Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

CRPD, Mitteilung Nr. 7/2012 (Noble vs. Australia)

CRPD, Auffassungen vom 02.09.2016, Marlon James Noble (vertreten durch Phillip French) gegen Australien

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.7)

Marlon James Noble (M. N.), geboren 1982, ist intellektuell beeinträchtigt. Im Oktober 2001 wurde er in Westaustralien beschuldigt, in zwei Fällen Geschlechtsverkehr mit einem Kind unter 13 Jahren gehabt zu haben und sich in drei Fällen „unangemessen“ gegenüber einem Kind zwischen 13 und 16 Jahren verhalten zu haben. Die Gesamthöchststrafe für diese Straftaten betrug 20 beziehungsweise sieben Jahre. M. N. wurde festgenommen und in die Justizvollzugsanstalt Hakea gebracht. 2002 wurde er erstmals dem Gericht vorgeführt, blieb aber in Untersuchungshaft, um den Grad seiner intellektuellen Beeinträchtigung festzustellen. Ein Gutachten ergab, dass seine Verhandlungsfähigkeit nicht eindeutig festgestellt werden könne. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung entschlossen sich daraufhin, ein psychiatrisches Gutachten über seinen Geisteszustand nach dem Mentally Impaired Defendants Act („Gesetz für Angeklagte mit intellektuellen Beeinträchtigungen“) einzuholen. Das Gesetz sah vor, dass hierzu die Zustimmung des Betroffenen nicht erforderlich ist. Da im September 2002 dem Gericht nur ein vorläufiges Gutachten vorlag, wurde die mündliche Verhandlung vertagt und bestimmt, dass M. N. weiterhin in Haft bleiben soll. Zwei von den insgesamt drei in Auftrag gegebenen Gutachten ergaben, dass er verhandlungsunfähig sei. Das Gericht erklärte ihn daraufhin für verhandlungsunfähig und den Mentally Impaired Defendants Act für auf ihn anwendbar. Damit verblieb M. N. in Haft und konnte nicht seine Unschuld vor Gericht beweisen.

Während dieser Zeit wachte über die Haftbedingungen von M. N. das Mentally Impaired Defendants Review Board, ein spezieller, für Angeklagte mit intellektuellen Beeinträchtigungen zuständiger Untersuchungsausschuss. Dieser hatte auch entschieden, M. N. bis 2012 in der Justizvollzugsanstalt Greenough unterzubringen. Ab 2009 wurde ihm unter Aufsicht Freigang gewährt. 2010 kam es zu einem Zwischenfall, bei dem M. N. beschuldigt wurde, während eines Heimaturlaubs illegale Drogen konsumiert zu haben. Daraufhin wurde der Freigang ausgesetzt und später durch eine Entscheidung des Ministerpräsidenten wiederhergestellt. Eine Entschuldigung oder Entschädigung für diesen Zwischenfall erhielt M. N. nicht.

Ein neues psychiatrisches Gutachten ergab im Juni 2010, dass M. N., soweit er hierbei angemessene Unterstützung erhalten würde, fähig sei, an einem Gerichtsverfahren teilzunehmen. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn fand jedoch nicht statt. Die Staatsanwaltschaft begründete dies damit, dass M. N. bereits eine beträchtliche Zeit in Haft verbracht habe, die jede eventuell in Betracht kommende Haftstrafe übersteige. Auch sei eine Anklageerhebung nicht erfolgsversprechend, da es an Beweismitteln fehle. Das Gericht lehnte im November 2010 einen Antrag von M. N. ab, in dem er unterstrichen hatte, dass er fähig sei, sich vor Gericht zu verantworten. Die Begründung des Gerichts: es sei dafür nicht zuständig. Die Entscheidungsgründe, weshalb der Antrag abgelehnt worden sei, seien nicht mehr einsehbar, da die Akte verloren gegangen sei. 2011 empfahl der zuständige Untersuchungsausschuss der Staatsanwaltschaft, M. N. unter Auflagen zu entlassen. Dies erfolgte im Januar 2012.

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

M. N. reichte 2012 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Beschwerde unter Berufung auf die Artikel 5, 12, 13, 14 und 15 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein. Diese Vorschriften der BRK seien verletzt, da ihm auf Grundlage des Mentally Impaired Defendants Act ein faires Gerichtsverfahren vorenthalten und durch die Unterbringung in verschiedenen Haftanstalten seine Freiheit entzogen worden sei.

Hinsichtlich der Zulässigkeit der Beschwerde trug M. N. vor, dass die Tatsachen, die für diese Beschwerde relevant seien, auch nach dem Inkrafttreten des fakultativen Zusatzprotokolls zur BRK weiter bestanden hätten. Das Zusatzprotokoll trat im September 2009 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt habe er sich noch in Haft befunden und sei 2010 nur unter Auflagen entlassen worden. Daneben werde ihm die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens verwehrt, was dazu führe, dass er seine Unschuld nicht beweisen könne. Er habe alle zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft. Durch die Weigerung der Staatsanwaltschaft, Anklage in dieser Sache zu erheben beziehungsweise das Verfahren gegen ihn einzustellen, sei es ihm nicht möglich gewesen, ein anderes Gericht anzurufen. Auch habe es der Untersuchungsausschuss unterlassen, einen Antrag auf vorzeitige Entlassung beim Gouverneur zu stellen. Im Übrigen habe das australische Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Mentally Impaired Defendants Act festgestellt, weshalb eine Klage vor innerstaatlichen Gerichten nicht erfolgsversprechend gewesen wäre (Rz. 2.8-2.9).

Die Beschwerde sei auch begründet. Der Mentally Impaired Defendants Act verletze die Vorschrift des Artikels 5 Absatz 1 BRK. Werde ein*e Angeklagte*r danach als verhandlungsunfähig angesehen und sei die vorsitzende Richter*in überzeugt, dass diese*r nicht innerhalb von sechs Monaten dazu fähig sein werde, sich vor Gericht zu verantworten, werde die Anklage aufgehoben. Es liege dann im Ermessen der Richter*in, zu entscheiden, den Angeklagte*n zu entlassen oder in einer Haftanstalt unterzubringen. Eine Rolle spielten dabei die Beweislage, die Schwere der Straftat, das Wesen der Angeklagten, der Grad der intellektuellen Behinderung und das öffentliche Interesse. Der Haftdauer seien keine Grenzen gesetzt und der*die Angeklagte mangels rechtlicher Handlungsfähigkeit nicht in der Lage, seine Unschuld vor Gericht zu beweisen.

Wegen der Missachtung seiner rechtlichen Handlungsfähigkeit seien auch die Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 13 Absatz 1 BRK verletzt, da er durch die Behörden und Gerichte davon abgehalten worden sei, wie andere Angeklagte seine Rechte vor Gericht geltend zu machen. Für ihn seien keine angemessenen Vorkehrungen getroffen worden, um vor Gericht seine Unschuld beweisen zu können.

Die Vorschrift des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe b BRK sei verletzt, da er aufgrund seiner Behinderung inhaftiert worden sei. Er sei mehr als zehn Jahre mit Personen in Haft gewesen, die im Gegensatz zu ihm verurteilt worden waren. Hätte man Anklage gegen ihn erhoben, wäre er zu einer Haftstrafe von höchstens drei Jahren verurteilt worden. Seine Inhaftierung sei willkürlich gewesen, da die Haftdauer laut dem Mentally Impaired Defendants Act unbestimmt sei und es keine Möglichkeit gebe, sich vor Gericht zu verteidigen und die eigene Unschuld zu beweisen. Schließlich habe er keine Unterstützung durch soziale Hilfsdienste erhalten, um sich selbst zu verteidigen. Er sei stigmatisiert worden, da man ihn als Gefahr für die Gesellschaft angesehen habe.

Da ihm seine Freiheit entzogen worden sei, ohne dass er jemals verurteilt worden sei, sei auch die Vorschrift des Artikels 14 Absatz 2 BRK verletzt. Auch würden ihn die Auflagen in seiner Freiheit beschränken - er könne jederzeit wieder inhaftiert werden, sollte er gegen die Auflagen verstoßen.
Es liege auch ein Verstoß gegen die Artikel 14 Absatz 2 und Artikel 15 BRK vor. Seine Inhaftierung in einem Gefängnis habe ihn regelmäßig der Gewalt und dem Missbrauch durch andere Insassen ausgesetzt. Seine Behinderung habe ihn besonders verwundbar gemacht, wodurch er nicht imstande gewesen sei, sich gegenüber anderen Häftlingen zur Wehr zu setzen. Ihr Verhalten sei einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichgekommen (Rz. 3.1-3.6, 5.3.-5.4, 5.9, 5.13, 5.15).

Die australische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.

Die Beschwerde sei gemessen an Artikel 2 Buchstabe f des fakultativen Zusatzprotokolls unzulässig. Die Tatsachen, die sich vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls im September 2009 ereignet hätten, hätten nach diesem Zeitpunkt nicht weiterbestanden.

2003 habe ein*e Richter*in entschieden, M. N. zu inhaftieren. Die Richter*in habe starke Zweifel daran gehabt, M. N. in einem Gefängnis unterzubringen, habe dies aber für die beste Lösung gehalten, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Dem sei vorausgegangen, dass M. N. als unfähig angesehen worden sei, einem Strafverfahren zu folgen und dessen Ablauf begreifen zu können. Zeug*innen hätten sich im Verfahren gegen M. N. in mancher Hinsicht widersprochen. Dies sei aber üblich in Fällen von Kindesmissbrauch. Der vorsitzende Richter sei dann im März 2003 von einem prima-facie-Beweis, also einem Anscheinsbeweis, ausgegangen und habe die Anklage gegen M. N. aufgehoben. Dazu hätten ihn die Schwere der Straftat und ein psychiatrisches Gutachten bewogen, das M. N. für unfähig gehalten habe, seine Emotionen zu kontrollieren. Auch sei relevant gewesen, dass er bereits wegen diverser Straftaten verurteilt worden sei, sein „chaotischer“ Heimatort zur Rehabilitation nicht geeignet gewesen sei und Versuche, ihn mit entsprechenden Diensten zu unterstützen, fehlgeschlagen seien. Haftanstalten, die den speziellen Bedürfnissen von M. N. gerecht würden, hätten nicht existiert. Wegen der Nähe zu seinem Umfeld hätte man sich aber bemüht, ihn in der Haftanstalt Greenough unterzubringen.

Während seiner Haft sei der Untersuchungsausschuss achtmal zusammengekommen, um über die Haftbedingungen von M. N. zu beraten. Er habe an Ausbildungs- und Trainingsprogrammen in der Haftanstalt teilgenommen und sei dort gut eingebunden gewesen. Medizinische Atteste hätten jedoch empfohlen, M. N. nicht vorzeitig zu entlassen. Dagegen hätten seine Verwundbarkeit, die Gefahr, dass er dieselben Straftaten wiederhole und der Mangel an geeigneter Hilfe gesprochen. Psychologische Gutachten hätten bestätigt, dass M. N. sich bemühe, „es allen recht zu machen“, was dazu führen könne, dass er leicht ausgebeutet und manipuliert werden könne. Er habe zudem unvorhersehbare, aggressive Gefühlausbrüche. Seine Behinderung erfordere folglich eine Rundumbetreuung, die nicht geleistet werden könne. Es sei aber seine schrittweise Entlassung befürwortet worden. Dabei sei die Gewährung von Heimaturlaub als integraler Bestandteil seiner Rehabilitation angesehen worden. Seit seiner Entlassung sei der Untersuchungsausschuss dreimal zusammengekommen. Ab 2013 seien die Auflagen für seine Entlassung gelockert worden. M. N. habe Cafés und Restaurants besuchen und unter Aufsicht an anderen Orten als seinem Erstwohnsitz übernachten dürfen.

Bezugnehmend auf seinen Vortrag hinsichtlich Artikel 14 Absatz 2 BRK erläuterte die Regierung, dass sich M. N. nicht mehr in Haft befinde und er unter Auflagen entlassen worden sei. Er habe diesbezüglich nicht alle zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft. Die Entscheidungen des Untersuchungsausschusses hätten durch den Obersten Gerichtshof der Region überprüft werden können. 2010 habe ein Gericht M. N. hierauf hingewiesen.

Was die Vorwürfe hinsichtlich seines Zugangs zum Recht betreffe, trug die Regierung vor, dass diese nicht hinreichend begründet worden seien und die Beschwerde diesbezüglich unzulässig sei. M. N. werde nicht als schuldig angesehen. Es sei gegen ihn kein Strafverfahren anhängig und die Anklage gegen ihn sei aufgehoben worden.

Dies gelte auch für seinen Vortrag hinsichtlich seiner Behandlung im Gefängnis. Während seiner Inhaftierung hätten sich nur zwei Vorfälle in den Jahren 2005 und 2007 ereignet. Diese seien aber erfolgreich geschlichtet worden und hätten bei ihm nicht zu schweren Verletzungen geführt. Auch habe M. N. während dieser Zeit verschiedene Beratungsdienste, zugeschnitten auf seine Bedürfnisse, beanspruchen können.

Hinsichtlich des Vorwurfs, zu Unrecht mit anderen inhaftiert worden zu sein, die verurteilt worden seien, sei die Beschwerde zulässig, aber unbegründet. Die Verpflichtung zur getrennten Unterbringung habe nicht bestanden, da M. N. nicht angeklagt gewesen sei. Jedenfalls sei das Recht auf getrennte Unterbringung ein Recht, das Australien nur nach und nach umsetzen müsse (Rz. 4.17).

Der Staat räumte ein, dass es ein Fehlurteil hinsichtlich der Gefängnisstrafe gab. Als dieser Fehler entdeckt worden sei, seien M. N. jedoch unmittelbar Heimaturlaub und zwei 48-Stunden-Übernachtungen pro Woche gewährt worden. Es sei eine unabhängige Untersuchung durchgeführt worden, die zu dem Ergebnis gekommen sei, dass sich M. N. zu Unrecht in der Justizvollzugsanstalt befunden habe. Daraufhin habe die Strafvollzugsbehörde Änderungen des Prüfverfahrens für Freiheitsstrafen eingeführt und ein Trainingsprogramm entwickelt. M. N. habe durch die Inhaftierung zwar sicherlich Kummer und Stress erlitten, gleichwohl handle es sich nicht um eine entwürdigende Behandlung oder Bestrafung. (Rz. 4.16, 4.4.18)

Gleiches gelte für seine Entlassung unter Auflagen, die keinen Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 1 BRK darstelle. Die Beschwerde sei unzulässig, da M. N. einen Antrag auf Änderung der Auflagen hätte stellen können, und unbegründet, da die Auflagen dazu dienen, ihn in die Gesellschaft wieder einzugliedern und die Sicherheit der Gemeinschaft zu gewährleisten.

Weiterhin liege kein Verstoß gegen Artikel 5 BRK vor. Der Mentally Impaired Defendants Act diskriminiere M. N. nicht wegen seiner Behinderung. Er sehe nur eine differenzierte Behandlung für Personen vor, die sich nicht vor Gericht selbst verantworten können. Dieser Ansatz stehe im Einklang mit den UN-Menschenrechtsmechanismen und sei üblich in Australien und anderen Ländern. Das Gesetz diene dazu, die Gemeinschaft zu schützen. Daneben gewährleiste der Untersuchungsausschuss faire Haftbedingungen und eine regelmäßige Überprüfung, ob die Gründe für die Unterbringung noch vorliegen, mit der Möglichkeit, entlassen zu werden (Rz. 4.1-4.18, 6.2).

M. N. führte aus, er habe keine weiteren Rechtsbehelfe einlegen können. Ein Justizirrtum habe durch die Gerichte nicht festgestellt werden können, da der Mentally Impaired Defendants Act rechtlich korrekt angewendet worden sei. Widerspruch gegen die Beschlüsse des Untersuchungsausschusses hätte zwar beim Ministerium für Gesundheit beziehungsweise der Gouverneur*in eingelegt werden können, ohne damit jedoch eine Entscheidung zu erreichen, die auch vollstreckbar gewesen wäre.

Generell verfolge der Mentally Impaired Defendants Act keinen legitimen Zweck. Dies ändere sich nicht dadurch, dass ein solches Gesetz auch in anderen Ländern existiere.

Der Untersuchungsausschuss habe seine Haft und seine Entlassung unter Auflagen fortgesetzt, obwohl ihm bekannt gewesen sei, dass die angeblichen Opfer von M. N. ihre Anschuldigungen gegen ihn öffentlich zurückgezogen hätten.

Nie sei er in einer Haftanstalt untergebracht worden, die speziell seine Bedürfnisse berücksichtigt hätte. Die Regierung der Region Westaustralien habe ihre Pläne verworfen, zwei Justizzentren für Menschen mit Behinderungen zu bauen. Es sei nur eine Einrichtung errichtet worden, die zehn Personen aufnehmen könne und hochgradig abgesichert sei. Sollte die Einrichtung ihren Betrieb aufnehmen, befürchte er, dass seine Entlassung unter Auflagen aufgehoben und er dort inhaftiert werde (Rz. 5.5-5.6, 5.10).

Die Regierung fügte hinzu, dass 2014 der neue Mental Health Act in Kraft getreten sei und der Mentally Impaired Defendants Act auf seine Rechtmäßigkeit überprüft worden sei. Der Abschlussbericht werde 2016 folgen (Rz. 6.3).

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Der Fachausschuss stellt eine Verletzung der Artikel 5 Absatz 1 und 2 (Diskriminierungsverbot), Artikel 12 Absatz 2 und 3 (Rechts- und Handlungsfreiheit), Artikel 13 Absatz 1 (Zugang zur Justiz), Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b (Verbot willkürlicher Freiheitsentziehung) und Artikel 15 Absatz 1 (Freiheit von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) fest.

Er nimmt keine Verletzung des Artikels 14 Absatz 2 BRK (Anspruch auf die in den internationalen Menschenrechtsnormen vorgesehenen Garantien) an (Rz. 7.8).

Der Ausschuss empfahl der australischen Regierung, die Auflagen für die Entlassung von M. N. aufzuheben, den Mentally Impaired Defendants Act unter Beachtung der Rechtsauffassung des Ausschusses abzuändern, die Rechtskosten von M. N. zu tragen, ihn angemessen zu entschädigen sowie Maßnahmen zu ergreifen, um erneute Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden (Rz. 9).

3.1 Zulässigkeit (Rz. 7.1-7.11)

Der Fachausschuss erklärt die Beschwerde für teilweise zulässig.

Die Beschwerde sei im Hinblick auf Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b BRK zulässig. Nach Artikel 2 Buchstabe f des fakultativen Zusatzprotokolls hätten die der Beschwerde zugrunde liegenden Tatsachen auch nach dem Inkrafttreten des Protokolls weiterbestanden. Eine Menschenrechtsverletzung bestehe fort, wenn die vor dem Inkrafttreten des Protokolls erfolgte Verletzung infolge eines Gesetzes oder einer eindeutigen Folgehandlung auch nach diesem Zeitpunkt weiterbestehe. M. N. habe sich im Zeitraum von 2001 bis 2012 ununterbrochen in Haft befunden: 2001 wegen des Vorwurfs, Sexualstraftaten begangen zu haben, 2002 zwecks Feststellung seiner intellektuellen Behinderung und ab 2003 auf Anordnung des Gerichts auf der Grundlage des Mentally Impaired Defendants Act.

Die Beschwerde sei auch im Hinblick auf die Artikel 12 Absatz 2 und 3 und Artikel 13 Absatz 1 BRK zulässig. Dem stehe nicht Artikel 2 Buchstabe d des fakultativen Zusatzprotokolls entgegen. Das erstinstanzliche Gericht habe M. N. zunächst 2003 seine Verhandlungsfähigkeit aberkannt und sich 2010 für unzuständig erklärt, festzustellen, ob er sich vor Gericht verantworten könne. Mangels Handlungsfähigkeit sei es M. N dann nicht möglich gewesen, sein Anliegen vor anderen Gerichten einzubringen. Auch habe er diesbezüglich alle zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft. Es sei nicht erforderlich gewesen, ein Berufungsgericht anzurufen. Die Berufung wäre ohne Erfolg geblieben, da das erstinstanzliche Gericht das Gesetz korrekt angewendet habe.

Bezugnehmend auf die Verletzung des Artikels 5 Absatz 1 BRK handele es sich nicht um eine actio popularis, also eine Klage, die von einer Person erhoben wird, die keine eigene Rechtsverletzung geltend macht, sondern für andere oder die Allgemeinheit handelt. M. N. habe hinreichend dargelegt, dass er selbst durch den Mentally Impaired Defendants Act verletzt worden sei.

Der Ausschuss erklärt die Beschwerde im Hinblick auf Artikel 14 Absatz 2 BRK für unzulässig. M. N. habe diesbezüglich nicht dargelegt, ob er den innerstaatlichen Rechtsweg im Sinne des Artikels 2 Buchstabe d des fakultativen Zusatzprotokolls ausgeschöpft habe.

3.2 Begründetheit (Rz. 8.2-8.10)

Der Ausschuss stellt eine Verletzung der Rechte von M. N. aus den Artikeln 5 Absatz 1 und 2, 12 Absatz 2 und 3, 14 Absatz 1 Buchstabe b sowie Artikel 15 Absatz 1 BRK fest. Es liege eine Diskriminierung vor, weil M. N. aufgrund seiner Behinderung ein faires, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgerichtetes Verfahren verwehrt worden sei und er auf unbestimmte Zeit inhaftiert und bei seiner Entlassung Auflagen ausgesetzt gewesen sei.

Der Ausschuss stellt zunächst eine Verletzung des Artikels 5 Absatz 1 und 2 BRK fest, da der Mentally Impaired Defendants Act M. N. davon abgehalten habe, sein Recht auf ein faires Verfahren auszuüben. Dabei sei zu bedenken, dass auch ein neutral angewendetes Gesetz diskriminierende Auswirkungen haben könne, wenn die besonderen Umstände der betroffenen Person nicht berücksichtigt würden. Der Mentally Impaired Defendants Act erlaube, Angeklagte mit intellektueller Beeinträchtigung ohne Feststellung ihrer Schuld auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren und enthalte ihnen vor, sich in einem Gerichtsverfahren zu verantworten. Angeklagten aber, die keine Behinderung hätten, sei es erlaubt, ihre Unschuld vor Gericht zu beweisen. Diese unterschiedliche Behandlung von Angeklagten mit und ohne intellektuelle Behinderung stelle eine Diskriminierung im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 BRK dar. M. N. sei aufgrund seiner Behinderung im Zeitraum von 2001 bis 2012 für Straftaten inhaftiert worden, die niemals bewiesen worden seien. Im Fokus seines Strafverfahrens habe seine intellektuelle Behinderung gestanden, ohne dass er die Möglichkeit erhalten habe, sich gegen die Anklage zu verteidigen. Dabei sei M. N. auch nicht durch geeignete Dienste oder Vorkehrungen unterstützt worden.

Dadurch, dass M. N. nicht in die Lage versetzt worden sei, sich vor Gericht verantworten und seine Unschuld beweisen zu können, seien auch die Artikel 12 Absatz 2 und 3 sowie 13 Absatz 1 BRK verletzt worden. Grundsätzlich komme den Vertragsstaaten zwar ein Beurteilungsspielraum zu, wenn es darum gehe, verfahrensrechtliche Regelungen für Menschen mit Behinderungen aufzustellen. Dabei müssten sie aber die Rechte von Menschen mit Behinderungen respektieren. Dies sei vorliegend nicht geschehen. Der Mentally Impaired Defendants Act habe M. N. seine Rechte aus Artikel 12 Absatz 2 und 3 sowie Artikel 13 Absatz 1 BRK entzogen. Weiterhin habe er bei seiner Verteidigung nicht auf angemessene Hilfsdienste zurückgreifen können, obwohl er deutlich gemacht habe, dass er sich gegen die gegen ihn gemachten Anschuldigungen zur Wehr setzen wolle. Folglich sei es ihm nie möglich gewesen, freigesprochen zu werden.

Zudem sei Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe 1 BRK verletzt worden. M. N. sei ohne Verurteilung in einem Gefängnis inhaftiert worden, obwohl das zuständige Gericht selbst Zweifel daran gehabt habe, ob das Gefängnis „der richtige Ort“ für ihn sei. Diese Entscheidung sei auch deshalb erfolgt, da keine andere Einrichtung oder Vorkehrung existiert habe, die auf die Bedürfnisse von M. N. besser zugeschnitten gewesen sei. Folglich sei seine intellektuelle Beeinträchtigung der einzige Grund für seine Inhaftierung gewesen. Das Vorliegen seiner Behinderung habe damit seine Freiheitsentziehung gerechtfertigt.

Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b BRK sei auch deshalb verletzt, da der Untersuchungsausschuss beschlossen habe, dass auf die Inhaftierung unmittelbar die Entlassung mit Auflagen folgen solle.

Zudem sei gegen Artikel 15 Absatz 1 BRK verstoßen worden. Die Vertragsstaaten hätten eine herausragende Bedeutung, wenn es darum gehe, Menschen mit Behinderungen, deren Freiheit entzogen worden sei, vor Diskriminierung zu schützen. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf ihre Bedürfnisse und Verwundbarkeit. M. N. sei regelmäßig Gewalt und Missbrauch in der Justizvollzugsanstalt ausgesetzt gewesen und habe mehr als 13 Jahre in Haft verbracht, ohne deren Ende absehen zu können. Die daraus resultierenden psychologischen Folgen für ihn seien irreparabel. Seine Haft habe daher zu einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne des Artikels 15 Absatz 1 BRK geführt.

3.3 Empfehlungen (Rz. 9)

Der Fachausschuss empfahl in Bezug auf M. N., die Auflagen für seine Entlassung aufzuheben und diese durch angemessene Hilfsdienste zu ersetzen, um seine Inklusion in die Gesellschaft zu fördern. Weiterhin empfahl er, dass seine Rechtskosten getragen und ihm eine angemessene Entschädigung gezahlt werden solle.

Allgemein sei Australien verpflichtet, ähnliche Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu verhindern. Deshalb müsse der Staat auch sicherstellen, dass der Mentally Impaired Defendants Act entsprechend der Rechtsauffassung des Ausschusses geändert werde, dass Personen mit intellektueller Behinderung geeignete Hilfsdienste bereitgestellt würden, und dass adäquate Aus- und Weiterbildungsprogramme für alle Einrichtungen angeboten würden, die über die Handlungsfähigkeit von Menschen mit intellektueller Behinderung entscheiden.

3.4 Abweichende Stellungnahme (Damjan Tatić)

Damjan Tatić trug vor, dass die Beschwerde im Hinblick auf Artikel 12 Absatz 2 und 3 sowie Artikel 13 Absatz 1 BRK ratione temporis, also bezogen auf die zeitliche Anwendbarkeit der BRK, unzulässig sei. 2010 sei das erstinstanzliche Gericht nicht auf die Begründetheit und all jene Entscheidungen eingegangen, die vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls getroffen worden seien. Damit habe das Gericht das vormalige Urteil weder bestätigt noch bestärkt.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In seiner Entscheidung bestätigte der UN-CRPD, dass ein Gesetz, das eine unterschiedliche Behandlung für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte vorsieht, eine Diskriminierung im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 BRK darstellt. Eine intellektuelle Beeinträchtigung kann nicht zum Vorwand genommen werden, um Betroffenen ihr Recht auf ein faires Verfahren zu nehmen und sie damit rechtlos zu stellen. Der Ausschuss stellt klar, dass ein Gesetz, das die Inhaftierung von Personen mit intellektuellen Behinderungen auf unbestimmte Zeit und ohne ihre vorherige Verurteilung vorsieht, gegen die BRK verstößt und niemals ein legitimes Ziel verfolgen kann.

Die Argumentation des CRPD kann zum Beispiel in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten mit deutschen Gerichten und Justizvollzugsanstalten an, die Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf ein faires Verfahren nehmen beziehungsweise ihnen keine geeignete Hilfestellung bei der Verteidigung ihrer Rechte zur Verfügung stellen.

5. Entscheidung im Volltext

CRPD_02.09.2016_Noble_v._Australia_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)

Zum Seitenanfang springen