CRPD, Mitteilung Nr. 5/2011 (Jungelin vs. Sweden)
CRPD, Auffassungen vom 02.10.2014, Marie-Louise Jungelin (vertreten durch die Swedish Association of Visually Impaired Youth und die Swedish Association of the Visually Impaired) gegen Schweden
1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.7)
Die 1970 geborene Marie-Louise Jungelin (M. J.) ist seit ihrer Geburt stark sehbehindert. Sie erwarb ihren Hochschulabschluss an einer allgemeinen Schule, absolvierte einen Bachelor der Rechte an der Universität Stockholm und sammelte mehrjährige Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen, unter anderem auch in der Bearbeitung rechtlicher Aufträge/Angelegenheiten. Dadurch ist sie es gewohnt, mit unterschiedlichen Computer- und Fallbearbeitungssystemen zu arbeiten, die an ihre Bedürfnisse angepasst sind. Im Mai 2006 bewarb sie sich für eine Festanstellung als Sachverständige*r /Fallbearbeiter*in bei der schwedischen Sozialversicherungsanstalt. Die Tätigkeit umfasste die Überprüfung von Anträgen zur Gewährleistung von Krankengeld und Ausgleichszahlungen wegen Krankheit. Um die in den Anträgen gemachten Angaben auf ihre Richtigkeit überprüfen zu können, sollten verschiedene Computerprogramme und Unterlagen in Papierformat, einschließlich handgeschriebener Unterlagen, genutzt werden. M. J. wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Dort erklärte sie, dass sie zwar seit ihrer Geburt sehbehindert sei und ein stark eingeschränktes Sehvermögen habe, jedoch zwischen hell und dunkel unterscheiden und bestimmte Farben erkennen könne. Weiterhin, dass die für Rehabilitationssachen zuständige Abteilung der Arbeitsagentur sie informiert habe, dass sie mit der Sozialversicherungsanstalt in Kontakt treten werde, um über geeignete Anpassungen ihrer Computerprogramme zu sprechen. Im August 2006 erhielt M. J. eine Absage für den Posten. Sie bringe zwar die erforderlichen Qualifikationen für die Stelle mit, allerdings könnten die Computerprogramme, die die Behörde nutzt, nicht an ihre Bedürfnisse angepasst werden. Die EDV-Abteilung sei der Ansicht, dass weder die genutzte Hard- noch die Software über Programme verfüge, die es ermöglichen würden, die durch sie bereitgestellten Informationen in Brailleschrift umzuwandeln. Weiterhin sei es nicht möglich, M. J. einen bestimmten Teil des Computersystems zugänglich zu machen, was selbst dann gelte, wenn sie technische Hilfsmittel nutze.
Daraufhin legte M. J. Beschwerde beim schwedischen Behindertenbeauftragten („Ombusman“) ein. Dieser erhob im März 2008 Klage beim Arbeitsgericht. Er führte an, dass die Sozialversicherungsanstalt gegen das schwedische Antidiskriminierungsgesetz für Menschen mit Behinderungen verstoße habe. Die Behörde habe es versäumt habe, M. J. technische Hilfsmittel und eine persönliche Assistenz in einem Maße zur Verfügung zu stellen, dass ihre Sehbehinderung keine Rolle für die Einstellungsentscheidung gespielt hätte. Diese Anpassungen hätten durch die Behörde auf verschiedene Art und Weise vorgenommen werden können. Der Behindertenbeauftragte unterbreitete drei Vorschläge: a) Die Nutzung von Programmen, dies es M. J. ermöglicht hätten, Informationen unmittelbar vom PC-Monitor abzulesen und von der behördeninternen Software navigiert zu werden. Die Kosten dieser Maßnahme hätten sich auf etwa zwei Prozent des Haushaltsbudgets der Sozialversicherungsanstalt belaufen; b) die Einführung von Programmen, die eingescannte Unterlagen synthetisieren beziehungsweise in Braillezeichen umwandeln; c) angesichts dessen, dass M. J. für diese Stelle überwiegend mit Unterlagen in Papierformat zu tun gehabt hätte, wäre es auch ausreichend gewesen, einen Scanner anzuschaffen, der die Unterlagen synthetisiert beziehungsweise in Braillezeichen umgewandelt hätte. Außerdem hätte M. J. durch eine persönliche Assistenz unterstützt werden müssen, um handschriftliche Unterlagen, die etwa zehn Prozent der Gesamtunterlagen ausgemacht hätten, erfassen zu können. Der Behindertenbeauftragte führte weiter aus, dass die Sozialversicherungsanstalt diese Maßnahmen bereits in anderen Fällen umgesetzt habe und sie hierbei, als Arbeitgeber, vom Staat finanzielle Unterstützung erhalte.
Das Arbeitsgericht gab der Sozialversicherungsanstalt Recht, da M. J. für die Stelle als Sachverständige*r nicht ausreichend qualifiziert gewesen sei. Es müsse berücksichtigt werden, welche Aufgaben in das Tätigkeitsprofil von Sachverständigen fielen. Schwerpunktmäßig müsse man fähig sein, bestimmte Computerprogramme zu nutzen und sich mit handgeschriebenen Unterlagen auseinanderzusetzen. Erst die Bereitstellung von technischen Hilfsmitteln und einer persönlichen Assistenz hätten M. J. in die Lage versetzt, diese Aufgaben zu erfüllen. Die Anpassungen, die man hätte vornehmen müssen, damit M. J. trotz ihrer Behinderung als Sachverständige*r hätte arbeiten können, seien zu zeitintensiv und kostspielig und damit unverhältnismäßig gewesen. Ihre Arbeit wäre dann überwiegend durch ihre persönliche Assistenz erledigt worden, die man zusätzlich zu M. J. hätte vergüten müssen. Daher habe M. J. nicht die für die Beschäftigung als Sachverständige*r erforderlichen Qualifikationen mitgebracht.
2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
M. J. reichte 2011 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf Artikel 5 und 27 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein. Diese Vorschriften seien verletzt, da sie aufgrund ihrer Behinderung durch das Bewerbungsverfahren und die Entscheidung des Gerichts diskriminiert worden sei.
Ihre Bewerbung sei abgelehnt worden, ohne zu prüfen, welche Formen von Hilfe und Änderungen für sie notwendig gewesen wären. Hätte die Behörde ihr Computersystem durch ein Bildschirmlesegerät und ein Braillezeile-Display ergänzt, hätte sie keine Schwierigkeiten gehabt, einen Großteil der Aufgaben, die in der Stellenausschreibung verlangt wurden, zu erledigen. Vor dem Hintergrund, dass die Sozialversicherungsanstalt eine der größten staatlichen Einrichtungen Schwedens sei, hätte zudem erwartet werden können, dass sie die entsprechenden Anpassungen vornehmen würde.
Bezugnehmend auf die Entscheidung des Gerichts führte M. J. an, dass ihr Recht auf gleichen Schutz und gleiche Vorteile verletzt worden sei. Das Gericht habe die Vorschläge, die ihr durch den Behindertenbeauftragten unterbreitet wurden, als unangemessen und unverhältnismäßig abgelehnt. Dies stelle eine Diskriminierung dar. In seiner Entscheidungsfindung hätte das Gericht nicht nur die Stellungnahmen der Sachverständigen, die Zeugenaussagen und die Vorschläge des Behindertenbeauftragten berücksichtigten müssen, sondern auch, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei, entsprechende Anpassungen am Arbeitsplatz für Beschäftigte mit Behinderungen vorzunehmen. Daneben hätte die Anpassung des Computersystems nicht nur ihr, sondern auch allen anderen künftigen Arbeitnehmer*innen mit einer Sehbehinderung genutzt. Auch habe das Gericht die BRK dadurch verletzt, dass es von einer unzutreffenden Beweislastverteilung zulasten von M. J. ausgegangen sei.
Die Regierung habe nicht alle erforderlichen gesetzgeberischen und verwaltungsmäßigen Maßnahmen ergriffen, um alle in der BRK enthaltenen Rechte umzusetzen. Die Gesetzgebung setze nicht vollständig das Recht um, gleichberechtigt mit anderen einer Beschäftigung nachzugehen. Weiterhin schütze sie nicht vor Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung, einschließlich der Auswahl- und Einstellungsbedingungen. Schließlich stelle sie nicht sicher, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen würden (3.1.-3.4).
Die schwedische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.
Die Beschwerde sei unzulässig, da diese eine actio popularis, eine Popularklage, darstelle. Die Beschwerde beziehe sich weniger auf den Einzelfall der M. J. als vielmehr allgemein auf die schwedische Gesetzgebung und ihre Vereinbarkeit mit der BRK. Daher sei der Ausschuss für die Beschwerde von M. J. nicht zuständig.
Die Beschwerde sei auch ratione temporis unzulässig, also bezogen auf den zeitlichen Anwendungsbereich der BRK, da sie sich auf Tatsachen beziehe, die sich vor dem Inkrafttreten der BRK und des fakultativen Zusatzprotokolls ereignet und danach nicht weiterbestanden hätten. Das „wesentliche“ Ereignis sei die Entscheidung der Sozialversicherungsbehörde gewesen, M. J. 2006 nicht anzustellen. Das Zusatzprotokoll sei aber erst am 14.01.2009 in Kraft getreten. Daher komme hier das Verbot der Rückwirkung für Verträge zur Anwendung, geregelt im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge sowie in Artikel 2 Buchstabe f des fakultativen Zusatzprotokolls. Die Entscheidung des Gerichts von 2010 könne daher nicht von Bedeutung sein. Die geltend gemachte Diskriminierung betreffe allein das Bewerbungsverfahren, das beendet worden sei, als die Regierung 2007 den Widerspruch von M. J. abgelehnt habe. Das Gerichtsverfahren beziehe sich dagegen auf ein neues „Ereignis“: die Schadenskompensation für M. J. aufgrund ihrer Diskriminierung. Selbst wenn das Gericht M. J. Recht gegeben hätte, hätte es nämlich nur eine Schadenswiedergutmachung anordnen und nicht die Entscheidung der Sozialversicherungsanstalt rückgängig machen können. Rechtsgrundlage für die Entscheidung sei im Übrigen das Antidiskriminierungsgesetz von 1999 gewesen, das nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls nicht mehr weiterbestanden habe. Das Gesetz sei durch ein neues Gesetz ersetzt worden, das am 01.01.2009 in Kraft getreten sei. Ferner habe das Gericht über einen Fall entschieden, der sich 2006 ereignet habe und damit zu einem Zeitpunkt, an dem die BRK noch nicht in Kraft getreten gewesen sei. Daher habe das Gericht die BRK nicht in seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen müssen (Rz. 4.1-4.5; 6.1-6.2).
Die Beschwerde sei nicht begründet, da die schwedische Gesetzgebung und Rechtsprechung im Einklang mit der BRK stünden.
Nach Inkrafttreten des Zusatzprotokolls habe die Regierung keinen Anlass gesehen, ihre Antidiskriminierungsgesetze zu ändern. Die schwedische Verfassung sehe vor, dass alle Behörden dafür Sorge tragen sollen, Gleichberechtigung zu fördern und vor Diskriminierung zum Beispiel wegen „funktionaler Beeinträchtigungen“ zu schützen. Dem Gericht habe als Rechtsgrundlage das Antidiskriminierungsgesetz von 1999 gedient, das zum Zeitpunkt der Klage von M. J. Anwendung gefunden habe. Ziel des Gesetzes sei es, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtige Teilnahme in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Hindernisse und Barrieren, die diesem Ziel im Wege stünden, seien zu beseitigen. Damit diese Gesetzgebung wirksam umgesetzt werde, sei 2006 zudem die Agentur für Zusammenarbeit in der Behindertenpolitik gegründet worden.
Nach dem Antidiskriminierungsgesetz von 1999 sei es Arbeitgeber*innen nicht erlaubt, Bewerber*innen und Arbeitnehmer*innen mit Behinderungen gegenüber Menschen, die eine solche Behinderung nicht haben, zu benachteiligen. Dieses Diskriminierungsverbot gelte auch im Zusammenhang mit einer Beschäftigung, einschließlich des Auswahlverfahrens. Um festzustellen, ob eine Person aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt worden sei, sei zu untersuchen, wie eine Person ohne Behinderung in derselben Situation, rein hypothetisch, behandelt worden wäre. Arbeitgeber*innen müssten geeignete Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt am Arbeitsleben teilnehmen können. Dies bedeute, dass der Arbeitgeber bei einem Auswahlverfahren der Behinderung einer Kandidat*in keine Bedeutung beimessen dürfe, und soweit es möglich sei, Anpassungen am Arbeitsplatz vornehmen müsse, die das Ausmaß der Beeinträchtigung der Kandidat*in derart begrenzen würden, dass es dieser möglich wäre, die wesentlichen Aufgaben der Beschäftigung auszuüben. Lehne ein*e Arbeitgeber*in eine solche Anpassung ab, liege eine unmittelbare Diskriminierung vor. Dies gelte allerdings nicht, wenn die Kandidat*in trotz Anpassung des Arbeitsplatzes an ihre Bedürfnisse die wesentlichen Aufgaben der Beschäftigung nicht würde ausüben können. Bereiche, in denen Arbeitgeber*innen Änderungen vorzunehmen hätten, beträfen zum Beispiel die Arbeitszeit und das Aufgabenfeld. Ob solche Änderungen aber erforderlich seien, hänge von einer Einzelfallbetrachtung ab. Abzustellen sei dabei unter anderem auf die mit den Anpassungen verbundenen Kosten, ihre Realisierbarkeit am Arbeitsplatz, der Nutzen solcher Maßnahmen für die Person mit einer Behinderung, insbesondere um die im Jobprofil geforderten Aufgaben erledigen zu können, und die Dauer des Arbeitsverhältnisses.
Den Vertragsstaaten stehe auch, im Einklang mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des UN-Menschenrechtsausschusses, ein Ermessensspielraum bei der Umsetzung der BRK zu. So solle die Rechtsprechung des EGMR die nationale Gesetzgebung und Rechtsprechung ergänzen, der EGMR fungiere aber nicht als Superrevisions-Instanz. Der UN-Menschenrechtsausschuss erlaube einen solchen Ermessensspielraum insbesondere dann, wenn wirtschaftliche Belange betroffen seien. Vor diesem Hintergrund solle die Entscheidung des schwedischen Arbeitsgerichts gesehen werden. Dieses sei auf Diskriminierungsfälle spezialisiert und habe sich während des Verfahrens einen sehr guten Überblick über den Fall verschaffen können. In seiner Entscheidungsfindung habe das Gericht schriftliche Stellungnahmen und Anhörungen beider Parteien berücksichtigt. Dabei sei M. J. vom Behindertenbeauftragten und damit einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung vertreten worden, die sichergestellt habe, dass ihre Interessen angemessen vertreten werden. Die darauffolgende Entscheidung des Gerichts sei einstimmig erfolgt und habe ergeben, dass die Anpassungen, die durch die Behörde hätten durchgeführt werden müssen, nicht verhältnismäßig gewesen seien. Diese Maßnahmen hätten M. J. nicht in eine Situation versetzt, die man mit der Situation einer Person ohne Behinderung hätte vergleichen können. Die Anpassungen, die erforderlich gewesen wären, um M. J. die notwendigen Informationen bei der Sozialversicherungsanstalt zugänglich zu machen, wären zu zeitintensiv und zu umfangreich gewesen. Bezugnehmend auf den Vortrag von M. J., dass die Anpassungen deshalb vorzunehmen seien, weil diese auch für künftige Arbeitnehmer*innen mit Behinderungen in derselben Behörde von Nutzen wären, führte die Regierung aus, dass sich das Antidiskriminierungsgesetz von 1999 und sein Nachfolgegesetz auf die Förderung des Individuums und damit auf die Einzelfallbetrachtung bezögen. Diese Gesetzgebung sehe zudem vor, dass die Beweispflicht hinsichtlich des Vorliegens einer Diskriminierung bei der Partei liege, die diese behaupte, und die andere Partei dann zu beweisen habe, dass eine solche Diskriminierung nicht vorliege (Rz. 8.1-8.18).
M. J. trug vor, dass ihre Beschwerde zulässig und begründet sei. Hinsichtlich der Zulässigkeit führte sie aus, dass die für die Beschwerde relevanten Tatsachen auch nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls weiterbestanden hätten. Das Gericht habe seine Entscheidung erst 2010 verabschiedet und habe dadurch, dass sein Urteil nicht im Einklang mit der BRK gewesen sei, selbst die BRK verletzt. Das Gericht habe weder die Vorschläge des Behindertenbeauftragten berücksichtigt noch die offensichtlich diskriminierende Entscheidung der Sozialversicherungsanstalt abgelehnt (5.1-5.3).
3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
Der Fachausschuss stellte keine Verletzung von Artikel 5 (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung) und Artikel 27 BRK (Arbeit und Beschäftigung) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) fest.
3.1 Zulässigkeit (Rz. 7.1-7.7)
Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für zulässig.
Die Beschwerde sei ratione temporis, also bezogen auf die zeitliche Anwendbarkeit der BRK, zulässig, da das Gericht seine Entscheidung 2010 und damit nach Inkrafttreten der BRK und des Zusatzprotokolls getroffen habe. Nachdem die Regierung den Widerspruch von M. J. abgelehnt hatte, sei das Arbeitsgericht die einzige gerichtliche Instanz gewesen, die über ihr Anliegen, ihre Nichteinstellung aufgrund einer Sehbehinderung, hätte entscheiden können. Das Urteil könne daher nicht getrennt von den Entscheidungen beider Behörden gesehen werden. Durch die Entscheidungen der Behörden und des Gerichts seien Tatsachen geschaffen worden, die auch nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls weiterbestünden.
3.2 Keine Verletzung von Artikel 5 und 27 BRK (Rz. 10.1-11)
Der Ausschuss erklärte die Beschwerde für unbegründet. Er stellte keine Verletzung der Rechte von M. J. aus Artikel 5 und 27 BRK fest. Es liege keine Diskriminierung vor, da die geltend gemachten Vorschriften nicht durch die Entscheidung des schwedischen Gerichts verletzt worden seien.
Er legt zunächst dar, dass M. J. nicht geltend gemacht habe, dass sie ganz allgemein durch die schwedische Gesetzgebung verletzt worden sei. Sie habe geltend gemacht, dass das Antidiskriminierungsgesetz von 1999 zu ihrem Nachteil angewendet worden sei. Die Entscheidung des schwedischen Gerichts habe aber zu keiner Verletzung der Artikel 5 und 27 BRK geführt. Das schwedische Gericht habe in angemessener Weise überprüft, ob der Sozialversicherungsanstalt hätte zugemutet werden können, ihr Computersystem an den Bedürfnissen von M. J. auszurichten, um ihr zu ermöglichen, als Sachverständige zu arbeiten. Bezugnehmend auf den Wortlaut von Artikel 2 Absatz 4, Artikel 5 Absatz 1 und 2 und Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben a, e, g und i BRK führte der Ausschuss aus, dass den Vertragsstaaten bei der Prüfung der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme ein Beurteilungsspielraum zustehe. Es sei grundsätzlich Aufgabe der nationalen Gerichte, die Tatsachen und Beweise in einem Fall zu würdigen. Dies gelte nur dann nicht, wenn ihre Prüfung als offensichtlich willkürlich anzusehen sei oder auf eine Rechtsverweigerung hinauslaufen würde. In diesem Fall aber habe das Arbeitsgericht sorgfältig und objektiv alle ihm durch beide Parteien unterbreiteten Beweise geprüft und festgestellt, dass die vom Behindertenbeauftragten erwogenen Maßnahmen eine unbillige Belastung für die Sozialversicherungsanstalt darstellen würden. Dass diese Würdigung offenkundig willkürlich sei oder eine Rechtsverweigerung darstelle, habe M. J. nicht beweisen können.
3.3 Gemeinsame Stellungnahme der CRPD-Mitglieder Carlos Rios Espinosa, Theresia Degener, Munthian Buntan, Silvia Judith Quan-Chang und Maria Soledad Cisternas Reyes (Abweichende Meinung)
Dagegen erklärten die CRPD-Mitglieder Carlos Rios Espinosa, Theresia Degener, Munthian Buntan, Silvia Judith Quan-Chang und Maria Soledad Cisternas Reyes, dass sie der Entscheidung des Ausschusses nicht zustimmen. Es lägen Verstöße gegen die Vorschriften der Artikel 5 und 27 BRK vor.
Sie führten zunächst aus, dass der Beschwerdegegenstand weiter zu verstehen sei als vom Ausschuss angenommen. Es gehe nicht nur darum, ob das schwedische Gericht in seiner Entscheidungsfindung sorgfältig abgewogen habe, entsprechende Anpassungen für M. J. vorzunehmen. Das Gericht hätte darüber hinaus im Lichte des Artikels 5 BRK die Vorschläge des Behindertenbeauftragten sorgfältig würdigen müssen. Den Vertragsstaaten stehe sehr wohl ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Umsetzung angemessener Maßnahmen und unbilliger Belastung zu. Dies bedeute, dass der Ausschuss vorliegend auch eine Verletzung der Artikel 5 und 27 BRK hätte prüfen müssen. Zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung sei Schweden bereits Mitglied des fakultativen Zusatzprotokolls gewesen. Dies bedeute, dass das Arbeitsgericht in seine Entscheidungsfindung nicht nur das Antidiskriminierungsgesetz von 1999 hätte einbeziehen müssen, sondern auch die BRK. Dies hätte eingeschlossen, zu untersuchen, ob die Sozialversicherungsanstalt angemessene Vorkehrungen im Sinne des Artikels 5 BRK hätte treffen müssen.
Im hiesigen Fall habe das Gericht versäumt, die Vorschläge des Behindertenbeauftragten in seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Die Prüfung „angemessener Vorkehrungen“ erfordere eine Einzelfallbetrachtung. Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, zu prüfen, ob Änderungen und Anpassungen förderlich seien, um Menschen mit Behinderungen, die eine entsprechende fachliche Kompetenz und Berufserfahrung für eine Position mitbringen, zu beschäftigen, und ob erwartet werden könne, dass die jeweilige Arbeitgeber*in solche Vorkehrungen treffe. Vorliegend sei nicht infrage gestellt worden, dass M. J. die erforderliche Fachkompetenz und Berufserfahrung habe. Dagegen ziele die Schaffung „angemessener Vorkehrungen“ aber gerade darauf ab, Beeinträchtigungen, die die jeweilige Kandidat*in aufgrund einer Behinderung habe, durch geeignete Anpassungen und Änderungen des Arbeitsplatzes zu kompensieren.
Weiterhin habe das Arbeitsgericht versäumt, in seiner Entscheidungsfindung zu würdigen, dass die Vorschläge des Behindertenbeauftragten auch für künftige Arbeitnehmer*innen mit einer Sehbehinderung nützlich sein könnten. Die Schaffung „angemessener Vorkehrungen“ beziehe sich zwar generell auf eine Einzelfallmaßnahme, ihr Nutzen für andere sei aber insbesondere bei der Prüfung der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme im Einklang mit den Artikeln 5, 9 und 27 BRK zu berücksichtigen. Dies gelte erst recht, als es sich bei der Sozialversicherungsanstalt um eine wichtige staatliche Stelle Schwedens handele, von der erwartet werden könne, dass sie die nationale Antidiskriminierungspolitik umsetze. Ebenfalls habe das Arbeitsgericht versäumt, die staatliche Bezuschussung für die Anpassungen für M. J. zu würdigen. Vor diesem Hintergrund hätte der Ausschuss zu dem Schluss kommen müssen, dass das Arbeitsgericht den Begriff „unbillige Belastung“ zu weit ausgelegt und damit die Chancen von Menschen mit einer Sehbehinderung, bei einem Bewerbungsgespräch erfolgreich zu sein, stark reduziert habe. Die Ablehnung angemessener Vorkehrungen im Einklang mit dem Antidiskriminierungsgesetz von 1999 durch das Gericht stelle eine Diskriminierung von M. J. dar. Der Ausschuss hätte daher feststellen müssen, dass die Gerichtsentscheidung gegen die Präambel Buchstaben i und j sowie Artikel 5 und 27 BRK verstoße.
3.4 Stellungnahme von CRPD-Mitglied Damjan Tatic (Abweichende Meinung)
Das CRPD-Mitglied Damjan Tatic stimmte der gemeinsamen Stellungnahme überwiegend zu. Er teilte allerdings nicht die Ansicht, das Gericht habe in seine Entscheidungsfindung einbeziehen müssen, dass die Vorschläge des Behindertenbeauftragten auch für künftige Arbeitnehmer*innen mit einer Sehbehinderung hätte nützlich sein können.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
In seiner Entscheidung betonte der UN-CRPD, dass die Ablehnung angemessener Vorkehrungen im Sinne des Artikels 2 Absatz 4 BRK nicht immer eine Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 BRK darstellen muss. Hier steht den Vertragsstaaten ein Beurteilungsspielraum bei der Prüfung der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zu. Grundsätzlich ist es Aufgabe der nationalen Gerichte, Tatsachen und Beweise in einem Fall zu würdigen. Erst wenn es zu einer offenkundig willkürlichen Entscheidung kommen oder diese auf eine Rechtverweigerung hinauslaufen würde, soll eine Diskriminierung im Sinne der BRK vorliegen.
Die gemeinsame Stellungnahme der CRPD-Mitglieder macht aber auch deutlich, dass hier eine andere Auslegung möglich ist und dem Kriterium, ob die jeweilige Vorkehrung eine „unbillige Belastung“ darstellt, weniger Gewicht gegeben werden sollte.
Die Argumentation der CRPD-Mitglieder kann in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten mit deutschen Arbeitgeber*innen an, die ablehnen, angemessene Anpassungen und Änderungen am Arbeitsplatz für Bewerber*innen mit Behinderungen vorzunehmen.
5. Entscheidung im Volltext
CRPD_02.10.2014_Jungelin_v._Sweden_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)