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CRPD, Mitteilung Nr. 8/2012 (X vs. Argentina)

CRPD, Auffassungen vom 11.04.2012, X. (vertreten durch Valeria G. Corbacho) gegen Argentinien

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.27)

Der 1952 geborene X. befand sich in Untersuchungshaft, als er im Januar 2010 wegen eines Bandscheibenvorfalls operiert werden musste. Kurze Zeit nach der Operation erlitt er einen Herzinfarkt, der zu Halbseitenblindheit (Hemianopsie), sensorischen Gleichgewichtsstörungen sowie zu Beeinträchtigungen seiner kognitiven Fähigkeiten und seines räumlichen Vorstellungsvermögens führte. Daneben vermutete X., dass die neue Metallplatte, die ihm während der Operation eingesetzt worden war, nicht korrekt platziert worden sei. Diese drücke gegen seine Speiseröhre.

Nachdem sich sein Gesundheitszustand stabilisiert hatte, nahm er als stationärer Patient am Rehabilitationsprogramm des FLENI Instituts in Escobar (Argentinien) teil. Als sich im April 2010 sein Gesundheitszustand soweit verbessert hatte, dass er am Rehabilitationsprogramm als Tagespatient teilnehmen konnte, stellte X. einen Antrag auf Hausarrest. Der Hausarrest würde ihm, im Gegensatz zur Haftanstalt, eine barrierefreie Unterbringung ermöglichen und das Haus in unmittelbarer Nähe des FLENI Instituts liegen. Andernfalls würde sein Recht auf medizinische Versorgung beeinträchtigt. Im Juni 2010 erstellten Ärzt*innen der forensischen Abteilung des argentinischen Bundesgerichtshofs auf Antrag des erstinstanzlichen Gerichts ein Gutachten über den Gesundheitszustand des X. Darin empfahlen sie, ihn aufgrund seines fragilen Gesundheitszustands im FLENI Institut zu belassen. Die Unterbringung in der Haftanstalt empfehle sich insbesondere auch deshalb nicht, weil sich die täglichen Fahrten zwischen Haftanstalt und Rehabilitationsprogramm negativ auf seinen Gesundheitszustand auswirken könnten. Das erstinstanzliche Gericht lehnte im August 2010 den Antrag von X. auf Hausarrest ab und ordnete an, ihn in einer Haftanstalt in Buenos Aires unterzubringen.

X. nahm dann, als Tagespatient, an verschiedenen Rehabilitationsprogrammen teil und stellte einen Antrag auf Überprüfung seiner Haftbedingungen. Ein neuer Bericht der Abteilung für forensische Medizin stellte fest, dass die Infrastruktur der Haftanstalt in Buenos Aires nicht für seine Behandlung geeignet sei. X. sei bei der Nahrungsaufnahme auf fremde Hilfe angewiesen und müsse auch an einer psychiatrischen Behandlung teilnehmen. Die Haftbedingungen könnten sich negativ auf seinen Genesungsprozess auswirken. Im November 2010 wurde festgestellt, dass der Zustand seiner Halswirbelsäule derart instabil war, dass er erneut operiert werden musste. Die Krankentransporte zwischen der Haftanstalt und dem FLENI Institut sollten ihm daher nicht mehr zugemutet werden. Das erstinstanzliche Gericht ordnete daraufhin an, dass die Krankentransporte in Anwesenheit einer Ärzt*in und nach dem neuesten Stand der Technik durchgeführt werden sollten.

Im Mai 2011 hatte sich der Gesundheitszustand von X. verbessert. Zur Bewältigung seines Alltags war er jedoch weiterhin auf fremde Hilfe angewiesen. Daher empfahlen die Ärzt*innen, die Behandlung im FLENI Institut fortzusetzen. Das erstinstanzliche Gericht ordnete jedoch an, X. in das Justizvollzugskrankenhaus Ezeiza zu verlegen. In der Folgezeit wurde festgestellt, dass die Metallplatte in seiner Wirbelsäule falsch angebracht worden war und wieder entfernt werden müsse. Im Juni 2011 empfahlen Ärzt*innen, die Krankentransporte zu unterbinden. X. setzte seine Behandlung daraufhin im Krankenhaus der Haftanstalt Ezeiza fort.

Kurze Zeit später reichte X. erneut einen Antrag auf Haftprüfung beim erstinstanzlichen Gericht ein. Sein Genesungsprozess sei mangels Fachpersonal und angemessener Ausstattung in der Haftanstalt Ezeiza nicht gewährleistet. Insbesondere sei die Haftanstalt ungeeignet für Menschen mit Behinderungen. Das Badezimmer könne er nicht allein betreten, da dies nur über eine Stufe zu erreichen sei. Auch könne er nicht seiner Körperhygiene nachgehen, da er das Bett nicht verlassen könne. Er müsse eine Bettpfanne benutzen und liege sich wund. Das Pflegepersonal kümmere sich nur selten um ihn. Zudem könne er den Innenhof nicht aufsuchen, da sich seine Gefängniszelle im ersten Stock befinde. Es müsse ihm daher stattdessen Hausarrest gewährt werden. Das erstinstanzliche Gericht lehnte seinen Antrag auf Hausarrest ab. X. habe nicht dargelegt, dass er nur unter Hausarrest wirksam behandelt werden könne. Das von X. angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und verwies die Sache zurück an das erstinstanzliche Gericht mit der Begründung, dass ein medizinisches Attest neuerer Zeit fehle.

Im Dezember 2011 legte die Abteilung für forensische Medizin ein Gutachten vor, dass sich der Gesundheitszustand von X. verbessert habe. Er sei aber weiterhin auf fremde Hilfe angewiesen und solle an einem Rehabilitationsprogramm teilnehmen. Dies mache Krankenfahrten erforderlich, die er auf sich nehmen müsse, unabhängig davon, wo er seine Haft verbringe.

Das erstinstanzliche Gericht wies daraufhin im Dezember 2011 seinen Antrag auf Hausarrest erneut zurück. X. habe nicht nachweisen können, dass die mit dem Krankentransport verbundenen Risiken durch die Gewährung von Hausarrest minimiert werden würden. Ein Hausarrest würde nicht dazu führen, dass der Krankentransport zur Rehabilitationsnachsorge entfalle. Daneben habe die Haftanstalt eine Reihe von Vorkehrungen für ihn getroffen. So seien eine Notfallklingel angebracht und die Stufe zum Badezimmer entfernt worden. Auch liege dem Gericht ein weiteres Gutachten über die medizinische Versorgung in der Haftanstalt vor, wonach das Pflegepersonal 24 Stunden täglich zu erreichen sei, ein funktionstüchtiger Fahrstuhl existiere und die Tür zum Innenhof an die Bedürfnisse von X. angepasst worden sei. Das Berufungsgericht schloss sich der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts an.

Nachdem das FLENI Institut im November 2012 für X. eine intensive Rehabilitationsnachsorge in einer Spezialklinik empfahl, stellte er einen Antrag auf Verlegung in das FLENI Institut oder jede andere Einrichtung, die über Fachpersonal und eine entsprechende technische Ausstattung verfüge. Im Dezember 2012 lehnte das erstinstanzliche Gericht diesen Antrag ab.

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

X. reichte 2012 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf die Artikel 9, 10, 13, 14, 15, 17, 19, 25 und 26 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein. Diese Vorschriften der BRK seien verletzt, da er während seiner Haft nicht die zu seiner Genesung erforderliche Rehabilitationsnachsorge und palliative Versorgung erhalten habe.

Die Beschwerde sei zulässig, da es für ihn keinen Sinn mache, den innerstaatlichen Rechtsweg auszuschöpfen. Ohne Angabe eines Grundes seien seine Anträge kontinuierlich verzögert worden. Weiterhin sei zweifelhaft, ob jemals eine Lösung für seine Bedürfnisse vor nationalen Gerichten gefunden werden könne (Rz. 2.28).

Weder die medizinische Versorgung noch die technische Ausstattung in der Haftanstalt hätten seinen Bedürfnissen entsprochen. Dies führe dazu, dass die Vorschriften der Artikel 25 und 26 BRK (Habilitation und Rehabilitation) verletzt seien. Der Abbruch seiner Behandlung am FLENI Institut und die anderen gerügten Versäumnisse während seiner Behandlung hätten nicht nur seine Rechte auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit und auf ein selbstbestimmtes Leben verletzt, sondern auch sein Leben ernsthaft gefährdet. Dadurch, dass sich kein anderer Häftling in einem derart schlechten Gesundheitszustand und einer entsprechenden Abhängigkeit von Hilfe befunden habe wie er, verletze seine Haftunterbringung zudem sein Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz.

Eine Verletzung der Vorschrift des Artikels 14 Absatz 2 BRK (Freiheit und Sicherheit der Person) liege vor, da die unangemessene Ausstattung der Ezeiza-Haftanstalt gegen die Menschenwürde verstoße und eine erniedrigende Behandlung für ihn darstelle. Die Unterbringung in der ersten Etage der Haftanstalt für die ersten acht Monate seiner Haft hätten ihn davon abgehalten, sich im Gemeinschaftshof aufzuhalten und Zugang zu frischer Luft und natürlichem Licht zu haben.

Weiterhin liege eine Verletzung des Artikels 15 Absatz 2 BRK (Freiheit von erniedrigender Behandlung) vor, da durch die Haftbedingungen seine physische und psychische Gesundheit stark in Mitleidenschaft gezogen worden seien. Daran hätten auch die getroffenen Anpassungen nichts geändert. Er habe nur begrenzten Zugang zu einer Dusche und Toilette gehabt. Dabei sei er auf die Hilfe der einzigen für seinen Trakt zuständigen Krankenschwester beziehungsweise das Wohlwollen anderer Häftlinge angewiesen gewesen. Obwohl die Stufe zum Badezimmer entfernt worden sei, sei das Badezimmer aufgrund seines Zuschnitts mit einem Rollstuhl nur schwer zugänglich. Dies habe dazu geführt, dass er seinen Grundbedürfnissen nicht selbstständig habe nachgehen können und auf absorbierende Wundkissen und andere Produkte, die ihm seine Familienmitglieder mitgebracht hätten, angewiesen gewesen sei. Das Ausmaß an Kontrolle, das die Strafvollzugsbehörden über Häftlinge ausübten, stelle überdies eine Verletzung seines Rechts auf Leben und die Achtung seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit dar.

Die Vorschrift des Artikels 17 BRK (Schutz der Unversehrtheit der Person) sei verletzt, da er keine angemessene und zeitliche Unterstützung durch das Pflegepersonal der Haftklinik erhalten habe. Trotz der neu installierten Notfallklingel habe das Pflegepersonal häufig nicht unmittelbar und manchmal überhaupt nicht reagiert. Wegen seiner Bettlägerigkeit leide er an Hautausschlag. Weder habe man ihm eine Spezialmatratze zur Verfügung gestellt, um Druckgeschwüre zu vermeiden, noch eine postural-visuelle Rehabilitationsnachsorge durch eine*n Neurolog*in angeboten. Das nächste Gesundheitszentrum, das auf diese Therapieform spezialisiert gewesen sei, sei 32 km von der Haftanstalt entfernt gewesen. Er sei nur einmal in ein Krankenhaus überwiesen worden, als er an einer Entzündung gelitten habe. Schließlich hielten ihn die Haftbedingungen von seiner Resozialisierung ab.

Auch trug X. vor, dass die Ablehnung seiner Anträge auf Hausarrest durch die Gerichte willkürlich gewesen sei. Seinen Gesundheitszustand habe er durch medizinische Atteste nachgewiesen. In ihren Entscheidungen hätten die Gerichte seinen Gesundheitszustand aber nur unzureichend berücksichtigt. Die Krankentransporte von der Haftanstalt zum Krankenhaus hätten seine Gesundheit aufgrund seiner fragilen Wirbelsäule gefährdet. Weiterhin sei das FLENI Institut nur 5 km von seinem Haus entfernt und könne von dort über eine Asphaltstraße erreicht werden. Er habe zudem, im Rahmen seines Strafverfahrens, bei Gericht anwesend sein müssen, nur um zu erfahren, dass er nicht an den Anhörungen teilnehmen dürfe. Bei einem Termin habe er dafür sechs Stunden in einem Krankenwagen verbringen müssen (Rz. 3.1-3.8).

Die argentinische Regierung, an die seine Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.

Die Beschwerde sei unzulässig, da sie gemessen an Artikel 2 Buchstaben d und e des fakultativen Zusatzprotokolls zur BRK nicht hinreichend begründet worden sei. X. hätte den Obersten Gerichtshof anrufen und eine Klage wegen überlanger Verfahrensdauer stellen können.

Hinsichtlich der medizinischen Versorgung und Haftbedingungen sei die Beschwerde zu weitläufig und ungenau. Die argentinischen Gerichte hätten seinen Gesundheitszustand hinreichend in ihren Entscheidungen berücksichtigt. Die Haft des X. müsse vor dem Hintergrund gesehen werden, dass er schwere Verbrechen während Argentiniens Militärdiktatur begangen habe. Gegen seine Verurteilung habe er Berufung eingelegt. Auch hätten die Gerichte in ihre Entscheidungen das medizinische Gutachten der Abteilung für forensische Medizin über seinen Gesundheitszustand einbezogen.

Daraufhin habe das erstinstanzliche Gericht die Ezeiza-Haftanstalt in seiner Entscheidung von Juli 2012 angewiesen, Maßnahmen zu ergreifen, um den speziellen Bedürfnissen des X. nachzukommen. Dazu habe gezählt, dass ihm 24 Stunden täglich Pflegepersonal zur Verfügung stehe und dass das Gericht monatlich über seinen Gesundheitszustand informiert werde. Entsprechende Umsetzungsmaßnahmen seien erfolgt. Im Übrigen sei die Bewilligung von Hausarrest nur ausnahmsweise möglich und in diesem Fall zu Recht verweigert worden. X. hätte auch im Fall des Hausarrests den Krankentransport in Anspruch nehmen müssen. Auch sei die Verweigerung des Hausarrests üblich. Wer wie X. zu einer Freiheitstrafe verurteilt werde, müsse diese in einer Haftanstalt oder einer Haftklinik verbüßen (Rz. 4.1-4.10).

X. trug daraufhin vor, dass die Ezeiza-Haftanstalt nicht dafür gesorgt habe, ihm eine an seinen Bedürfnissen ausgerichtete Unterkunft zu stellen und er nicht die Rehabilitationsnachsorge erhalten habe, die ihm die Ärzt*innen empfahlen. Zwei Jahre habe er keine adäquate Behandlung erhalten, was ihn immer noch physisch und psychisch belaste.

Im April 2013 habe ein Arzt der Haftanstalt das erstinstanzliche Gericht informiert, dass die Haftklinik nicht über die Spezialausstattung verfüge, die für die Behandlung des X. erforderlich sei. Dem seien die Gerichte nicht nachgekommen. Erst nachdem der UN-Ausschuss im April 2013 einstweilige Maßnahmen gegen die Regierung angeordnet habe, seien seine Haftbedingungen vor Ort untersucht worden. Dies habe aber wenig an seiner Situation geändert. Die Krankentransporte würden nur unregelmäßig durchgeführt  und ein Zahnarzttermin sei monatelang hinausgezögert worden.

Schließlich sei die Rehabilitationsnachsorge, wie sie von der Haftklinik durchgeführt werde, insgesamt ineffizient. So sei sein Antrag auf Fortsetzung seiner Rehabilitationsnachsorge am FLENI Institut erneut durch das erstinstanzliche Gericht abgelehnt worden und die Ärzt*innen seien sich insgesamt uneins über die angemessene Behandlung für ihn. Die Rehabilitationsnachsorge habe auch erst im Juli 2013 begonnen und sei im September 2013 unterbrochen worden, nachdem die Ambulanz, die seine Krankentransport durchgeführt habe, einen Unfall gehabt habe. Dieser habe bei ihm zu zusätzlichen starken Hals- und Hüftschmerzen geführt (Rz. 5.1-5.8).

Die Regierung führte daraufhin aus, dass das erstinstanzliche Gericht im Juni 2012 den Antrag des X. auf Fortsetzung der Behandlung im FLENI Institut nochmals überprüft und zu Recht abgelehnt habe. Bei dieser Entscheidung sei das medizinische Attest der Abteilung für forensische Medizin berücksichtigt worden. Auch sei während des Strafverfahrens eine Ärztin der Haftklinik angehört worden. Diese habe vorgetragen, dass sie den Empfehlungen des FLENI Instituts gefolgt sei. Medizinische Atteste, die zum Zeitpunkt der Entlassung des X. aus dem FLENI Institut verfasst worden seien, hätten indiziert, dass er als ambulanter Patient weiterbehandelt werden konnte. Weder das FLENI Institut noch Sachverständige hätten dies infrage gestellt. Eine Physiotherapie habe X., einem Sachverständigengutachten zufolge, zu Unrecht verweigert. Diese hätte in seiner Gefängniszelle durchgeführt werden können. Auch habe die Generalanwaltschaft angeordnet, dass seine Behandlung nach dem neuesten Stand der Technik durchgeführt werde, nachdem diese die Haftanstalt im Mai 2013 inspiziert habe.

Weiterhin seien die einstweiligen Maßnahmen des UN-Ausschusses umgesetzt worden. X. habe sich ab September 2013 der Physiotherapie und Psychotherapie unterzogen. Sein Gesundheitszustand habe sich laut eines Gutachtens der Abteilung für forensische Medizin und dreier Sachverständiger, ernannt durch beide Parteien, nicht wesentlich verändert. Daran habe auch, einem weiteren Gutachten zufolge, der Unfall während des Krankentransports nichts geändert (Rz. 6.1-6.8).

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung der Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a und b (Zugänglichkeit zu Transportmitteln, Informations- und Kommunikationsdiensten), Artikel 14 Absatz 2 (Anspruch auf Gewährleistung internationaler Menschenrechtsnormen bei Freiheitsentzug) und Artikel 17 (Schutz der Unversehrtheit der Person) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention; BRK/CRPD) fest.

Er stellte keine Verletzung der Artikel 13 BRK (Zugang zur Justiz), Artikel 15 Absatz 2 BRK (Ergreifung von Maßnahmen zur Verhinderung von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), Artikel 25 BRK (Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit) und Artikel 26 BRK (Habilitation und Rehabilitation) fest.

Der Ausschuss empfahl der argentinischen Regierung, für die angemessene medizinische Versorgung des X. zu sorgen, ihn angemessen zu entschädigen und Maßnahmen zu ergreifen, um erneute Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden (Rz. 9).

3.1 Zulässigkeit (Rz. 7.1-7.5)

Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für teilweise zulässig, da der Beschwerdeführer hinsichtlich der Artikel 9, 10, 14, 15, 17, 25 und 26 BRK seine Beschwerdebefugnis hinreichend begründet habe.

Die Beschwerde sei gemessen an Artikel 2 Buchstabe d und e des fakultativen Zusatzprotokolls zulässig. Der Beschwerdeführer habe sich ausreichend darum bemüht, den innerstaatlichen Rechtsweg auszuschöpfen, auch wenn er nicht den Obersten Gerichtshof angerufen habe. Er habe mehrfach einen Antrag auf Hausarrest und Verlegung in ein Pflegezentrum gestellt. Er habe auch mehrfach Berufung beim Kassationsgerichtshof eingelegt, zuletzt im Mai 2013. Dagegen habe die Regierung nicht vorgetragen, inwiefern X. einen falschen Rechtsbehelf eingelegt habe beziehungsweise auf welche Art und Weise er wirksamen Rechtsschutz vor innerstaatlichen Gerichten hätte erlangen können. Das Einlegen eines außerordentlichen Rechtsbehelfs hätte das Verfahren nur unangemessen verlängert, was die Gesundheit des Beschwerdeführers aufs Spiel gesetzt hätte.

Der Ausschuss erklärt die Beschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer unter Artikel 13 BRK (Zugang zur Justiz) für unzulässig, da X. diesbezüglich nicht alle zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Er habe hierzu nicht ausreichend vorgetragen (Artikel 2 Buchstabe d des fakultativen Zusatzprotokolls; Rz. 7.1-7.4).

3.2 Haftbedingungen in der Haftanstalt (Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a und b, Artikel 14 Absatz 2, Artikel 15 Absatz 2 und Artikel 17 BRK (Rz. 8.4-8.7))

Der Ausschuss stellte eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus den Artikeln 9 Absatz 1 Buchstaben a und b BRK, 14 Absatz 2 BRK und 17 BRK fest.

Er legte zunächst dar, dass auch Menschen mit Behinderungen, denen aufgrund eines Verfahrens ihre Freiheit entzogen wurde, im Einklang mit den Zielen und Prinzipien der BRK zu behandeln seien. Zu diesen Prinzipien zähle die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation. In diesem Zusammenhang sei der Staat verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um auch inhaftierten Menschen mit Behinderungen Barrierefreiheit zu garantieren. Dies schließe mit ein, alle Hindernisse, die der Barrierefreiheit im Wege stehen könnten, zu identifizieren und zu entfernen. Menschen mit Behinderungen, denen die Freiheit entzogen ist, müsse eine unabhängige Lebensführung und die Teilnahme an allen Lebensbereichen in der Haftanstalt möglich sein. Dazu gehöre der gleichberechtigte Zugang zu Badezimmern, Höfen, Büchereien, Studienräumen und Workshops sowie zu medizinischen, psychischen und juristischen Diensten. Vorliegend habe die Regierung zwar Anstrengungen unternommen und Vorkehrungen getroffen, Hindernisse zu entfernen. Der Zugang zum Badezimmer, zur Dusche, zum Innenhof und zum Pflegedienst sei X. aber immer noch nicht möglich. Dies schränke seine Mobilität und unabhängige Lebensführung ein. Da die Regierung keinen unwiderlegbaren Grund dafür angegeben habe, weshalb sie diese Hindernisse nicht (soweit wie möglich) beseitigt habe, seien die Vorschriften aus den Artikeln 9 Absatz 1 Buchstaben a und b BRK, 14 Absatz 2 BRK und 17 BRK verletzt. Die fehlende Zugänglichkeit und die unangemessene Unterbringung führten zu ungenügenden und unterdurchschnittlichen Haftbedingungen, womit auch eine Verletzung aus Artikel 17 BRK vorliege.

Die fehlende Bereitstellung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen in einer Haftanstalt könne auch zu einer Verletzung des Artikels 15 Absatz 2 BRK führen. X. habe aber nicht substanziiert dargelegt, dass hier ein solcher Verstoß gegen die BRK vorliege.

3.3 Keine Verletzung wegen medizinscher Versorgung und Rehabilitation (Artikel 25 und 26 BRK, allein und in Verbindung mit Artikel 14 Absatz 2 BRK (Rz. 8.8-8.10))

Der Ausschuss nahm keine Verletzung der Artikel 25 und 26 BRK, allein und in Verbindung mit Artikel 14 Absatz 2 BRK, an, da diesbezüglich der Vortrag des X. nicht überzeugt habe.

Er führte aus, dass Menschen mit Behinderungen nach Artikel 25 BRK ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung haben. Dazu gehöre der Zugang zur Gesundheitsversorgung, einschließlich der Rehabilitation. Weiterhin verpflichte Artikel 26 BRK die Vertragsstaaten, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit zu erreichen und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen. Zu diesem Zweck müssten umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste erweitert und gestärkt werden und zwar so, dass sie im frühestmöglichen Stadium einsetzten und auf einer multidisziplinären Bewertung der individuellen Bedürfnisse beruhten. In Verbindung mit Artikel 14 Absatz 2 BRK bedeute dies, dass die Vertragsstaaten sicherzustellen haben, dass der Menschenrechtsschutz auch dann gewahrt werde, wenn Justizvollzugsbehörden Kontrolle über Menschen mit Behinderungen ausüben.

Vorliegend habe der Ausschuss keinen Zweifel daran, dass X. auf eine medizinische Versorgung und Rehabilitation angewiesen sei. Hinsichtlich der Qualität und Quantität der Rehabilitationsnachsorge widersprächen sich jedoch die Vorträge der Parteien. Die Gefängnisleitung habe es zwar versäumt, regelmäßig eine den Empfehlungen des FLENI Instituts entsprechende Behandlung durchzuführen. Jedoch habe X. mehrfach abgelehnt, am Rehabilitationsprogramm der Ezeiza-Haftanstalt teilzunehmen. Ab Juli 2013 habe er auf gerichtliche Anordnung hin regelmäßige Physio- und Psychotherapiesitzungen in der Haftklinik und in einem Krankenhaus erhalten. Die Gerichte hätten damit Maßnahmen durchgeführt, um seinen Gesundheitszustand zu verbessern. Dagegen habe X. mit seinem Vortrag nicht vollständig überzeugen können. Der Ausschuss kam im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass ihm keine ausreichenden Beweise vorlägen, um eine Verletzung der Artikel 25 und 26 der Konvention annehmen zu können.

3.4. Gefahr für Gesundheit und Leben wegen Halswirbelsäule (Artikel 10 und 25 BRK (Rz. 8.11-8.12))

Aus demselben Grund lehnte der Ausschuss auch eine Verletzung aus den Artikeln 10 und 25 BRK ab. X. habe nicht dargelegt, dass die Krankentransporte wegen des fragilen Zustandes seiner Halswirbelsäule sein Leben und seine Gesundheit ernsthaft bedroht hätten. Ärztliche Untersuchungen hätten nicht eindeutig feststellen können, dass sich der Zustand seiner Halswirbelsäule durch die Krankentransporte verschlechtert habe. Die von ihm beigebrachte Information genüge nicht, um eine Verletzung der Artikel 10 und 25 BRK wegen eines Krankentransports festzustellen, der auf dem neuesten Stand der Technik und nur in Anwesenheit eines Arztes durchgeführt werde.

3.5 Empfehlungen (Rz. 9)

Der Fachausschuss empfahl, X. eine angemessene medizinische Versorgung sowie reguläre Teilnahme an Rehabilitationsprogrammen zugänglich zu machen. Patient*innen stehe es dabei zu, einer Behandlung zuzustimmen beziehungsweise diese abzulehnen. Der Ausschuss empfahl auch die Zahlung einer angemessenen Entschädigung an ihn.

Allgemein sei Argentinien verpflichtet, ähnliche Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu verhindern. Deshalb müsse der Staat auch sicherstellen, dass geeignete Maßnahmen und angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen, denen die Freiheit entzogen wurde, umgesetzt beziehungsweise getroffen werden. Ihnen müsse die unabhängige Lebensführung und die Teilnahme an allen Lebensbereichen trotz Haft ermöglicht werden. Weiterhin müsse der Staat den gleichberechtigten Zugang zu den Einrichtungen und Diensten der Haftanstalt gewährleisten. Gleiches gelte für die Zugänglichkeit zu medizinischen Versorgungsdiensten und Rehabilitationsprogrammen. Diesbezüglich führte der Ausschuss aus, dass Menschen mit Behinderungen auch in Haftanstalten ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung hätten. Auch müsse sichergestellt werden, dass fehlende Zugänglichkeit und mangelnde Vorkehrungen nicht dazu führen, dass sich die Haftbedingungen für Menschen mit Behinderungen in einem solchen Ausmaß verschlimmern beziehungsweise zu solchen physischen oder psychischen Schmerzen führen, dass sie den Tatbestand der Folter oder grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erfüllen beziehungsweise ihre physische oder psychische Integrität beeinträchtigen. Außerdem sollten Weiterbildungsprogramme zur BRK für relevante Berufsgruppen, wie Richter*innen, Justizbeamt*innen, Gefängniswärter*innen und Pflegepersonal, durchgeführt werden.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In seiner Entscheidung bestätigte der UN-CRPD, dass die Ablehnung angemessener Vorkehrungen im Sinne des Artikels 2 Absatz 4 UN-BRK eine Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 BRK darstellt. Er stellte klar, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, Menschen mit Behinderungen auch während ihrer Haft eine unabhängige Lebensführung zu ermöglichen.
Die Argumentation des CRPD kann in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten mit deutschen Justizvollzugsanstalten an, die nicht oder nur teilweise Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen der Haftanstalt gewähren.

5. Follow up (Stand: August 2017)

Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen trug in seiner 13. Sitzung im Mai 2015 (CRPD/C/13/4) vor, dass er die Umsetzungsmaßnahmen durch die argentinische Regierung beurteilen werde, wenn eine Antwort des X. vorliege. X. beklagte, dass die Unzugänglichkeit von Toiletten und Dusche in der Haftanstalt fortbestehe und dass er im Juni 2014 bei einem neunstündigen Gerichtstermin habe anwesend sein müssen. Die Regierung antwortete darauf, dass sie der Rechtsauffassung des Ausschusses nachgekommen sei. Die sanitären Anlagen der Haftanstalt seien an die Bedürfnisse des X. angepasst worden, die Krankenstation könne mit dem Rollstuhl erreicht werden und der Gehweg im Innenhof sei verbreitert worden, damit dieser mit dem Rollstuhl benutzt werden könne.

6. Entscheidung im Volltext

CRPD_11.04.2014_X_v._Argentina_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)

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