CRPD, Mitteilung Nr. 12/2013 (AM vs. Australia)
CRPD, Auffassungen vom 27.03.2015, A. M. (vertreten durch Australian Centre for Disability Law) gegen Australien
1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.9)
A. M., geboren 1970, ist gehörlos und kann sich nur durch (australische) Gebärdensprache (Auslan) verständigen. Er setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass der Sheriff und die Landesregierung in seiner Heimatregion, Neusüdwales/Australien, Gehörlose zum Schöff*innendienst zulassen. A. M. ist wahlberechtigt und im Wählerverzeichnis in Neusüdwales registriert. Nach dem Wahlgesetz besteht damit für ihn die Möglichkeit, als Schöffe geladen zu werden. Die Ernennung zur Schöff*in erfolgt nach dem Zufallsprinzip. Für die Ernennung ist der örtliche Sheriff zuständig. Zu seinen Aufgaben zählt auch, über die Befreiung vom Schöff*innendienst zu entscheiden. Für Menschen mit Behinderungen regelt das Schöffenänderungsgesetz von 2014, dass diese den Schöff*innendienst nicht antreten müssen, wenn der Grad ihrer Behinderungen sie daran hindern würde, zum reibungslosen Ablauf des Schöff*innendienstes beizutragen. Diese Regelung nutzte der Sheriff nach Ansicht von A. M., um systematisch gehörlose Personen vom Schöff*innendienst auszuschließen.
Im April 2012 reichte A. M., der selbst nie als Schöffe geladen wurde, eine Beschwerde bei der nationalen Menschenrechtskommission ein. Darin machte er geltend, dass er und andere gehörlose Personen, die sich durch Auslan verständigen, im Sinne des australischen Antidiskriminierungsgesetzes durch die Landesregierung Neusüdwales diskriminiert werden, da der Sheriff gehörlose Personen aufgrund ihrer Behinderung vom Schöff*innendienst ausschließe.
Im August 2012 informierte die Regionalregierung die Menschenrechtskommission, dass in diesem Fall die Interessen von Menschen mit Behinderungen und die des Angeklagten auf ein faires Verfahren abzuwägen seien. Wer zur Schöff*in ernannt werde, hänge von einer Einzelfallprüfung, und insbesondere von den Eigenheiten des jeweiligen Prozesses ab. Es sei möglich, hierbei Anpassungen und Änderungen für Menschen mit Behinderungen vorzunehmen. Dazu zähle auch eine Infrarot-Übertragungsanlage und ein entsprechendes Empfangsgerät. Dagegen sei eine Simultan-Untertitelung dann nicht erlaubt, wenn sich die Schöff*innen zu Beratungen zurückziehen. Dies würde eine unvereidigte Person in das Verfahren einführen. Daneben sei die Simultan-Untertitelung zu kostspielig.
Im November 2012 scheiterte der Schlichtungsversuch zwischen A. M. und der Landesregierung. Die Menschenrechtskommission riet A. M., den Fall vor Gericht zu bringen. Dieser legte direkt Beschwerde vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein.
2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
A. M. reichte 2013 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Beschwerde unter Berufung auf die Artikel 5, 12, 13, 21 und 29 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein.
Die Beschwerde sei zulässig, da er mit dem Verfahren vor der australischen Menschenrechtskommission alle erforderlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Klagen vor Bundesgerichten wären erfolglos, da regionale und nationale Antidiskriminierungsgesetze zwar vor Diskriminierung in vielen Lebensbereichen schützen würden, nicht aber im Rahmen des Schöff*innendienstes. Weiterhin würde seine Klage voraussichtlich an einer fehlenden Klagebefugnis scheitern, da diese im Zusammenhang mit der Antidiskriminierungsgesetzgebung sehr eng interpretiert werde. Zudem müsste er in einem solchen Fall die Verfahrenskosten der Gegenpartei tragen. Dieses finanzielle Risiko könne ihm nicht zugemutet werden. Schließlich würde sein Rechtsanwalt riskieren, seine Zulassung zu verlieren, wenn er eine nach australischem Recht offensichtlich aussichtslose Klage, wie die seine, vor Gericht bringen würde. Ein solches Vorgehen werde als ein Verstoß gegen das anwaltliche Berufsrecht angesehen (Rz. 2.10-2.12; 5.6-5.8).
Die Beschwerde sei begründet, da ihm die Behörde verweigert habe, für den Fall, dass er zum Schöff*innendienst geladen werde, ihm eine*n Auslan-Dolmetscher*in für die Gerichtsverhandlung und Schöff*innenberatung zur Verfügung zu stellen. Dies verletze sein Recht aus Artikel 12 Absatz 2 BRK (Anerkennung der Rechts- und Handlungsfähigkeit). Es sei ein integraler Bestandteil der Rechts- und Handlungsfähigkeit einesr jeden erwachsenen Bürgers als Schöff*in tätig sein zu können. Die Stellungnahme der Behörde vor dem Menschenrechtskomitee zeige jedoch, dass sie gehörlose Menschen für außerstande halte, einem Gerichtsverfahren zu folgen. Sie erachte die Beteiligung von gehörlosen Personen in einem Gerichtsverfahren als einen Verstoß gegen das Recht von Angeklagten auf ein faires Verfahren.
Die Verweigerung Auslan zuzulassen, verstoße a) gegen Artikel 12 Absatz 3 BRK (Maßnahmen zur Förderung der Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit), weil ihm dadurch die Unterstützung versagt werde, die er benötige, um als Schöffe in der Jury mitwirken zu können; b) gegen sein Recht auf Nichtdiskriminierung bezüglich der Ausübung der Rechtsfähigkeit wie es in den Artikeln 5 und 12 BRK verankert sei; und c) sein Recht, sich Informationen und Gedankengut in einer frei gewählten Form der Kommunikation zu beschaffen, empfangen und weiterzugeben gemäß Artikel 21 BRK (Recht der freien Meinungsäußerung, Meinungsfreiheit und Zugang zu Informationen), insbesondere sei Auslan auch als eine Form der „Kommunikation“ im Sinne des Artikels 21 BRK anzusehen. Die ihm von der Behörde angebotene Infrarot-Übertragungsanlage helfe ihm nicht weiter, da er hochgradig schwerhörig sei und daher nicht fähig, gesprochene Sprache durch ein Hörgerät zu verstehen.
Auch sei Artikel 13 BRK (Zugang zur Justiz) verletzt, weil die Teilnahme von Schöff*innen am Rechtssystem als ein Teil des Rechts auf wirksamen Zugang zur Justiz, gleichberechtigt mit anderen, zu verstehen sei.
Zudem sei die Vorschrift des Artikels 29 BRK (Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben) verletzt, da er durch das Auslan-Verbot daran gehindert werde, gleichberechtigt mit anderen an der Gestaltung von öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken. Dadurch werde er davon abgehalten, seine politischen Rechte wahrzunehmen (Rz. 3.1-3.5).
Die australische Regierung wies die gegen sie gerichtete Beschwerde als unzulässig zurück.
Die Beschwerde sei gemessen an Artikel 1 Absatz 1 und 2 Buchstabe d des fakultativen Zusatzprotokolls unzulässig.
Bei der Beschwerde handele es sich um eine actio popularis, also eine Popularklage, die ohne persönliche Betroffenheit der Überprüfung von Gesetzen diene. A. M. sei nur rein hypothetisch Opfer der von ihm geltend gemachten Rechtsverletzungen. Nach der regionalen Gesetzgebung könne jede wahlberechtigte Person verpflichtet werden, als Schöff*in zu dienen. Dies gelte auch für A. M. Dieser behaupte aber, Opfer einer Diskriminierung zu sein, ohne dabei selbst jemals als Schöff*in geladen worden zu sein. Auch stehe seine Ladung nicht unmittelbar bevor. Die rein hypothetische oder theoretische Rechtsverletzung durch eine Maßnahme sei aber nicht ausreichend, um geltend machen zu können, Opfer einer Diskriminierung im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 BRK zu sein. Es müsse eine tatsächliche Beeinträchtigung der Rechte des Beschwerdeführers vorliegen. Hiervon mache der UN-Menschenrechtsausschuss nur dann eine Ausnahme, wenn die Rechtsverletzung unmittelbar bevorstehe oder eine ernsthafte Gefahr bestehe, dass diese Rechtsverletzung eintreten werde. Ferner erfülle die Opfereigenschaft, wer sich in einer Situation befinde, in welcher die Maßnahme noch nicht erlassen worden sei, diese aber, sollte sie erlassen werden, eine freiheitsentziehende oder lebensbedrohliche Wirkung für die Beschwerdeführer*in hätte. Die Gesetzgebung zum Schöff*innendienst habe aber einen solchen Effekt nicht. Weiterhin erlange A. M. die Opfereigenschaft auch nicht dadurch, dass er sich für eine Justizreform betreffend die Rechte von gehörlosen Menschen im Schöff*innendienst engagiere, oder dadurch, dass er eine Behinderung habe.
Die Beschwerde sei auch deshalb unzulässig, weil A. M. kein Gericht in Australien angerufen habe. Nach dem Schlichtungsversuch durch das Menschenrechtskomitee hätte er innerhalb von 60 Tagen Klage vor einem der zwei obersten Gerichtshöfe, dem Federal Court oder dem Federal Circuit Court, einlegen können. Auch habe der UN-Menschenrechtsausschuss entschieden, dass der Mangel an finanziellen Mitteln Beschwerdeführer*innen nicht davor bewahre, zunächst den innerstaatlichen Rechtsweg auszuschöpfen, bevor die UN-Ausschüsse angerufen werden könnten (Rz. 4.1-4.8; 6.4, 6.6).
A. M. entgegnete, dass er Opfer der geltend gemachten Rechte sei, da er gesetzlich verpflichtet sei, als Schöffe zu dienen, sobald er hierzu geladen werde. Eine solche Ladung könne jederzeit erfolgen.
Die Regionalregierung habe 2013 ihre Position, gehörlosen Menschen keine Echtzeit-Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Bürger*innenpflicht als Schöff*in zu gewähren, durch eine Stellungnahme bei einer Kommission für Gesetzesreform in Neusüdwales bekräftigt. Diese Ansicht habe der Bundesstaat New South Wales vor und nach dem Inkrafttreten des BRK-Zusatzprotokolls vertreten. Dies führe dazu, dass ihm, wenn er als Schöffe geladen würde, die Unterstützung durch eine*n Auslan-Dolmetscher*in untersagt werden würde. Dies würde ihn dazu zwingen, sich vom Schöff*innendienst befreien zu lassen. Diese Praxis könne ihn oder jede andere gehörlose Person jederzeit treffen. Die Aberkennung seiner Bürgerpflichten und die Unterstellung, nicht fähig zu sein, einem Gerichtsverfahren folgen zu können, stelle einen tatsächlichen und gegenwärtigen Verstoß gegen seine Menschenwürde und Menschenrechte dar. Dies beeinträchtige ihn auch persönlich in erheblichem Maße. Daher sei diese Beschwerde unter Bezugnahme auf die Prinzipien, die der UN-Menschenrechtsausschuss in „E. W. gegen Frankreich“ und „Temeharo gegen Frankreich“ aufstellte, als zulässig anzusehen (Rz. 5.1-5.5).
Die Regierung führte aus, dass die durch A. M. geltend gemachten Rechtsverletzungen zu unspezifisch seien.
A. M. habe nicht dargelegt, dass er durch ein staatliches Handeln oder Unterlassen Opfer einer Verletzung im Sinne der BRK geworden sei. Diese Opfereigenschaft werde insbesondere dann nicht erfüllt, wenn A. M. geltend mache, dass andere Personen in ihren Rechten aus der BRK verletzt worden seien. Auch sei dafür nicht ausreichend, dass er jederzeit zum Schöff*innendienst gerufen werden könne. Es fehle damit bereits an einer gegenwärtigen Rechtsverletzung. Schließlich beeinträchtige die Teilnahme oder Nichtteilnahme am Schöff*innendienst nicht die Wahrnehmung seiner Bürgerrechte als australische*r Staatsbürger*in oder sein Recht, am politischen Leben teilzuhaben (Rz. 6.2-6.3, 6.5).
A. M. trug daraufhin vor, dass ihn die gesetzliche Pflicht, als Schöff*in zu dienen, fortlaufend treffe. Diese trete zwar erst möglicherweise in der Zukunft ein, bestehe aber dauerhaft. Schöff*innen könnten zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie die im Schöffengesetz geregelten Pflichten verletzten. Dies schließe Durchsetzungsmaßnahmen in Form von Bußgeldern, angeordnet durch den Sheriff, ein. Hiervon könne er betroffen sein, wenn er beispielsweise nicht vollständig den Fragebogen für den Schöff*innendienst ausfülle. Als unvollständige Antwort könnte angesehen werden, wenn er nicht angeben würde, dass er während des Prozesses durch eine*n Auslan-Dolmetscher*in unterstützt werden müsse. Weitere Bußgelder könnten daraus resultieren, wenn ihm im Vorfeld die Assistenz durch eine*n Auslan-Dolmetscher*in verwehrt werde und er daraufhin nicht zu seiner Vorladung im Gericht erscheine. Gehörlose Personen in Australien seien häufig von dieser Praxis betroffen (Rz. 7.1-7.10).
3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
Der Fachausschuss stellte die Unzulässigkeit der Beschwerde fest (Rz. 9).
3.1 Zulässigkeit (Rz. 8.1-8.8)
Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde gemessen an Artikel 1 Absatz 1 des fakultativen Zusatzprotokolls für unzulässig, da der Beschwerdeführer nicht geltend gemacht habe, dass er Opfer einer Verletzung im Sinne des BRK sei.
Die behauptete Rechtsverletzung des A. M. sei rein hypothetischer Natur. Er habe nicht dargelegt, dass eine staatliche Handlung oder Unterlassung seine in der BRK verankerten Rechte bereits beeinträchtigt habe oder eine solche Rechtsverletzung unmittelbar bevorstehe, zum Beispiel durch ein Gesetz oder eine Entscheidung einer staatlichen Stelle. Die Ladung zum Schöff*innendienst erfolge nach dem Zufallsprinzip und A. M. sei nicht für den Schöff*innendienst ausgewählt worden. Nach dem Schöffengesetz könne jede wahlberechtigte Person als Schöff*in geladen werden. Für Menschen mit Behinderungen könnten Änderungen und Anpassungen vorgenommen werden, damit sie am Schöff*innendienst teilnehmen können. Wenn sie geladen würden, stehe es ihnen zu, den Sheriff über gegebenenfalls erforderliche Vorkehrungen zu informieren. Dieser entscheide dann, ob eine solche Vorkehrung im Gerichtsgebäude umgesetzt werden könne. Ob eine Person im Übrigen geeignet sei, als Schöff*in zu dienen, werde anhand einer Einzelfallprüfung bestimmt und hänge von den Eigenheiten des Prozesses ab. Dagegen sei der Vortrag von A. M., dass eine solche Ladung bei ihm unmittelbar bevorstehe und in diesem Fall überprüft werden würde, ob er geeignet sei, als Schöff*in zu dienen, nicht ausreichend, um die Opfereigenschaft im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 BRK zu erfüllen.
Der Ausschuss hält es nicht für erforderlich, andere Gründe zu überprüfen, weswegen die Beschwerde für unzulässig erklärt werden könnte.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
In seiner Entscheidung betonte der UN-CRPD, dass eine rein hypothetische Rechtsverletzung nicht ausreichend ist, um vor dem Ausschuss eine Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne der BRK geltend zu machen. Hierfür ist es erforderlich, darzulegen, Opfer einer bereits eingetretenen Rechtsverletzung durch eine staatliche Handlung oder Unterlassung zu sein oder dass eine solche Rechtsverletzung unmittelbar bevorsteht.
5. Entscheidung im Volltext:
CRPD_27.03.2015_AM_v._Australia_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)