CRPD, Mitteilung Nr. 6/2011 (McAlpine vs. United Kingdom)
CRPD, Auffassungen vom 28.09.2012, Kenneth McAlpine gegen das Vereinigte Königreich
1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.8)
Der 1964 geborene Kenneth McAlpine (K. M.) leidet seit frühester Kindheit an Diabetes mellitus Typ 1. Seit August 1998 war er als Berater bei dem britischen Technikkonzern Oracle Corporation angestellt. Als man seinen Aufgabenbereich im November 2005 veränderte, erklärte K. M. gegenüber seinem direkten Vorgesetzten, P. S., dass er mit den neuen Aufgaben und dem erhöhten Arbeitspensum überfordert sei. In diesem Zusammenhang erwähnte er auch erstmals seine Krankheit. Sein Aufgabenbereich wurde daraufhin reduziert. Wenig später äußerte K. M., dass er seine Tätigkeit nicht mehr in Vollzeit ausüben wolle, jedoch daran interessiert sei, einer anderen Beschäftigung bei Oracle nachzugehen.
Infolge einer Fusion von Oracle mit einem anderen Unternehmen kam es zu Restrukturierungsmaßnahmen, die sich auch auf den Arbeitsbereich von K. M. auswirkten. Eine seiner bisherigen Kernaufgaben wurde zentral organisiert und infolgedessen reduzierte sich sein Tätigkeitsbereich erheblich. Im Mai 2006 wurde er informiert, dass man ihn im Juli 2006 entlassen werde. Eine andere Stelle innerhalb des Konzerns wurde ihm nicht angeboten, da er für die freien Stellen nicht die erforderliche Arbeitserfahrung besitze. K. M. bewarb sich auch nicht auf andere Positionen bei seinem damaligen Arbeitgeber.
Im August 2006 erhob K. M. Klage, weil er der Ansicht war, dass sein Arbeitsverhältnis nicht rechtmäßig beendet worden sei und seine Kündigung gegen den Disability Discrimination Act 1995 verstoße. Er sei aufgrund seiner Behinderung und/oder seiner Bitte, sein Arbeitspensum aufgrund seiner Behinderung zu verringern, entlassen worden. Auch sei er der*die einzige Mitarbeiter*in aus seinem Team, dessen Arbeitsverhältnis beendet worden sei, obwohl er und seine Kolleg*innen dieselbe Berufsbezeichnung gehabt hätten und demselben Aufgabenspektrum nachgegangen seien. Nach seiner Entlassung seien auch neue Mitarbeiter*innen rekrutiert worden. Zudem habe sein Arbeitgeber versäumt, angemessene Vorkehrungen zu treffen, die es ihm trotz seiner Behinderung ermöglicht hätten, seiner Beschäftigung nachzugehen.
Das erstinstanzliche Gericht entschied im Juli und August 2007, K. M. nicht Recht zu geben. Seine Kündigung sei weder unangemessen noch diskriminierend gewesen, da seine Position aufgrund des neuen Geschäftsmodells weggefallen sei. K. M. habe selbst entschieden, weniger Aufgaben als seine Kolleg*innen wahrzunehmen und im Laufe des Verfahrens nicht bestritten, dass er nur eine geringe Anzahl der Aufgaben erledigt habe, die in das Tätigkeitsprofil des Service Delivery Managers fielen. Auch sei die Kündigung nicht diskriminierend gewesen. Im Februar 2006 hatte M. T., ein weiterer Vorgesetzter von K. M., eine Namensliste mit Personen erstellt, die infolge der Restrukturierungsmaßnahmen entlassen werden sollten. Dazu zählte auch K. M. Das Gericht ging davon aus, dass M. T. keine Kenntnis von seiner Diabeteserkrankung hatte, als er die Namensliste erstellte. K. M. hatte vorgetragen, dass M. T. durch eine E-Mail von P. S. von der Diabetes-Erkrankung erfahren habe. In dieser E-Mail habe P. S. empfohlen, K. M. zu entlassen, da die Kombination von Diabetes und Bluthochdruck zu verlängerten Abwesenheiten aufgrund von Krankheit führen könne.
Über die Versagung angemessener Vorkehrungen für K. M. entschied das Gericht nicht.
Das zweitinstanzliche Gericht nahm im Oktober 2007 die Berufung von K. M. nicht zur Entscheidung an, da er keine neuen Tatsachen vorgetragen habe.
Die Beschwerde gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts lehnte der Oberste Gerichtshof im Februar 2010 mit der Begründung ab, dass der Vortrag von K. M. allein in die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts falle.
Im August 2008 reichte K. M. Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein, weil er sein Recht auf ein faires Verfahren und sein Recht auf Diskriminierungsschutz in Verbindung mit anderen Rechten durch staatliche Einrichtungen verletzt sah. Der EGMR wies die Beschwerde von K. M. im März 2011 als unzulässig zurück, da keine Rechtsverletzung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention gegeben sei.
2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
K. M. reichte 2011 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf die Artikel 4, 5, 8, 12, 22 und 27 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein, da seine Entlassung aufgrund der fälschlichen Annahme erfolgt sei, dass Diabetes zu längerer Abwesenheit wegen Krankheit führe. Britische Gerichte hätten es versäumt, die nationale Gesetzgebung im Lichte der BRK auszulegen, und zudem ihre Entscheidungen auf verfälschte Beweismittel gestützt.
Die Vorschrift des Artikels 4 Absatz 1 Buchstaben d und e BRK (Allgemeine Verpflichtungen) sei verletzt, da staatliche Einrichtungen es unterlassen hätten, Maßnahmen zu treffen, die sichergestellt hätten, dass staatliche Einrichtungen Schutz vor Diskriminierung wegen einer Diabeteserkrankung gewähren. Auch habe der Vertragsstaat keine Maßnahmen ergriffen, um die Diskriminierung durch private Unternehmen zu unterbinden.
Die Vorschrift von Artikel 5 Absatz 2 BRK (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung) sei verletzt, weil staatliche Einrichtungen die Annahme zugelassen hätten, dass eine Behinderung zwangsläufig zu einer krankheitsbedingten Abwesenheit führe.
Die Vorschrift des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe b BRK (Bewusstseinsbildung) sei verletzt, da keine effektiven staatlichen Maßnahmen getroffen worden seien, um Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen durch den Arbeitgeber, das Rechtssystem und die Gerichte zu unterbinden.
Die Vorschrift von Artikel 12 Absatz 4 BRK (Gleiche Anerkennung vor dem Recht) sei dadurch verletzt, dass die Gerichte vom Arbeitgeber verfälschte Beweismittel zur Entscheidungsfindung herangezogen hätten. Beispielsweise sei der Name von K. M. der Namensliste von M. T. handschriftlich und nicht in gedruckter Form hinzugefügt worden, wie es aber für die anderen Namen auf der Liste üblich gewesen sei.
Die Vorschrift des Artikels 22 Absatz 1 BRK (Achtung der Privatsphäre) sei zum einen verletzt, da Gerichtsbeamt*innen versucht hätten, K. M. derart unter Druck zu setzen, dass er die Klage gegen Oracle zurücknehme. Gerichtsbeamt*innen hätten im September 2010 seine Nachbar*innen über sein Befinden und seine Beschäftigung befragt und K. M. um Informationen hinsichtlich des Wertes seines Hauses und Autos gebeten. Die Summe der voraussichtlichen Gerichtskosten hätten sie ihm verschwiegen. Zum anderen habe das erstinstanzliche Gericht K. M. nicht für einen „wahrheitsgetreuen Zeugen“ gehalten, was sein Ehrgefühl aus Artikel 22 BRK verletzt habe.
Die Vorschrift des Artikels 27 Absatz 1 Buchstabe a BRK (Arbeit und Beschäftigung) sei verletzt, da für K. M. nicht dieselben Beschäftigungsbedingungen wie für seine Kolleg*innen gegolten hätten und er allein aufgrund eines Klischees über Diabeteserkrankungen entlassen worden sei. Bei seiner Entlassung sei nicht berücksichtigt worden, dass er im Zeitraum von 2004 bis 2006 nur an zwei Tagen wegen Krankheit gefehlt habe (Rz. 3.1-3.7).
Die britische Regierung wies die gegen sie gerichtete Beschwerde als unzulässig zurück.
Die Beschwerde sei nach Artikel 2 Buchstaben c, e und f des fakultativen Zusatzprotokolls zur BRK unzulässig, da dieselbe Sache bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft worden sei, die Beschwerde offensichtlich unbegründet beziehungsweise nicht hinreichend begründet worden sei und auf Tatsachen beruhe, die vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls eingetreten seien (Rz. 4.1).
Die Beschwerde sei unzulässig gemessen an Artikel 2 Buchstabe c des fakultativen Zusatzprotokolls, da bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in derselben Sache entschieden habe.
Auch sei die Beschwerde wegen Artikel 2 Buchstabe e des fakultativen Zusatzprotokolls als unzulässig zu erachten, da K. M. dieselben Tatsachen vorgetragen habe, wie sie bereits durch britische Gerichte erörtert worden seien. Er habe auch nicht dargelegt, auf welche Art und Weise die britische Regierung die BRK verletzt habe. Es falle nicht in die Zuständigkeit von UN-Fachausschüssen über Tatsachen zu entscheiden, welche bereits hinreichend durch staatliche Stellen der Vertragsstaaten erörtert worden seien. Im nationalen Recht schütze der Disability Discrimination Act 1995 vor Diskriminierung aufgrund einer Behinderung am Arbeitsplatz.
Die Beschwerde sei zudem unzulässig gemessen an Artikel 2 Buchstabe f des fakultativen Zusatzprotokolls, da sich die für die Beschwerde relevanten Tatsachen vor Inkrafttreten des Zusatzprotokolls ereignet hätten. Das Zusatzprotokoll sei im September 2009 in Kraft getreten. Im Fokus der Beschwerde vor dem Ausschuss stünden aber die Entlassung von K. M. aus dem Jahr 2006 und die Anhörungen vor Gericht aus dem Jahr 2007, in denen die der Entlassung zugrundeliegenden Tatsachen erörtert worden seien (Rz. 4.2-4.4).
K. M. entgegnete, die Beschwerde sei zulässig und begründet.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe seine Beschwerde nur aus prozessrechtlichen Gründen abgelehnt und nicht in materiell-rechtlicher Hinsicht geprüft. Die BRK biete zudem einen umfassenderen Schutz für Menschen mit Behinderungen als die Europäische Menschenrechtskonvention.
Die Rechtsverletzungen der BRK seien durch die Urteile der britischen Gerichte bewiesen. Dort hätten diese bestätigt, dass die Behauptung, Diabetes führe zu einer längerfristigen Abwesenheit wegen Krankheit, nicht als Diskriminierung anzusehen sei (Rz. 5.1-5.3).
3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
Der Fachausschuss erklärte sich ratione temporis, also bezogen auf die zeitliche Geltung der BRK, für unzuständig im Sinne des Artikels 2 Buchstabe f des fakultativen Zusatzprotokolls (Rz. 6.1).
3.1 Zulässigkeit (Rz. 6.1-6.6)
Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde ratione temporis für unzulässig.
Der Ausschuss stellte die Unzulässigkeit der Beschwerde im Sinne des Artikels 2 Buchstabe f des fakultativen Zusatzprotokolls fest, da sich die Entlassung und ihre gerichtliche Überprüfung vor dem Inkrafttreten des fakultativen Zusatzprotokolls im September 2009 ereignet hätten. Die Beschwerde vor dem Ausschuss beziehe sich auf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beschwerdeführers im Jahr 2006. Nach dem Vortrag des Beschwerdeführers erfolgte die Kündigung, weil sein Arbeitgeber davon ausgegangen sei, dass die Behinderung von K. M. zu längeren Abwesenheiten wegen Krankheit führen könne. Der Beschwerdeführer habe darin eine Diskriminierung aufgrund seiner Behinderung gesehen. Hierzu sei er mehrfach gerichtlich angehört worden. Das erstinstanzliche Gericht habe ihm nicht Recht gegeben und auch das zweitinstanzliche Gericht habe seine Berufung 2007 zurückgewiesen. Die Kündigung und die gerichtliche Überprüfung der Kündigung hätten folglich stattgefunden, bevor die Konvention und das Zusatzprotokoll 2009 in Kraft getreten seien. Der vom Beschwerdeführer angerufene Oberste Gerichtshof habe im Februar 2010 nicht zur Sache entschieden, sondern lediglich darauf verwiesen, dass Fragen der Beweiswürdigung allein in die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts fielen und auch keine Rechtsfehler ersichtlich seien, die die Zuständigkeit des Berufungsgerichts hätten begründen können. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes habe weder inhaltlich Bezug zur Diskriminierung des Beschwerdeführers genommen noch die Entscheidungsgründe des erst- und zweitinstanzlichen Gerichts wiederholt. Damit stelle die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs selbst keinen Akt dar, der die Rechte des Beschwerdeführers verletze. Die der Beschwerde zugrundeliegenden Tatsachen hätten sich somit vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls ereignet (Rz. 6.1-6.5).
Der Ausschuss hielt eine Prüfung des Artikels 2 Buchstabe c und e des Fakultativprotokolls nicht mehr für erforderlich (Rz. 6.6).
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
In seiner Entscheidung erklärte sich der UN-CRPD ratione temporis für unzuständig. Er stellte fest, dass es zur Bestimmung der Zulässigkeit darauf ankommt, wann ein Sachverhalt abgeschlossen wurde. Im diesem Fall setzte der Fachausschuss die Zäsur bei der letzten gerichtlichen Entscheidung, die sich inhaltlich mit der gerügten Rechtsverletzung auseinandersetzte und stellte nicht auf die zuletzt angerufene Instanz ab.
5. Entscheidung im Volltext
CRPD_28.09.2012_McAlpine_v._United_Kingdom_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)