, macht man sich Feinde.
Rudolf: Aus der Perspektive der Religionsfreiheit möchte ich ergänzen. Zu ihr gehört, dass über die Auslegung der Religion debattiert werden kann, auch innerhalb einer Religionsgemeinschaft. Zentraler Bestandteil der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist es, dass weder die Mehrheit noch die Mächtigen andere zu einem Glauben oder einem Verhalten entsprechend ihrem Religionsverständnis zwingen dürfen.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Afghanistan ein?
Rahimi: Die Taliban haben sich in den letzten 20 Jahren nicht geändert. Sie zwingen Frauen, ihr Gesicht zu verschleiern, das Haus nur noch in Begleitung eines nahen männlichen Verwandten zu verlassen. Wenn Frauen nicht mehr arbeiten, zum Arzt gehen oder sich politisch oder kulturell betätigen dürfen, dann sind das massive Menschenrechtsverletzungen. Die Taliban zwingen Männer, sich Bärte wachsen zu lassen, ihre Köpfe zu bedecken und fünf Mal täglich in die Moschee zu gehen. Im Koran gibt es keine Vorschrift, die besagt, man könne nur in der Moschee beten oder müsse einen Bart tragen. Die Taliban versuchen der Bevölkerung, vor allem in den Städten, mit Gewalt eine nomadische Lebensweise überzustülpen – angeblich im Namen des Islam. Sie dulden keinen Widerspruch. Ich hoffe sehr, dass sie sich nicht lange an der Macht halten werden.
Als im August 2021 die Taliban die Macht erneut übernahmen, war schnelles Handeln gefragt. Wie hat das Institut gefährdete Menschen in Afghanistan unterstützt?
Rudolf: Als sich die Situation zuspitzte, bat die Afghanische Menschenrechtskommission die Schwesterinstitutionen in anderen Ländern um Hilfe. Das Institut erhielt eine Liste mit den Namen von Mitarbeitenden der Kommission, die als besonders gefährdet eingestuft wurden. Wir haben uns hilfesuchend an die Bundesregierung gewandt und uns für die Evakuierung dieser Kolleg*innen aus Afghanistan eingesetzt. Dabei haben wir uns mit der Globalen Allianz der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen, GANHRI, und dem Asien-Pazifik-Netzwerk der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen koordiniert. Doch auch wenn die Zusammenarbeit der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen gut funktioniert hat, gibt es immer noch zu viele bedrohte Kolleg*innen in Afghanistan, die darauf warten, endlich in Sicherheit zu kommen.
Rahimi: Besonders gefährdet waren und sind die Menschenrechtsverteidiger*innen, die vor Ort gearbeitet haben, die in die Dörfer gegangen sind und mit den Leuten gesprochen haben. Sie waren sehr bekannt und sind deshalb in großer Gefahr. Wo sollen sie sich verstecken? Was sollen die mutigen Frauen tun, die ihre Rechte erkämpft haben und jetzt nicht mehr arbeiten dürfen? Die TV-Journalist*innen, deren Gesichter im ganzen Land zu sehen waren? Sie sind in Lebensgefahr und fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft verraten. Diese Frauen müssen gerettet werden, oder sie werden zuhause getötet.
Haben mittlerweile alle Ihre Kolleg*innen Afghanistan verlassen?
Rahimi: Zahlreiche Kolleg*innen sind im Exil, ein großer Teil in Europa, einige in den USA oder in den Nachbarstaaten Usbekistan, Tadschikistan oder dem Iran. Viele sind aber noch in Afghanistan.
Deutschland hat im Rahmen der militärischen Evakuierungsflüge bis August 2021 Menschen bei der Ausreise aus Kabul unterstützt und weitergehende Unterstützung für besonders gefährdete Afghan*innen angekündigt. Tut Deutschland genug?
Rudolf: Wir waren sehr überrascht, wie wenig Deutschland im August 2021 auf die Machtübernahme der Taliban vorbereitet war. Die zunehmende Bedrohung hatte sich schon längere Zeit angekündigt. Darauf hätte man sich besser vorbereiten müssen. Nach dem Fall von Kabul war alles sehr chaotisch und die Abläufe waren sehr intransparent. Nichtregierungsorganisationen haben Listen mit den Namen von gefährdeten Menschen an die Bundesregierung geschickt, erfuhren aber nicht, ob sie es auf die offiziellen Evakuierungslisten geschafft hatten.
Deshalb war es gut, dass sich die Ampelkoalition zum Ziel gesetzt hat, ein humanitäres Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen zu etablieren. Menschen, die sich für die Menschenrechte in Afghanistan eingesetzt haben, haben unter höchstem persönlichem Risiko in zivilgesellschaftlichen Organisationen und in der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans die Menschenrechte, die universelle Werte der Weltgemeinschaft, verteidigt. Jetzt brauchen sie dringend den Schutz der internationalen Gemeinschaft. Deutschland ist hierzu aus den Grund- und Menschenrechten auch verpflichtet. Wie das Bundesaufnahmeprogramm ausgestaltet wird, steht ein Jahr nach dem Umsturz immer noch nicht fest. Das ist angesichts der Lebensgefahr, in der sich Betroffene befinden, nicht hinnehmbar.
Was kann helfen, die Menschenrechtslage in Afghanistan zu verbessern?
Rahimi: Ohne internationalen Druck, notfalls auch mit Waffengewalt, wird sich nichts ändern. Es war das US-Militär, das die Taliban vor gut 20 Jahren aus dem Amt gejagt hat. Mit dem Petersberger Abkommen im Dezember 2001 vereinbarte die Weltgemeinschaft einen Fahrplan für die Etablierung demokratischer Verhältnisse in Afghanistan. Wir begannen, das Land zu öffnen und den Menschen klarzumachen, dass alle Menschen, auch Frauen und Kinder, selbstverständlich Rechte haben. Als sich die internationale Gemeinschaft aus Afghanistan zurückzog, kollabierte das System.
Demokratie und Menschenrechte zu verwirklichen, braucht Zeit und Institutionen. Warum hat die internationale Unterstützung in 20 Jahren nicht zu nachhaltigen Veränderungen in Afghanistan geführt?
Rahimi: Die Korruption hat dafür gesorgt, dass das ausländische Geld nicht bei den Leuten ankam, sondern in den Taschen einiger weniger Menschen versackte. Viele Menschen in Führungspositionen haben nicht zum Wohl des Landes, sondern für ihren individuellen Nutzen gearbeitet. Deshalb haben viele Menschen die ausländische Hilfe nicht wirklich gespürt, für sie änderte sich nicht viel. Daher gab es keinen grundlegenden Wandel.
Rudolf: Die ausländischen Regierungen hätten dafür sorgen müssen, dass das Geld bei den Menschen ankommt. Jetzt müssen sie sicherstellen, dass solche Fehler in Zukunft vermieden werden. Der Bundestag hat dafür im Juli eine Enquêtekommission eingesetzt. Neben der Aufarbeitung ist es jetzt dringend nötig, gefährdete Menschen aus Afghanistan in Sicherheit zu bringen. Schutzpflichten ergeben sich für Deutschland nicht nur gegenüber Menschenrechtsverteidiger*innen, sondern auch gegenüber Ortskräften, also Menschen, die für deutschen Streitkräfte und deutsche Organisationen wie die Giz gearbeitet haben. Auch die internationale Gemeinschaft muss die Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan im Blick behalten. Der UN-Menschenrechtsrat hat 2021 die Position des Sonderberichterstatters für Afghanistan geschaffen. Auch wenn sich dadurch keine schnellen menschenrechtlichen Verbesserungen erzielen lassen, ist es doch ein Zeichen, dass die Welt Afghanistan nicht vergisst und Vorbereitungen trifft, um in der Zukunft die Taliban für die schweren Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan zur Verantwortung zu ziehen.
Zur Person
Sayed Abdul Qader Rahimi, war von Juni 2003 bis Juni 2021 Leiter des Regionalbüros der Afghanischen Menschenrechtskommission in Herat und Stellvertretender Direktor der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans. Im Juni 2021 kam er über die Elisabeth-Selbert-Initiative zum Schutz von gefährdeten Menschenrechtsverteidiger*innen nach Deutschland. Das Institut war seine Gastorganisation in diesem Programm.
Beate Rudolf ist Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Von März 2016 bis März 2019 war sie zugleich Vorsitzende der Global Alliance of National Human Rights Institutions (GANHRI), des Weltverbands der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen.
Info: Die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans
2001 verständigte sich die internationale Gemeinschaft mit dem Petersberger Abkommen darauf, Afghanistan bei der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten tatkräftig zu unterstützen. Die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans wurde daraufhin ins Leben gerufen und in der afghanischen Verfassung verankert. Im September 2021 haben die Taliban die Finanzierung der Kommission eingestellt und sie im Mai 2022 für aufgelöst erklärt. Die Kommission sieht dies als Verstoß gegen die Verfassung an und versucht, ihre Arbeit ehrenamtlich vom Ausland aus weiterzuführen.
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