Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

CRPD, Mitteilung Nr. 22/2014 (X vs. Tanzania)

CRPD, Auffassungen vom 18.08.2017, Mr. X gegen Vereinigte Republik Tansania

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.7)

X. kommt aus dem Mvomero-Distrikt in der Region Morogoro in Tansania. Der 41-jährige Kleinbauer hat Albinismus und lebte von der Subsistenzwirtschaft. Am 10. April 2010 wurde er beim Feuerholzsammeln von zwei Angehörigen der Volksgruppe der Massai überfallen und bewusstlos geschlagen. Während er ohne Bewusstsein war, wurde ihm der linke Arm unterhalb des Ellbogens abgehackt. Als er wieder zu sich kam, waren die Angreifer*innen verschwunden. Sein amputierter Unterarm war nicht auffindbar. X. schrie um Hilfe, und Leute aus dem Dorf brachten ihn in das nächstgelegene Krankenhaus. Er zeigte die Tat bei der Polizei an. (Rz. 2.1-2.2)

X. erklärte 2014 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD), der Vorfall habe zu einer Zeit stattgefunden, die geprägt gewesen sei von einem Klima der Gewalt gegen Menschen mit Albinismus. Im Jahre 2012 habe es in Tansania Schätzungen zufolge mehr als 200 000 Menschen mit Albinismus gegeben. Sie litten unter verschiedenen Formen von Diskriminierung und Verfolgung, vor allem, weil sich viele Mythen um sie rankten. So glaube man beispielsweise, dass Menschen mit Albinismus ein „Fluch Gottes“ oder „ewige Geister“ seien, oder dass der Geschlechtsverkehr mit einer Frau, die Albinismus hat, vom HI-Virus heilen könne und dass die Körperteile von Menschen mit Albinismus magische Kräfte hätten. Vor diesem Hintergrund hätten sich neue Formen von Verfolgung gegen Menschen mit Albinismus in Tansania herausgebildet, wie beispielsweise Tötungen oder Verstümmelungen, und es sei ein florierender Schwarzmarkt für den Handel mit ihren Körperteilen entstanden. Die Körperteile würden üblicherweise auf brutale Art mit Macheten abgetrennt und die Geschädigten mit großen Schmerzen und Leiden zurückgelassen. Es seien auch Fälle bekannt geworden, in denen Leichen ausgegraben und zerlegt worden seien. (Rz. 2.3)

X. behauptete, die Polizei habe trotz seiner Anzeige keine Ermittlungen eingeleitet. Des Weiteren erklärte er, dass in Tansania keine private Strafverfolgung (Privatklageverfahren)  möglich sei und ihm damit auch keine weiteren strafrechtlichen Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden. Eine zivilrechtliche Verfolgung sei ihm nicht möglich, da das zuständige Gericht im 300 Kilometer entfernten Dar Es Salaam liege und er nicht über die wirtschaftlichen Möglichkeiten verfüge, um in die Hauptstadt zu reisen, um einen Gerichtsprozess anzustrengen. Er berichtete, dass andere Personen mit Albinismus mit Unterstützung des Legal Human Rights Centre (LHRC), der Tanzania Albino Society (TAS) und der Tanzania Federation for Disabled People Organization bereits im Jahr 2009 eine Verfassungsbeschwerde beim High Court of Tansania erhoben hätten. Hierüber sei zum Zeitpunkt dieser Mitteilung vor dem Fachausschuss noch nicht entscheiden worden, weil ein Wechsel im Richtergremium zu einer unangemessenen Verzögerung geführt habe. In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass oftmals kein Rechtsbehelf verfügbar sei, weil das Prozessrecht einerseits vorschreibe, dass drei Richter*innen über einen Antrag entscheiden müssten, es andererseits aber nicht genügend Richter*innen gebe. (Rz. 2.4 — 2.7)

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

X. reichte 2014 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Beschwerde unter Berufung auf die Artikel 5, 15 und 17 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein.

Er machte geltend, dass er aufgrund seines Albinismus diskriminiert worden sei. Albinismus sei eine Behinderung, da sich verschiedene Beeinträchtigungen daraus ergeben würden. Aufgrund einer genetischen Disposition bestehe ein Mangel an Pigmenten in der Haut, den Haaren und den Augen, was zu einer hohen Sonnen- und Lichtempfindlichkeit führe und in vielen Fällen auch zu einer Sehbeeinträchtigung.

Die Gewalt gegen Menschen mit Albinismus und der fehlende Zugang zu Rechtsbehelfen hiergegen seien Ausdruck einer allgemeinen Praxis des Staates. Der Staat habe keine vorbeugenden Maßnahmen zum Schutz von Menschen mit Albinismus getroffen. Auch die staatlichen Autoritäten sähen eine unmittelbare Verbindung von Albinismus und Hexerei. Es handle sich dabei um gesellschaftlich tief verankerte Vorurteile und werde daher auch als  eine kulturelle Praktik allgemein akzeptiert. Dies stelle eine Verletzung von Artikel 5 BRK (Nichtdiskriminierung) dar. (Rz. 3.1)

Das Abhacken seines Unterarms betrachtete er als Form von Folter und erniedrigender Behandlung, die darüber hinaus auch noch zum Verlust seiner Unabhängigkeit geführt habe. Da der Staat ihn nicht davor geschützt habe, liege eine Verletzung von Artikel 15 BRK (Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) vor. (Rz. 3.2)

Weiterhin machte X. eine Verletzung von Artikel 17 BRK (Schutz der Unversehrtheit der Person) geltend, weil er zunächst barbarisch verletzt worden sei und die staatlichen Stellen keine wirksamen Schritte gegen die Täter*innen unternommen hätten. (Rz. 3.3)

Die Regierung der Vereinigten Republik Tansania erklärte, dass die Beschwerde als unzulässig einzustufen sei gemäß Artikel 2 Buchstabe d des Fakultativprotokolls zur UN-BRK, weil der Rechtsweg nicht erschöpft worden sei.

Zunächst sei ein Strafverfahren eingeleitet worden, in dem auch ein*e Verdächtige*r festgenommen worden sei. In dem folgenden Prozess habe X. als Zeuge ausgesagt, dass es sich hierbei nicht um einen der Täter handle. Er kenne die Personen, die die Straftat begangen hätten: Es seien zwei Nachbarn von ihm. Die Anklage sei daraufhin fallengelassen worden. Die Ermittlungen liefen, so die Regierung, aber weiter und es werde nach den Täter*innen gefahndet. Der Beschwerdeführer habe sich bezüglich des Strafverfahrens nicht an die staatlichen Behörden gewandt, bevor er die Beschwerde beim UN-Fachausschuss eingereicht habe. Auch habe er kein Privatklageverfahren eingeleitet, obwohl die Möglichkeit dazu im Strafprozessrecht vorgesehen sei. Hinsichtlich der zivilrechtlichen Klage erklärte die Regierung, dass es eine Vielzahl an Rechtshilfezentren und Nichtregierungsorganisationen im gesamten Land gebe, die Unterstützung böten, wenn man eine Klage einreichen wolle. Da X. eine Beschwerde vor den UN-Fachausschuss bringen konnte, obwohl dieser sich auf einem anderen Kontinent befinde, sei davon auszugehen, dass er auch Unterstützung erhalten hätte, um ein verfassungsrechtliches Verfahren in Tansania anzustrengen. (Rz. 4.1-4.5)

X. erwiderte, der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung dürfe von Staaten nicht als Vorwand missbraucht werden, wenn diese keine geeigneten Bedingungen zum Schutz und der Förderung von Rechten Einzelner böten. In diesem Zusammenhang verwies er unter anderem auf die Entscheidung „Jawara v. The Gambia“ der Afrikanischen Kommission zum Schutz der Menschenrechte und der Völker, wonach drei Kriterien maßgeblich seien: Ein Rechtsbehelf müsse verfügbar, wirksam und ausreichend sein. Ein Rechtsbehelf sei verfügbar, wenn er ohne Hindernis ergriffen werden könne, wirksam, wenn er generell Erfolgschancen habe und ausreichend, wenn er geeignet sei, Abhilfe zu schaffen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssten Antragsteller*innen nur solche innerstaatliche Rechtsbehelfe ausschöpfen, die sowohl in der Theorie als auch in der Praxis zu dem gegebenen Zeitpunkt verfügbar, zugänglich, erfolgversprechend und geeignet seien, die Rechtsverletzung zu beenden beziehungsweise wiedergutzumachen. All diese Voraussetzungen seien in Tansania jedoch nicht erfüllt gewesen. Mord an und Attacken auf Menschen mit Albinismus passierten in Tansania kontinuierlich und systematisch, blieben dabei aber straffrei. (Rz. 5.1)

Weiterhin brachte X. vor, dass die Nichtverfolgung der Straftat nicht nur tansanisches Strafrecht verletze. In der Rechtssache „Juan Angel Greco v. Argentina“ habe die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte betont, dass die Staaten verpflichtet seien, bei Straftatbeständen zu ermitteln, die von Amts wegen zu verfolgen seien. Ein Staat müsse, so X., um seiner Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nachzukommen, eine durch einen nicht-staatlichen Akteur begangene Straftat vollständig aufklären. Es sei nicht zulässig, die Geschädigten oder ihre Angehörigen auf den Rechtsweg zu verweisen. Die Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, strafrechtlich zu verfolgen sowie die Verantwortlichen zu bestrafen, sei nicht delegierbar. Schließlich hätte die Vereinigte Republik Tansania bezüglich ihrer Behauptung, dass die Ermittlungen noch laufen würden, gegenüber ihm weder Angaben zum Verlauf der Ermittlungen gemacht, noch hätte es Anzeichen von konkreten Maßnahmen beziehungsweise Ergebnissen gegeben. (Rz. 5.2 — 5.5)

Betreffend den Einwand, dass er eine Beschwerde im Rahmen des „Basic Rights and Duties Enforcement Acts“ vor tansanischen Gerichten hätte einreichen können, erwiderte er, dass sich solche Verfahren unangemessen in die Länge ziehen würden. Unter Bezugnahme auf verschiedene völkerrechtliche Entscheidungen trug er vor, dass übermäßig verzögerte Rechtsbehelfe nicht ausgeschöpft werden müssten, da diese schon von ihrem Wesen her ineffektiv seien und eher als ein Instrument zur Verschleppung genutzt würden. Um zu bestimmen, ob eine übermäßige Verzögerung vorliege, bewerteten Menschenrechtsgremien für gewöhnlich das Verhalten der jeweiligen Vertragspartei sowie die Komplexität des Falles.

X. wies erneut darauf hin, dass es seit 2000 einen Anstieg bezüglich der Anzahl und des Ausmaßes von Attacken auf Menschen mit Albinismus in Tansania gegeben habe. Der Großteil dieser Vorfälle werde dabei nicht gemeldet. Die Vereinigte Republik Tansania sei bisher nicht in der Lage gewesen, in den dokumentierten Fällen eine Strafverfolgung einzuleiten. Zudem sei das tansanische Justizsystem zu schlecht ausgerüstet, um die hohe Zahl an Fällen von Menschenrechtsverletzungen an Menschen mit Albinismus zu bearbeiten. Auch widerspreche dies der Rechtsprechung der Afrikanischen Kommission der Menschenrechte und Rechte der Völker. Diese besage, dass von einem Staat, in dem die Voraussetzungen für massive und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegeben sind, erwartet wird, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um diese zu verhindern. Auf seinen Fall bezugnehmend stellte X. fest, dass der tansanische Staat von den von ihm erlittenen schweren Menschenrechtsverletzungen Kenntnis gehabt habe. Trotzdem hätten die staatlichen Behörden nicht die nötigen Schritte unternommen, um die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Auch sei die Vereinigte Republik Tansania nicht in der Lage gewesen, weitere ähnliche Gewalttaten gegenüber Menschen mit Albinismus zu verhindern. In Fällen schwerwiegender Verletzungen, wie etwa Verletzungen des Rechts auf Leben, könnten rein administrative oder disziplinarische Verfahren nicht den Anspruch erheben, ausreichend oder effektiv zu sein. Rechtsbehelfe müssten juristischer Natur und Staaten in der Lage sein, die strafrechtliche Verantwortung der Täter*innen zu garantieren. In der Rechtssache „Akdivar and others v. Turkey“ habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass innerstaatliche Rechtsbehelfe nicht ausgeschöpft werden müssten, wenn eine administrative Praxis bestehe, wiederholt gegen die eigenen Verpflichtungen zu verstoßen und diese Verstöße vonseiten der staatlichen Behörden toleriert würden. (Rz.5.7 — 5.10)

Da die Vereinigte Republik Tansania die Möglichkeit versäumt habe, zu der inhaltlichen Begründetheit der Argumentation von X. Stellung zu nehmen, räumte der Fachausschuss in der Entscheidungsfindung den ordnungsgemäß begründeten Aussagen von X. einen zentralen Stellenwert ein. (Rz. 6)

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Der Fachausschuss erklärte die von X. eingebrachte Mitteilung nach Artikel 2 des Fakultativprotokolls und Regel 65 der Verfahrensordnung des Ausschusses für zulässig. In diesem Zusammenhang machte der Ausschuss auch deutlich, dass Albinismus unter die Definition von Behinderung (Artikel 1 BRK) falle. Inhaltlich stellte er eine Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 (Diskriminierungsverbot) und Absatz 2 (gleicher und wirksamer rechtlicher Schutz vor Diskriminierung), Artikel 15 (wirksame gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz vor Folter) und Artikel 17 (Schutz der Unversehrtheit der Person, in Zusammenhang mit Artikel 4 Allgemeine Verpflichtungen) fest.

3.1 Zulässigkeit (Rz. 7.1-7.7)

Die Argumentation der Vereinigten Republik Tansanias hinsichtlich der Zulässigkeit berücksichtigend stellte der Ausschuss fest, dass bei derart schweren Menschenrechtsverletzungen, wie sie X. hier erlitten habe, die Hauptverantwortung für die Strafverfolgung bei den Behörden des Vertragsstaates liege. Der Staat habe die Pflicht, gegen die Verantwortlichen zu ermitteln und sie zu bestrafen (Rz. 7.3). Auch hielt der Ausschuss fest, dass es seit der Eingabe einer Verfassungsbeschwerde durch einen Zusammenschluss mehrerer Betroffener vor mehr als acht Jahren immer noch nicht zu einer Verhandlung gekommen sei. In diesem Zusammenhang verwies er auch darauf, dass die von X. eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren bislang noch keine Ergebnisse gebracht hätten. Unter solchen Umständen könne von X. nicht verlangt werden, zusätzlich ein Zivilverfahren oder eine Beschwerde von unvorhersehbarer Dauer auf Grundlage des „Basic Rights and Duties Enforcement Act“ anzustrengen. Den Umständen des Falles entsprechend, könnten zivilrechtliche Ansprüche und die Zuerkennung von Schadenersatz auch nicht als wirksames Rechtsmittel angesehen werden. (Rz.7.3 — 7.5)

Als Grundvoraussetzung für die Zuständigkeit des Fachausschusses und damit für die Zulässigkeit der Mitteilung von X. stellte der Ausschuss fest, dass es sich bei Albinismus um eine Behinderung nach Artikel 1 BRK handle. Ein menschenrechtsbasiertes Modell von Behinderung müsse auch die Diversität von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen. (Rz. 7.6-7.7)

3.2 Verweigerung von gleichem und wirksamem rechtlichen Schutz aufgrund von Behinderung als Diskriminierung (Artikel 5 Absatz 1 und 2)

Der Ausschuss stellte eine Verletzung des Rechts auf Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung fest, weil kein wirksamer Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Behinderung bestehe.

Die Diskriminierung aufgrund von Albinismus zeige sich nach Auffassung des Fachausschusses darin, dass die von X. und anderen Menschen mit Albinismus erfahrenen Gewalttaten in der Vereinigten Republik von Tansania eine weitverbreitete Praxis darstellten, die sich ausschließlich gegen Menschen mit Albinismus richteten. Die bis heute andauernde Straflosigkeit der an X. begangenen Tat sei dabei auch von Bedeutung. Die Regierung habe insofern nicht alle erforderlichen Schritte unternommen, um eine wirksame, vollständige und vorurteilsfreie Untersuchung und Verfolgung der Täter*innen durchzuführen. Auch Schutzmaßnahmen für die Zukunft seien nicht getroffen worden. (Rz. 8.2)

Der Ausschuss erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass auch eine Regel oder Maßnahme, die keine Diskriminierung bezwecke, diskriminierend wirken könne, wenn sie überproportional viele Menschen mit Behinderungen betreffe. Im vorliegenden Fall sei X. von einem Vorgang betroffen, welcher mit einer Praxis korrespondiere, die ausschließlich Menschen mit Albinismus betreffe. X. sei der Unterarm abgehakt worden und er habe keine nennenswerte Unterstützung durch die Strafverfolgungsbehörden erhalten, mit der Folge, dass mehr als acht Jahre nach dem Vorfall Straflosigkeit für die Täter*innen herrsche. (Rz. 8.3)

Der Ausschuss erläuterte, dass X. keinerlei Unterstützung vonseiten der staatlichen Behörden erfahren habe, die es ihm ermöglicht hätte, nach dem Verlust seines Armes ein unabhängiges Leben zu führen. Die Tatsache, dass die tansanischen Behörden nicht in der Lage gewesen seien beziehungsweise nicht in der Lage seien, derartige Taten zu verhindern und zu bestrafen, bringe X. und andere Menschen mit Albinismus in eine Lage besonderer Vulnerabilität. Dies führe dazu, dass ein mit anderen gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft für sie nicht möglich sei. Daher kam der Fachausschuss zu dem Schluss, dass X. aufgrund seiner Beeinträchtigung diskriminiert worden sei, und dementsprechend eine Verletzung von Artikel 5 BRK vorliege. (Rz. 8.4)

3.3 Keine wirksamen gesetzgeberischen und gerichtlichen Maßnahmen zum Schutz vor Folter (Artikel 15) (Rz. 8.5-8.6)

Der Ausschuss verwies zunächst darauf, dass hier keine Folter im eigentlichen Sinne vorliege, da Folter stets nur von einem*einer Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis ausgeführt werden könne. Im Fall von X. hätten jedoch Privatpersonen gehandelt. Gleichwohl hätten die Staaten die Verpflichtung, unmenschliche und erniedrigende Behandlung zu verhindern und zu bestrafen. Diese Verpflichtung gelte unabhängig davon, ob die Taten von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteur*innen begangen würden.

Der Ausschuss sah in der Untätigkeit der Vereinigten Republik Tansanias hinsichtlich einer effektiven Strafverfolgung der Verdächtigen eine Reviktimisierung. Die sich daraus ergebenden Leiden von X. kämen psychischer Folter und/oder Misshandlung gleich. Der Tatbestand von Artikel 15 BRK sei daher erfüllt.

3.4 Unzureichender Schutz der Unversehrtheit der Person (Artikel 17, in Zusammenhang mit Artikel 4 Allgemeine Verpflichtungen) (Rz. 8.7)

In Bezug auf Artikel 17 BRK erinnerte der Ausschuss daran, dass jeder Mensch mit Behinderungen ein Recht darauf habe, dass seine physische und mentale Unversehrtheit gleichberechtigt mit anderen Menschen geschützt werde. Die Unversehrtheit der Person sei eng verknüpft mit der Idee der Menschenwürde und die Grundlage für das, was das Menschsein ausmache. Die von X. erlittenen Menschenrechtsverletzungen fielen eindeutig in jene Kategorie von Handlungen, die zwangsläufig in der Verletzung der physischen und mentalen Integrität des*der Betroffenen resultieren, so der Ausschuss. Zusätzlich verwies er darauf, dass Staaten eine allgemeine Verpflichtung hätten, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollkommene Verwirklichung der in der BRK anerkannten Rechte, also auch des Rechts auf Schutz der Unversehrtheit der Person, zu fördern und zu gewährleisten (Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a). Die Vereinigte Republik Tansania habe darin versagt, Gewalttaten wie jene, die X. erlitten hatte, zu verhindern beziehungsweise effektive Ermittlungen durchzuführen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

3.5. Empfehlungen (Rz. 9)

a) Der Fachausschuss empfahl der Vereinigten Republik Tansania in Bezug auf X.:

  1. ihm den Zugang zu effektiven Rechtsbehelfen, Kompensation für die erlittenen Misshandlungen sowie die nötige Unterstützung zugänglich zu machen, damit er wieder ein unabhängiges Leben führen könne.
  2. unparteiische, schnelle und effektive Ermittlungen hinsichtlich des Angriffs einzuleiten, und die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen.
  3. die Mitteilung des Ausschusses zu veröffentlichen und der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen.

b) Weiterhin stellte der Fachausschuss fest, dass Tansania verpflichtet sei, Maßnahmen zu ergreifen, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern. In diesem Zusammenhang verwies der Ausschuss auf die Empfehlungen der Unabhängigen Expertin für die Rechte von Menschen mit Albinismus und empfahl der Regierung:

  1. seine rechtlichen Rahmenbedingungen zu überprüfen und derart anzupassen, dass eine Berücksichtigung aller relevanten Aspekte hinsichtlich der Gewalt gegen Menschen mit Albinismus, einschließlich des Handelns mit Körperteilen, sichergestellt werde.
  2. unverzügliche Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen von Fällen von Gewalt gegen Menschen mit Albinismus, sowie hinsichtlich des Handelns von Körperteilen sicherzustellen.
  3. sicherzustellen, dass die Praxis, Körperteile von Menschen mit Albinismus für Zwecke der Hexerei zu verwenden, im innerstaatlichen Recht in angemessener und eindeutiger Art und Weise unter Strafe gestellt wird.
  4. dauerhafte, auf dem Menschenrechtsmodell von Behinderung basierende Aufklärungskampagnen im Einklang mit Artikel 8 (Bewusstseinsbildung) zu entwickeln und zu implementieren. Dazu gehörten auch Schulungen, die sich mit den schädlichen Praktiken und den weitverbreiteten Mythen befassten.

4 Entscheidung im Volltext

CRPD_18.08.2017_X_v._Tansanzia_ENG (PDF, 268 KB, nicht barrierefrei)

Zum Seitenanfang springen