CRPD, Mitteilung Nr. 4/2011 (Bjudoso vs. Hungary)
CRPD, Auffassungen vom 09.09.2013, Zsolt Bujdosó, Jánosné Ildikó Márkus, Viktória Márton, Sándor Mészáros, Gergely Polk, János Szabó (vertreten durch János Fiala, Disability Rights Center) gegen Ungarn
1. Sachverhalt (Rz. 2, 4.2-4.4)
Zsolt Bujdosó (Z. B.) und die anderen Beschwerdeführer*innen sind intellektuell beeinträchtigt und werden bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit durch eine*n Betreuer*in unterstützt. Gerichte entschieden, dass sie wegen ihrer Betreuung nicht das Recht haben, an Wahlen teilzunehmen. Artikel 70 Absatz 5 der ungarischen Verfassung bestimmte damals, dass die Namen von Personen, die in allen oder bestimmten Lebensbereichen durch eine*n Betreuer_in unterstützt werden, aus dem Wählerverzeichnis zu streichen sind. Dies führte dazu, dass Z. B. und die anderen Beschwerdeführer*innen 2010 nicht an den ungarischen Parlaments- und Kommunalwahlen teilnehmen konnten.
2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
Z. B. und die anderen reichten 2011 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf die Artikel 12 und 29 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein. Artikel 29 BRK allein und in Verbindung mit Artikel 12 BRK sei verletzt, da die ungarische Gesetzgebung Menschen mit Behinderungen untersage, ihr Wahlrecht auszuüben. Obwohl die Beschwerdeführer*innen imstande seien, politischen Geschehnissen zu folgen und an Wahlen teilzunehmen, seien ihre Namen wegen ihrer Betreuung aus dem Wählerverzeichnis ausgetragen worden. Der Grad ihrer Behinderung und ihre individuellen Fähigkeiten seien dabei nicht berücksichtigt worden (Rz. 3.1).
In Ungarn hätten sie keine Rechtsbehelfe eingelegt, da ihnen dort kein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe. Einen Antrag auf Aufhebung ihrer Betreuung bei einem Gericht hätten sie nicht gestellt, weil die damit einhergehende Wiederherstellung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit ihre Betreuung beendet hätte, auf welche sie aber in bestimmten Lebensbereichen angewiesen seien. Zudem hätte die Wiederherstellung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit nicht automatisch zur Wiederherstellung ihres Wahlrechts geführt, da die Gerichte keine Befugnis gehabt hätten, eine Eintragung in das Wählerverzeichnis anzuordnen. Nach einer Entscheidung des Regionalgerichts Pest stelle die Ein- und Austragung betreuter Personen in das Wählerverzeichnis eine verfassungsrechtliche Angelegenheit dar, die nur durch den Gesetzgeber geändert werden könne. Aus diesem Grund hätten sie auch keine Beschwerde hinsichtlich der Austragung ihrer Namen aus dem Wählerverzeichnis erhoben. Hierüber hätte zunächst ein Wahlkomitee und gegebenenfalls ein Gericht entscheiden müssen, denen aber die Befugnis gefehlt hätte, eine Eintragung in das Wählerverzeichnis anzuordnen (Rz. 3.2-3.4).
Die ungarische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unbegründet zurück.
Die Beschwerde sei unbegründet, da diese durch Gesetzesänderungen obsolet geworden sei. Die ungarische Gesetzgebung habe sich seit dem Einreichen der Beschwerde beim UN-Fachausschuss stark geändert. Während Artikel 70 Absatz 5 der Verfassung ohne Ausnahme allen betreuten Personen das Wahlrecht entzogen habe, habe die neue Gesetzgebung in diesem Bereich zu weitreichenden Änderungen geführt. Seitdem werde die „Wahlrechtsfähigkeit“ individuell durch ein Gericht festgestellt und periodisch überprüft.
Am 31.12.2011 sei in Ungarn das Verfassungsänderungsgesetz CCI/2011 in Kraft getreten, wonach Gerichte über die „Wahlrechtsfähigkeit“ einer Person, die betreut werde, in einem Vormundschaftsprozess entscheiden sollen. Nach den neuen Vorschriften solle betreuten Personen das Wahlrecht nur entzogen werden, wenn sich ihr psychischer Zustand, ihre intellektuelle Beeinträchtigung oder ihre Drogenabhängigkeit dauerhaft oder wiederholt verschlechtere oder ihnen dauerhaft aufgrund ihres psychischen Zustandes oder ihrer intellektuellen Beeinträchtigung die intellektuellen Fähigkeiten fehlten, um ihr Wahlrecht auszuüben. Für die Feststellung der „Wahlrechtsfähigkeit“ seien Gutachten forensischer Psychiater*innen heranzuziehen. Am 01.01.2012 sei ein weiteres Verfassungsänderungsgesetz in Kraft getreten, so die ungarische Regierung. Gemäß Artikel XXIII Absatz 6 der Verfassung und Artikel 26 Absatz 2 der Übergangsbestimmungen zum Verfassungsänderungsgesetz könnten betreute Personen ihr Wahlrecht ausüben, wenn entweder ihre Betreuung beendet sei oder ein Gericht ihre „Wahlrechtsfähigkeit“ feststelle. Artikel XXIII Absatz 6 bestimme zudem, dass ein Gericht die „Wahlrechtsfähigkeit“, auch auf Antrag der betreuten Person oder ihrer Betreuer*in, periodisch überprüfen solle. Mit diesen Gesetzesänderungen entspreche Ungarn der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache „Alajos Kiss gegen Ungarn“ (1) . Daneben verfolgten auch andere Mitgliedsländer der Europäischen Union einen ähnlich restriktiven Ansatz wie Ungarn. Eine Verletzung des Artikels 29 BRK sei daher nicht gegeben (Rz. 4.1-4.7).
Das Harvard Law School Project on Disability trat der Beschwerde als Drittpartei nach Artikel 73 Absatz 2 des fakultativen Zusatzprotokolls zur UN-BRK bei.
Die Drittpartei führte an, dass die Beschwerde begründet sei, da eine Verletzung des Artikels 29 BRK vorliege. Die ungarische Gesetzgebung diskriminiere Personen aufgrund ihrer Behinderung, da sie ihnen ihr Recht zu wählen entziehe. Das Wahlrecht könne weder aufgrund einer Behinderung begrenzt werden noch Gegenstand einer gerichtlichen Einzelfallprüfung sein. Artikel 29 BRK bestimme, dass das Wahlrecht ein Menschenrecht sei, das allen Personen zustehe, einschließlich Personen mit „gravierenden Behinderungen“. Viele Staaten erfüllten diese Voraussetzungen nicht. Eine Untersuchung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) habe beispielsweise ergeben, dass 2010 nur sieben der damals 27 EU-Mitgliedsländer das Wahlrecht ohne Ausnahmen und Bedingungen für Menschen mit Behinderungen gewährten.
In Ungarn diskriminiere Artikel XXIII Absatz 6 der Verfassung Menschen mit Behinderungen, da die „Wahlrechtsfähigkeit“ nur bei Personen überprüft werde, die betreut würden. Dies seien nur Menschen mit Behinderungen, da die Gesetzgebung eine Betreuung nur für Personen vorsehe, die psychosoziale oder intellektuelle Behinderungen hätten. Menschen mit Behinderungen seien aber sehr wohl fähig, bestimmte Lebensbereiche selbst zu regeln. Dazu zähle auch, eine politische Ansicht zu vertreten und ihr Wahlrecht auszuüben. Vorliegend werde diese Fähigkeit aber Personen abgesprochen, die aufgrund einer Behinderung betreut werden. Ob betreute Personen fähig seien zu wählen, müsse erst durch ein Gericht festgestellt werden. Eine solche Überprüfung verletze bereits per se Artikel 29 BRK. Auch sei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung gegen Ungarn nicht auf die Rechtmäßigkeit einer solchen gerichtlichen Einzelfallprüfung eingegangen.
Das Harvard Law School Project on Disability trug zudem vor, dass die Überprüfung der „Wahlrechtsfähigkeit“ a) die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen verstärke, b) unweigerlich zum Entzug des Wahlrechts führe und c) unverhältnismäßig vielen Menschen mit Behinderungen ihr Wahlrecht nehme. Während manche Menschen aufgrund ihrer Behinderung tatsächlich nicht fähig seien, sich eine politische Meinung zu bilden, könne im Übrigen die „Wahlrechtsfähigkeit" nicht davon abhängig gemacht werden, ob Menschen mit Behinderungen als „kompetent“ oder „vernünftig denkend“ beurteilt werden. Ein solcher Beurteilungsmaßstab, wie ihn die ungarische Gesetzgebung vorsehe, sei zu unspezifisch. Auch existierten keine empirisch belegten Untersuchungen zur „Wahlrechtsuntauglichkeit“ von Menschen mit Behinderungen. Expert*innen seien sich einig, dass es generell schwierig sei, die „Wahlrechtsfähigkeit“ einer Person zu bemessen.
Menschen mit Behinderungen die Teilnahme an Wahlen zu erlauben, beeinträchtige auch nicht die Integrität des Wahlsystems. Diese würden nur eine geringe Anzahl der potenziell „inkompetenten“ Wähler*innen ausmachen. Die ungarische Gesetzgebung schließe aber unverhältnismäßig viele Personen aufgrund ihrer Behinderung vom Wahlrecht aus. Zum Stichtag am 01.01.2011 hätten 71.862 Personen ihr Wahlrecht nicht ausüben dürfen, obwohl damals nur 1.394 Personen mit „schweren oder gravierenden intellektuellen Behinderungen“ registriert gewesen seien. Die damit einhergehende Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen beeinflusse auch Berufsgruppen, die für die Beurteilung ihrer „Wahlrechtsfähigkeit“ zuständig sind, wie beispielsweise Richter*innen, Psycholog*innen und Psychiater*innen. Diese seien ihrerseits nicht vor Vorurteilen gefeit. Daher führe jedes System, das Exklusion erlaube, zu einer unverhältnismäßig hohen Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen und im vorliegenden Fall dazu, dass unverhältnismäßig vielen Personen mit Behinderungen ihr Wahlrecht abgesprochen werde (Rz. 5.1-5.11).
Die ungarische Regierung wies die Argumentation der Drittpartei zurück.
Die neue Gesetzgebung entziehe das Wahlrecht nur dann, wenn Menschen in allen Lebensbereichen durch eine*n Betreuer*in unterstützt würden. Gerichte entzögen das Wahlrecht nur dann, wenn die Rechts- und Handlungsfähigkeit der betreuten Person derart eingeschränkt sei, dass diese nicht mehr imstande sei, ihr Wahlrecht auszuüben (Rz. 6.1-6.4).
B. und die anderen Beschwerdeführer*innen brachten vor, dass die Regierung allein zur neuen Gesetzgebung vorgetragen habe, nicht aber zur Sache selbst. Sie habe nicht erläutert, weshalb die Beschwerdeführer*innen 2010 ihr Wahlrecht bei den Parlaments- und Kommunalwahlen nicht ausüben konnten.
Trotz der Gesetzesänderungen gestalte es sich für betreute Personen schwierig, ihr Wahlrecht wieder zu erlangen. Betroffene müssten dazu ein Gericht anrufen, wobei sie der Staat weder mit rechtlichen noch finanziellen Mitteln unterstütze. Dies verletze Artikel 12 und Artikel 29 BRK.
Die Überprüfung der „Wahlrechtsfähigkeit“ durch ein Gericht sei im Übrigen rechtswidrig. Die Stimmabgabe bei Wahlen sei eine individuelle Entscheidung, die auf persönlichen Präfenzen basiere. Während Menschen mit Behinderungen damit nicht die einzige Personengruppe seien, die die Ausübung ihres Wahlrechts als schwierig empfinden könnten, seien sie die einzige Personengruppe, deren „Wahlrechtsfähigkeit“ gesondert durch ein Gericht überprüft werde.
Im Übrigen nützten die Gesetzesänderungen den Beschwerdeführer*innen nur etwas für die folgenden Parlamentswahlen. Hinsichtlich des Entzugs ihres Wahlrechts für 2010 habe die Regierung ihnen weder eine Schadenswiedergutmachung angeboten noch ihre Rechtsverletzungen aus Artikel 12 und 29 BRK anerkannt (Rz. 7.1-7.7).
3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 29 (Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben) allein und in Verbindung mit Artikel 12 Absatz 2 (Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen) und Absatz 3 (Zugang zu Unterstützungsdiensten) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) fest.
Der Ausschuss empfahl der ungarischen Regierung, die neue Gesetzgebung aufzuheben und neue Gesetze unter Beachtung der Rechtsauffassung des Ausschusses einzuführen, B. und die anderen Beschwerdeführer*innen angemessen zu entschädigen und Maßnahmen zu ergreifen, um erneute Verletzungen zu vermeiden (Rz. 10).
3.1 Zulässigkeit (Rz. 8.1-8.3)
Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für zulässig, da dieselbe Sache nicht bereits vom Ausschuss untersucht oder in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft worden sei, die Regierung keinen Einwand hinsichtlich der Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe erhoben habe und die Beschwerdeführer*innen ihre Beschwerdebefugnis hinsichtlich der Artikel 12 und 29 BRK hinreichend begründet hätten.
3.2 Verletzung von Artikel 29 BRK (Rz. 9.2-9.4)
Der Ausschuss stellte eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführer*innen aus Artikel 29 BRK fest. Es liege eine Diskriminierung vor, weil Artikel XXIII Absatz 6 der Verfassung und Artikel 26 Absatz 2 der Übergangsbestimmungen zum Verfassungsänderungsgesetz erlaubten, dass Gerichte Menschen mit Behinderungen ihr aktives und passives Wahlrecht entziehen.
Er legte zunächst dar, dass Ungarn nach Artikel 29 BRK sicherzustellen habe, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, was auch einschließe, das aktive und passive Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Das Recht zu wählen sei ohne Einschränkungen und Ausnahmen zu gewähren. Bezugnehmend auf seine abschließenden Bemerkungen zu Tunesien betonte der Ausschuss, dass es dringend erforderlich sei, gesetzliche Maßnahmen zu schaffen, die sicherstellten, dass Personen mit Behinderungen, einschließlich betreute Personen, gleichberechtigt mit anderen ihr Wahlrecht ausüben und am politischen Leben teilhaben könnten. Weiterhin verwies der Ausschuss auf seine abschließenden Bemerkungen zu Spanien. Darin kritisierte er, dass Menschen mit psychosozialen oder intellektuellen Behinderungen ihr Wahlrecht verlieren, wenn ein Gericht sie für nicht rechts- und handlungsfähig halte oder sie in einer Einrichtung untergebracht seien. Angewendet auf den vorliegenden Fall stellte der Ausschuss fest, dass der Entzug des Wahlrechts aufgrund einer psychosozialen oder intellektuellen Behinderung, wie sie durch die ungarische Gesetzgebung erfolge, die Voraussetzungen einer Diskriminierung im Sinne von Artikel 2 BRK erfülle. Dies gelte auch für die gerichtliche Feststellung der „Wahlrechtsfähigkeit“. Ungarn habe weder dargelegt, weshalb die Beschwerdeführer*innen 2010 von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen durften noch auf welche Art und Weise die neue Gesetzgebung mit Artikel 29 BRK in Einklang stehe. Artikel 70 Absatz 5 der Verfassung habe den Beschwerdeführer*innen ihr Wahlrecht allein aufgrund ihrer Betreuung entzogen, ohne dabei den Grad ihrer Behinderung und ihre individuellen Fähigkeiten zu berücksichtigen. Ebenso schließe die neue Gesetzgebung Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer Betreuung von der Wahrnehmung ihres Wahlrechts aus, weshalb eine Verletzung des Artikels 29 BRK gegeben sei.
3.3 Verletzung von Artikel 29 in Verbindung mit Artikel 12 Absatz 1 und 3 BRK (Rz. 9.5-9.7)
Der Ausschuss stellte zudem eine Verletzung von Artikel 29 und gleichzeitig der staatlichen Verpflichtungen aus Artikel 12 Absatz 2 und 3 BRK fest, da die Beschwerdeführer*innen nicht die erforderlichen Unterstützungsdienste erhalten hätten, um am politischen Leben gleichberechtigt mit anderen teilhaben zu können.
Er führte aus, dass Ungarn sich nach Artikel 12 Absatz 2 BRK verpflichtet habe, anzuerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen, wozu auch die Teilnahme am öffentlichen Leben zähle, einschließlich des Rechts zu wählen. Weiterhin sei Ungarn nach Artikel 12 Absatz 3 BRK daran gebunden, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen Unterstützungsdienste zugänglich zu machen, die ihnen bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit helfen. Dies bedeute im Zusammenhang mit Artikel 29 BRK: Ungarn habe sicherzustellen, dass Personen mit Behinderungen durch geeignete, zugängliche und leicht zu verstehende und handzuhabende Wahlverfahren und -materialien unterstützt werden, damit sie ihr Wahlrecht ausüben können. Dies schließe ein, Betroffenen unter Einhaltung des Geheimhaltungsprinzips eine persönliche Assistenz zur Seite zu stellen. Der Ausschuss stellte fest, dass Ungarn diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei. Die gerichtliche Einzelfallprüfung stelle per se eine Diskriminierung dar, da sie die Beschwerdeführer*innen aufgrund ihrer intellektuellen Behinderungen davon abgehalten habe, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Diese Prüfung tauge weder als geeigneter Beurteilungsmaßstab zur Feststellung der „Wahlrechtsfähigkeit“ noch dazu, die Integrität eines politischen Systems zu schützen.
3.4 Empfehlungen (Rz. 10)
Der Fachausschuss empfahl der Regierung in Bezug auf die Beschwerdeführer*innen die Eintragung ihrer Namen in das Wählerverzeichnis, die Zahlung einer angemessenen Entschädigung und Begleichung ihrer Rechtskosten.
Allgemein sei Ungarn verpflichtet, ähnliche Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu verhindern. Deshalb solle der Staat in Betracht ziehen, Artikel XXIII Absatz 6 der Verfassung und Artikel 26 Absatz 2 der Übergangsbestimmungen zum Verfassungsänderungsgesetz aufzuheben. Der Staat müsse Gesetze einführen, die gewährleisten, dass alle Personen mit Behinderungen ihr Wahlrecht ausüben und je nach Grad ihrer Behinderung auf Unterstützungsdienste zurückgreifen können. Weiterhin müsse die gleichberechtigte Ausübung des Wahlrechts auch in der Praxis ermöglicht und gewährleistet werden, indem man sicherstelle, dass die Abstimmungsverfahren, die Gebäude und die Unterlagen geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und benutzen sind. Dabei sollten die Wähler*innen, wenn sie dies wünschten, durch eine Person ihrer Wahl unterstützt werden.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
In dieser Entscheidung bestätigte der UN-CRPD, dass das Recht zu wählen ohne Einschränkung oder Ausnahme allen Menschen mit Behinderungen gewährt werden muss. Ihre „Wahlrechtsfähigkeit“ in Zweifel zu ziehen, weil sie aufgrund einer intellektuellen Beeinträchtigung betreut werden, stellt eine Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne des Artikels 2 Absatz 3 BRK dar. Der Ausschuss stellte nochmals klar, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, allen Menschen mit Behinderungen, unabhängig von der Art und dem Grad ihrer Behinderung, zu ermöglichen, ihr aktives und passives Wahlrecht auszuüben, und ihnen dieses Recht durch angemessene Unterstützungsmaßnahmen zugänglich gemacht werden muss.
Die Argumentation des CRPD kann in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten mit deutschen Gemeindebehörden (Wahlämtern) an, wenn Menschen mit Behinderungen nicht die notwendigen Unterstützungsdienste erhalten, um selbstbestimmt ihr Wahlrecht ausüben zu können.
5. Follow up (Stand: August 2017)
Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellte in seiner 12. Sitzung im Oktober 2014 fest, dass die ungarische Regierung begonnen habe, Maßnahmen zu entwickeln, um die ungarische Gesetzgebung und Rechtsprechung in Einklang mit der Entscheidung des Ausschusses zu bringen (CRPD/C/12/3). In seiner 16. Sitzung im Oktober 2016 teilte der Ausschuss mit, dass die ungarische Regierung die Rechtskosten der Beschwerdeführer*innen erstattet habe. Er bedauerte aber, dass die Regierung zurückgewiesen habe, die Verfassung entsprechend seiner Rechtsauffassung abzuändern und Artikel 26 der Übergangsbestimmungen aufzuheben. Eine neue Begutachtung solle in der Folgesitzung des Ausschusses erfolgen (CRPD/C/16/3).
6. Entscheidung im Volltext
CRPD_09.09.2013_Bujdoso_v._Hungary_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)