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CRPD, Mitteilung Nr. 9/2012 (AF vs. Italy)

CRPD, Auffassungen vom 27.05.2015, A. F. (vertreten durch Giuseppe Luppino) gegen Italien

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.3)

Der 1966 geborene A. F. leidet seit seiner Kindheit am Gaucher-Syndrom, einer Störung des Fettstoffwechsels. Der Grad seiner Behinderung liegt bei 50 Prozent. Er ist deshalb in Dauerbehandlung. Im Dezember 2005 war er als arbeitssuchend beim Arbeitsamt gemeldet. Dabei wurde er, im Einklang mit dem Gesetz Nr. 68/1999 über das Recht auf Beschäftigung für Menschen mit Behinderungen, in einer speziellen Liste für arbeitssuchende Personen mit Behinderungen geführt. Nach Artikel 3 dieses Gesetzes sollen Italiens staatliche Einrichtungen mit mehr als 50 Beschäftigten 7 Prozent ihrer Stellen mit Menschen mit Behinderungen besetzen. Artikel 7 Absatz 2 des Gesetzes schreibt weiterhin vor, dass die Hälfte der staatlichen Stellen, für deren Besetzung ein Auswahlverfahren vorgesehen ist, für Menschen mit Behinderungen reserviert werden soll (50-Prozent-Reservequote).

2006 arbeitete A. F. als Praktikant in einer technischen Abteilung an einer Universität. Die Universität schrieb im Mai 2006 eine Stelle für eine*n wissenschaftliche*n Techniker*in für die Maschinenbauabteilung aus, die dem akademischen Profil und der Berufserfahrung von A. F. entsprach. Die Bewerbung setzte die Teilnahme an einem Auswahlverfahren voraus, in welchem er auf Platz drei landete. Seine Bewerbung war nicht erfolgreich. Dies gab die Universität im September 2006 durch das Dekret Nr. 595/2006 bekannt, das die Testergebnisse des Auswahlverfahrens veröffentlichte. Im April 2008 schrieb die Universität einen ähnlichen Posten aus. Da sich das Auswahlverfahren nur an Militärangehörige richtete, konnte A. F. an diesem nicht teilnehmen.

A. F. reichte im Februar 2007 Klage beim Verwaltungsgericht ein und beantragte, das Auswahlverfahren an der Universität auszusetzen und im Ganzen aufzuheben. Sollte dagegen das Gericht das Auswahlverfahren für gültig erklären, solle die Universität ihm eine ähnliche Position geben. Ein solcher Posten sei ihm nur verwehrt geblieben, weil die Universität das Gesetz Nr. 68/1999 falsch ausgelegt habe. Dieses sehe in Artikel 7 vor, dass Menschen mit Behinderungen einzustellen seien, wenn sie gleichwertige Testergebnisse wie Menschen ohne Behinderungen bei einem Auswahlverfahren erzielten. Auf das Gesetz beziehe sich die Universität in der Präambel ihrer Richtlinien über Auswahlverfahren.

Das Verwaltungsgericht gab A. F. im Mai 2007 nicht Recht. Die Universität habe 2005 ein Abkommen mit dem Arbeitsamt abgeschlossen, in dem sie sich verpflichte, die 7-Prozent-Quote zu erfüllen. Dieses Abkommen garantiere dagegen nicht, dass die Universität A. F. für ein Bewerbungsgespräch auswählen und einstellen müsse.

Die Berufung des A. F. vor dem Staatsrat, der obersten Instanz für verwaltungsrechtliche Angelegenheiten in Italien, wurde im Dezember 2009 zurückgewiesen, da die 50-Prozent-Reservequote, wie sie das Gesetz Nr. 68/1999 vorsehe, nicht auf alle staatlichen Stellen Anwendung finde. Das Gesetz ziele darauf ab, generell die Anzahl von Beschäftigten mit Behinderungen in öffentlichen Einrichtungen zu erhöhen. Die Universität habe die 50-Prozent-Quote für die Stelle, auf die sich A. F. beworben hatte, beachtet. Der Staatsrat stellte zudem fest, dass die Universität in seinem Fall nicht gegen die 50-Prozent-Reservequote verstoßen habe, da 50 Prozent bei einer Stelle 0,5, also gerundet null seien. Das Gesetz Nr. 68/1999 schreibe vor, dass Bruchteile eines Prozents als ein Ganzes darzustellen seien.

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

A. F. reichte 2011 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf Artikel 27 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein.

Als Begründung führte er an, dass die Universität es vermeide, die 50-Prozent-Reservequote, wie sie das Gesetz Nr. 68/1999 vorsehe, umzusetzen, indem sie öffentliche Auswahlverfahren für ihre Stellen durchführe. Nach dem Gesetz Nr. 68/1999 hätte er das Recht gehabt, 2006 für den Posten an der Universität eingestellt zu werden. Hätte die Universität das Gesetz richtig ausgelegt, hätte sie entweder ihm, als einzigem Kandidaten mit einer Behinderung und Drittplatziertem im Auswahlverfahren, den Posten geben müssen oder ihn zusammen mit dem Erstplatzierten des Auswahlverfahrens einstellen müssen.

Auch das zweite Auswahlverfahren, 2008, verletze Artikel 27 BRK. Die Universität habe zum einen das Auswahlverfahren unzulässigerweise auf Militärpersonal beschränkt, sodass er nicht teilnehmen konnte. Zum anderen hätte die Universität seine Testergebnisse aus dem ersten Auswahlverfahren berücksichtigen müssen. Diese seien noch gültig gewesen. Dem Gesetz Nr. 68/1999 zufolge hätte er dann für die Stelle ernannt werden müssen. Diese Auslegung habe die Universität verkannt (Rz. 3.1-3.4).

Die italienische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig zurück.

Die Beschwerde sei bereits ratione temporis, also bezogen auf die zeitliche Anwendbarkeit der BRK, unzulässig. Die dieser Mitteilung zugrunde liegenden Tatsachen seien vor dem Inkrafttreten des fakultativen Zusatzprotokolls zur BRK eingetreten. Tatsachen seien die Bekanntgabe der Testergebnisse durch das Dekret Nr. 595/2006 und die Abweisung der Klage durch das Verwaltungsgericht im Mai 2007. Das Zusatzprotokoll sei aber erst 2009 in Kraft getreten.

Die Entscheidung des Staatsrates stelle keine Diskriminierung dar, da diese im Einklang mit dem Gesetz Nr. 68/1998 erfolgt sei. A. F. könne daraus nicht herleiten, dass er ein unbedingtes Recht auf Beschäftigung durch die Universität habe. Insbesondere habe der Staatsrat in seiner Entscheidung deutlich gemacht, dass das Gesetz Nr. 68/1999 nicht bestimme, welche Voraussetzungen für eine freie Stelle erfüllt werden müssten.

Auch sei seine Beschwerde nicht zulässig, weil er nicht alle zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Das Gesetz Nr. 67/2006 habe einen neuen gerichtlichen Rechtsschutz eingeführt, um Menschen mit Behinderungen zu helfen, die Opfer von unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierung seien. Hiervon habe A. F. keinen Gebrauch gemacht (Rz. 4.1-4.3).

A. F. erwiderte, seine Beschwerde sei zulässig.

Er habe den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft. Der Beschwerdegegner, die Universität, sei eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, weshalb vorliegend nur die Verwaltungsgerichte zuständig gewesen seien. Daneben habe er 2009 Klage vor dem Amtsgericht eingereicht. Dieses habe auch Abteilungen, die sich mit arbeitsrechtlichen Angelegenheiten beschäftigten. Dort sei seine Klage auf Schadenersatz für die von ihm erlittene Diskriminierung jedoch nicht zur Entscheidung angenommen worden. Das Amtsgericht habe sich für unzuständig erklärt und auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes verwiesen, wonach Verwaltungssachen nur in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fielen. Schließlich brachte er vor, dass ein weiterer, zusätzlicher gerichtlicher Antrag den Grundsatz „ne bis in idem“, demzufolge die gleiche Sache nicht zweimal zum Gegenstand einer richterlichen Entscheidung gemacht werden dürfe, und das Prinzip, unvereinbare Urteile zu vermeiden, verletzen würde (Rz. 5.1-5.4).

Die italienische Regierung trug vor, dass Kandidat*innen, im Einklang mit der italienischen Verfassung und der Antidiskriminierungsgesetzgebung, auch bestimmte psycho-physische Eigenschaften mitbringen müssten, um die mit einer Stelle verbundenen Aufgaben bewältigen zu können.

Es liege keine Verletzung des Artikels 27 BRK vor. Die Gerichte hätten zu Recht entschieden, dass die Universität A. F. nicht diskriminiert habe. Er habe gleichberechtigt mit anderen am öffentlichen Auswahlverfahren teilgenommen. Er sei nicht eingestellt worden, weil zwei andere Kandidat*innen bessere Testergebnisse als er erzielt hätten (Rz. 6.1-6.2).

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Der Fachausschuss stellte keine Verletzung von Artikel 27 BRK (Arbeit und Beschäftigung) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) fest. (Rz. 9).

3.1 Zulässigkeit (Rz. 7.1-7.8)

Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für zulässig.

Die Beschwerde sei gemessen an Artikel 2 Buchstabe e des fakultativen Zusatzprotokolls zulässig. Das Verbot der Rückwirkung von Verträgen verbiete es im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des internationalen Rechts, Tatsachen, die sich vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls ereigneten, in diese Beschwerde einzubeziehen. Die abschließende Entscheidung in dieser Sache sei aber durch den Staatsrat am 04.12.2009 ergangen und damit nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls. Der Staatsrat habe sich nicht auf die Prüfung formaler Rechtsfehler oder möglicher Rechtsirrtümer anderer Gerichte beschränkt, sondern auch die Begründetheit der Klage beleuchtet. In Anbetracht dessen, dass der Staatsrat die höchste Verwaltungsgerichtsbarkeit in Italien sei, sei seine Entscheidung von höchster Relevanz für A. F. gewesen, um festzustellen, ob eine Diskriminierung durch die Universität vorliege. Die Entscheidung des Staatsrates könne daher nicht getrennt von den Entscheidungen der Universität und des Verwaltungsgerichts gesehen werden. Folglich sei die Beschwerde ratione temporis zulässig.

Der Ausschuss führte weiter aus, dass A. F. alle zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe im Sinne des Artikels 2 Buchstabe d des fakultativen Zusatzprotokolls ausgeschöpft habe. Gegen die Entscheidung des Staatsrates sei nur die Revision vor dem Kassationsgerichtshof möglich gewesen. Dieser beschäftige sich aber nur mit Zuständigkeitsfragen, wie etwa der Überschreitung der Zuständigkeit. Darum gehe es aber vorliegend nicht. Auch das Gesetz Nr. 67/2006 hätte keinen geeigneten Rechtsbehelf für A. F. geboten. Dieses hätte er nur nutzen können, wenn er hätte darlegen können, dass er Opfer eine Diskriminierung geworden sei. Nach den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte sei er dies aber gerade nicht gewesen. Die Regierung habe auch nicht dargelegt, inwiefern dieser Rechtsbehelf A. F. wirksamen Rechtsschutz hätte bieten können.

3.2 Keine Verletzung von Artikel 27 BRK (Rz. 8.1-8.5)

Der Ausschuss erklärte die Beschwerde jedoch für unbegründet. Er stellte keine Verletzung des Beschwerdeführers aus Artikel 27 BRK fest.

Nach Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben a und e BRK hätten sich die Vertragsstaaten verpflichtet, Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl-, Einstellungs- und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen, zu verbieten und für Menschen mit Behinderungen Beschäftigungsmöglichkeiten und beruflichen Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt sowie die Unterstützung bei der Arbeitssuche, beim Erhalt und der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes und beim beruflichen Wiedereinstieg zu fördern. Weiterhin hätten sich die Vertragsstaaten nach Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben g und i BRK verpflichtet, Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Sektor zu beschäftigen und sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für sie getroffen würden.

Vorliegend habe A. F. geltend gemacht, dass der Staatsrat das Gesetz Nr. 68/1999 verletzt habe, indem er in seiner Entscheidung die Aussetzung und Aufhebung des öffentlichen Auswahlverfahrens an der Universität abgelehnt habe. Hierzu führte der Ausschuss aus, dass es grundsätzlich Aufgabe der nationalen Gerichte und nicht des Ausschusses sei, die Tatsachen und Beweise eines Falles zu würdigen. Dies gelte nur dann nicht, wenn die Entscheidung offensichtlich willkürlich sei oder auf eine Rechtsverweigerung hinauslaufe. Vorliegend habe A. F. keinen Beweis dafür angeboten, dass der Staatsrat Artikel 27 verletzt habe. Der Staatsrat habe sorgfältig und objektiv alle ihm durch beide Parteien unterbreiteten Beweise gewürdigt und festgestellt, dass A. F. nicht durch das öffentliche Auswahlverfahren diskriminiert worden sei. Es bestehe daher kein Grund zur Annahme, dass der Staatsrat offenkundig willkürlich entschieden habe oder eine Rechtsverweigerung vorliege.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In seiner Entscheidung stellte der UN-CRPD zunächst fest, dass im Hinblick auf die Bestimmung der Zulässigkeit einer Beschwerde das Verbot der Rückwirkung von Verträgen gilt, wonach Tatsachen, die sich vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls zur UN-BRK ereignet haben, nicht Gegenstand der Beschwerde sein können. Es kommt dabei auf den Zeitpunkt an, an dem eine abschließende Entscheidung in der jeweiligen Rechtssache getroffen wurde. Dies muss nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls erfolgt sein. Hinsichtlich der Ausschöpfung des Rechtweges führte der Ausschuss an, dass es nur darauf ankommt, innerstaatliche Rechtbehelfe einzulegen, die auch wirklich geeignet sind, in der jeweiligen Sache wirksamen Rechtsschutz zu bieten.

Weiterhin stellte der Ausschuss fest, dass es grundsätzlich Aufgabe der Gerichte der Vertragsstaaten ist, Tatsachen und Beweise in einem Fall zu würdigen. Erst wenn es zu einer offenkundig willkürlichen Entscheidung gekommen ist oder diese auf eine Rechtsverweigerung hinausläuft, liegt ein Verstoß gegen die BRK vor.

5. Entscheidung im Volltext

CRPD_27.05.2015_AF_v._Italy_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)

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