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CAT, Mitteilung Nr. 430/2010 (Abichou vs. Germany)

CAT, Entscheidung vom 21.05.2013, Inass Abichou (verteten durch Action by Christians for the Abolition of Torture - ACAT-France) gegen Deutschland

1. Sachverhalt

Der französische und tunesische Staatsangehörige Onsi Abichou (A.) wurde im Juni 2009 in Tunesien in Abwesenheit und aufgrund mutmaßlich erfolterter Geständnisse von Mitangeklagten zu lebenslanger Haft wegen Drogenhandels verurteilt.  Aufgrund eines von Tunesien erwirkten internationalen Haftbefehls wurde A. auf einer Geschäftsreise in Deutschland im Oktober 2009 von den deutschen Behörden verhaftet. Tunesien verlangte seine Auslieferung. Deutschland holte von Tunesien zwei Mal diplomatische Zusicherungen ein, in denen Tunesien versicherte, dass der erneute Prozess und die Haftbedingungen im Falle einer Verurteilung den internationalen Standards des Zivilpaktes und der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen genügen würden.

Im Mai 2010 entschied das Oberlandesgericht Saarbrücken (Entscheidung vom 20. Mai 2010), dass eine Auslieferung rechtmäßig wäre. Daraufhin übermittelte Deutschland Tunesien das Einverständnis zum Auslieferungsantrag. Rechtsmittel (Oberlandesgericht Saarbrücken, Entscheidung vom 12. Juli 2010) gegen das Urteil wurden abgewiesen, da das Gericht die tunesischen Zusicherungen für ausreichend und glaubhaft hielt und keine Beweise einer direkten Bedrohung von  A. sah. Im Juli 2010 wies das Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag von A. ab. Am 20. August 2010 reichte A. einen Eilantrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein, der am 23. August 2010 ohne Begründung zur Sache abgewiesen wurde. Am 25. August erfuhr seine Ehefrau, dass A. um 13 Uhr ausgeliefert werden würde, und stellte daraufhin einen Eilantrag vor dem UN-Anti-Folterausschuss. Der Ausschuss erließ kurze Zeit später eine einstweilige Verfügung, die nach Angaben der Bundesregierung um 12:05 Uhr bei der Ständigen Vertretung in Genf einging. Um 12:10 Uhr informierte die Ständige Vertretung das Auswärtige Amt in Berlin per E-Mail. Dieses kontaktierte um 13:39 Uhr das Bundesjustizministerium, das umgehend das zuständige saarländische Justizministerium anrief. Dieses teilte mit, dass A. den tunesischen Behörden bereits um 13:15 Uhr am Frankfurter Flughafen übergeben worden war.

A. wurde im Dezember 2010 in einem zweiten Prozess erneut zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Verurteilung beruhte auf den Geständnissen zweier Mitangeklagter, die mutmaßlich unter Folter entstanden waren. Nach der Veränderung der politischen Lage wurde das Verfahren gegen A. wiederaufgenommen. Im Februar 2011 wurde er in der Berufungsinstanz freigesprochen.

2. Verfahren vor dem Anti-Folterausschuss (CAT)

Vorläufiger Rechtsschutz

Die Ehefrau von A., unterstützt durch die Nichtregierungsorganisation Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter (ACAT), forderte den Anti-Folterausschuss am 25. Oktober 2010 auf, im Rahmen einer vorläufigen Maßnahme die drohende Auslieferung zu verhindern, da in Tunesien nachweislich gefoltert werde. Der Ausschuss wies daraufhin Deutschland am gleichen Tag an, die Abschiebung auszusetzen. A. wurde gleichwohl ausgewiesen, weil die Verfügung das zuständige Landesministerium erst nach der Auslieferung erreichte.

Der Ausschuss setzte das Verfahren als Hauptsacheverfahren fort.

Auffassungen der Parteien

Die Frau von A. stützte sich in seinem Namen auf Artikel 3 des Internationalen Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Anti-Folter-Konvention; CAT). Diese Vorschrift sei verletzt, da Gefangene in Tunesien systematisch gefoltert würden, um Geständnisse zu erwirken. Dies habe auch der Menschenrechtsausschuss bei seinem Bericht über Tunesien 2008 festgestellt. Berichte von Nichtregierungsorganisationen zeigten, dass Folter auch bei Ermittlungen wegen gewöhnlicher Straftaten gegen politische Gegner*innen, Gewerkschaftsmitglieder, Journalist*innen sowie andere Gruppen angewendet werde.

Zudem habe für A. selbst ein erhebliches Misshandlungsrisiko bestanden. Sein Anwalt  habe erfahren, dass zwei Mitangeklagte im gleichen Verfahren gefoltert worden seien, um Geständnisse zu erpressen. Aufgezeichnete Interviews von ACAT mit den beiden Mitangeklagten belegten die Folter. Sie hätten vergeblich Strafanzeige wegen Folter erstattet und dabei zahlreiche Beweise vorgebracht. Da es sich um das gleiche Strafverfahren handelte, habe eine erhebliche Gefahr bestanden, dass A. auch gefoltert oder misshandelt werde. Dass dies letztlich nicht geschah, sei nicht den Zusicherungen der Behörden, sondern der Beobachtung durch die Medienöffentlichkeit zu verdanken.

Deutschland habe nicht auf die diplomatischen Zusicherungen vertrauen dürfen. Tunesien habe schon mehrmals sein Wort gebrochen und sich im Fall des A. an drei Punkte der diplomatischen Zusicherung nicht gehalten. A. sei allein aufgrund der Aussagen der gefolterten Mitangeklagten verurteilt worden. Seine Verteidigung habe die Zeugen nicht befragen dürfen. Er sei am ersten Prozesstag verurteilt worden, ohne dass seine Anwältin Einlassungen zur Sache machen durfte. Die tunesischen Gefängnisse im Allgemeinen erfüllten nicht den Mindeststandard, wie internationale Berichte bestätigten.

A. sei lediglich wegen der Umbrüche in Tunesien und der Unterstützung durch seine Anwältin und die ACAT letztlich freigesprochen worden. Dies habe erstmalig eine Zeugenbefragung möglich gemacht (Rz. 3.1-3.3; 8.5-8.8).

Schließlich sei die Beschwerde zum Anti-Folter-Ausschuss auch zulässig. Seine Ehefrau habe im Namen von A. nur einen Eilantrag beim EGMR eingereicht und der EGMR habe sich nur darauf allein bezogen. Sie habe zu keiner Zeit versucht, vor dem EGMR eine endgültige Entscheidung zu erlangen. Erst im November 2011 habe sie erfahren, dass ohne ihr Wissen und durch ein Missverständnis zwischen Anwälten und EGMR auch ein Hauptsacheverfahren vor dem EGMR anhängig war. Die Beschwerde hätten die Anwälte umgehend zurückgenommen. Der EGMR habe nicht zur Sache entschieden (Rz. 5.1 ff.; 8.1-8.4).

Die deutsche Bundesregierung wies die Beschwerde als unzulässig und unbegründet zurück. Die Beschwerde sei rechtsmissbräuchlich, da die Frau von A. bereits Beschwerde zum EGMR erhoben habe. Erst nach Abweisung des Antrags habe sie den Fachausschuss kontaktiert. Der EGMR habe anhand des gleichen Sachverhalts zu prüfen gehabt, ob bei einer Auslieferung nach Tunesien eine erhebliche Foltergefahr vorliege. Dies habe er verneint. Die Anwälte von A. seien auch davon ausgegangen, dass die Beschwerde anhängig geblieben sei. Erst nach der Rückfrage der Bundesregierung hätten sie die Beschwerde zurückgenommen, da sie wussten, dass der Ausschuss nunmehr von der parallelen EGMR-Beschwerde Kenntnis erlangen würde.

Zudem habe Deutschland die Eilanordnung nicht mehr befolgen können. Das Bundesjustizministerium habe unverzüglich das saarländische Justizministerium angerufen, aber die Landesbehörden hatten A. bereits eine halbe Stunde zuvor den tunesischen Behörden übergeben. Die Bundesregierung versicherte, sich bei künftigen Verfahren an die Anordnungen des Ausschusses zu halten.

Die Beschwerde sei unbegründet, da Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Übereinkommen nicht verletzt habe. Die Bundesregierung betont, dass die deutschen Behörden und Gerichte den Fall lange, sorgfältig und umfassend geprüft hätten. Tunesien habe Deutschland umfassend zugesichert, internationale Völker- und Menschenrechtsstandards einzuhalten. Das Gericht habe nationale und internationale Berichte, auch von Amnesty International, in die Erwägungen miteinbezogen. Es sei zu dem Ergebnis gekommen, dass Folter nicht auszuschließen sei, aber dass es keine Anhaltspunkte für eine Unterstützung oder Duldung der Behörden außerhalb von Terrorismusfällen gäbe. A. habe nicht zu den gefährdeten Gruppen gehört, da er nicht unter Terrorismusverdacht stand („Ben Khemais gegen Italien„, Beschwerde-Nr. 247/07). Bei einem solchen Verdacht hätte Deutschland ihn nicht ausgeliefert.

Die Foltervorwürfe von A. seien nicht ausführlich genug belegt worden. Seine Verurteilung habe auch auf objektiven Beweisen beruht. Tunesien habe zudem zugesichert, dass A. nach seiner Auslieferung ein erneutes, rechtsstaatliches Strafverfahren mit vollständiger Beweisaufnahme erhalten würde. An den diplomatischen Zusicherungen sei erkennbar, dass deutsche Behörden und Gerichte die Risiken sorgfältig berücksichtigt hätten. Die deutsche und die französische Botschaft hätten die Einhaltung der Zusicherungen geprüft und das Strafverfahren in beiden Instanzen beobachtet. Anzeichen für Folter oder Anhaltspunkte für einen Bruch der Zusicherungen habe es nicht gegeben. Zudem seien Staaten bei solch einfachen Vergehen wie hier regelmäßig nicht geneigt, die Aussicht auf die Bewilligung weiterer Auslieferungsanträge – etwa bei Terrorverdacht – zu gefährden.

Der Freispruch im Berufungsverfahren unterstreiche, dass sich Tunesien an die Zusicherungen gehalten habe (Rz. 4.1-4.6, 6.1-7.2).

3. Entscheidung des Anti-Folterausschusses

Der Fachausschuss stellt eine Verletzung des Artikels 3 CAT fest, da Deutschland A. ausgeliefert habe, obwohl ein vorhersehbares persönliches und tatsächliches Folterrisiko bestanden habe.

Zuvor merkt er an, dass Deutschland aufgrund der Umstände trotz mangelnder Beachtung der einstweiligen Verfügung nicht gegen seine Pflichten aus dem Übereinkommen verstoßen habe, da der Staat das Ersuchen des Ausschusses binnen 90 Minuten an die zuständige saarländische Behörde weiter geleitet habe, diese aber erst 30 Minuten nach Abflug des Flugzeugs mit A. erreicht habe. Damit habe Deutschland hinreichende Maßnahmen unternommen, um die Verfügung so schnell wie möglich zu übermitteln (Rz. 9.1).

3.1 Zulässigkeit (Rz. 10.1 f.)

Der Ausschuss hält die Beschwerde für zulässig, obwohl die Beschwerdeführerin, die Frau des A., unter der Nummer 33841/10 in gleicher Sache parallel Beschwerde zum EGMR erhoben hatte. Sie habe die Beschwerde im April 2011 über ihre Anwälte zurückgenommen, bevor der EGMR zur Sache entschieden habe.

3.2 Begründetheit (Rz. 11.2 ff.)

Der Ausschuss stellt fest, dass Deutschland durch die Auslieferung von  A. trotz vorhersehbaren persönlichen und tatsächlichen Folterrisikos seine Pflichten aus Artikel 3 CAT verletzt hat, da

  1. diplomatische Zusicherungen ungeeignet zum wirksamen Schutz vor Folter seien;
  2. Deutschland die Berichte des UN-Antifolter-Ausschusses und des UN-Menschenrechtsausschusses aus dem tunesischen Staatenberichtsverfahren über systematische Folter im staatlichen Gewahrsam nicht hinreichend beachtet habe.

Bei einer Auslieferung müsse der Staat eine Prognoseentscheidung treffen. Dabei komme es darauf an, ob dem Staat bei Auslieferung tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorlagen oder hätten vorliegen müssen, dass die auszuliefernde Person selbst gefährdet ist, im Empfangsstaat gefoltert zu werden. Das Folterrisiko dürfe nicht nur theoretisch, müsse aber nicht höchstwahrscheinlich sein. Nach ständiger Rechtsprechung müsse ein tatsächliches, persönliches und gegenwärtiges Folterrisiko bestehen (Allgemeine Bemerkung Nr. 1; „Mostafa Dardar gegen Kanada“, Mitteilung Nr. 258/2004). Dabei nehme der Ausschuss eine freie Würdigung des Sachverhalts im Einzelfall vor. Er berücksichtige auch, ob in dem Land systematische schwere, besonders abscheuliche oder weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Dies allein sei aber weder notwendige noch hinreichende Voraussetzung. Hinzukommen müssten ausreichende konkrete Anhaltspunkte, dass die betroffene Person im Empfangsstaat persönlich von Folter bedroht ist (Rz. 11.4). Der Ausschuss weist darauf hin, dass das Folterverbot ausnahms- und notstandslos gilt und dass ein Staat keine Ausnahme-Umstände gleich welcher Art anführen könne, um Folterhandlungen zu rechtfertigen. In Anbetracht des absoluten Charakters des Folterverbots könnten diplomatische Zusicherungen einen Verstoß gegen Artikel 3 CAT nicht rechtfertigen („Abdussamatov und andere gegen Kasachstan“, Mitteilung Nr. 444/2010; Rz. 11.5).

Der Ausschuss stellt unter Berufung auf seine eigene Stellungnahme (1998) und die Stellungnahme des Menschenrechtsausschusses (2008) im Rahmen des Staatenberichtsprüfungsverfahrens fest, dass zum Zeitpunkt der Auslieferung von A. Folter und Misshandlungen an Gefangenen in Tunesien weit verbreitete Praxis gewesen seien. Die Bundesregierung habe bei der Auslieferung gewusst oder wissen müssen, dass Tunesien routinemäßig politische Gefangene, aber auch Beschuldigte gewöhnlicher Straftaten folterte. Der Ausschuss weist darauf hin, dass zwei Mitangeklagte von der Polizei, aber auch bei weiteren Ermittlungen während des Strafprozesses gefoltert worden seien, um Geständnisse zu erpressen. Er verweist auf ihre Zeugenaussagen und Strafanzeigen wegen Folter, die tunesische Gerichte ohne Prüfung zurückgewiesen hätten. Die mutmaßliche Folter der beiden Mitangeklagten habe das persönliche und tatsächliche Folterrisiko für A. erhöht, da ihn bei Auslieferung ein erneutes Strafverfahren mit weiteren Ermittlungen erwartet hätte.

Der Ausschuss betont, dass Deutschland diese offensichtliche Gefahr trotz diplomatischer Zusicherungen nicht habe ignorieren dürfen. Keine der Zusicherungen habe besondere Vorkehrungen gegen Folter und Misshandlung enthalten. Dass A. letztendlich nicht gefoltert wurde, ändere an der Prognose-Entscheidung bei Auslieferung nichts (Rz. 11.7).

3.3 Empfehlungen (Rz. 13)

Der Fachausschuss empfiehlt Deutschland, A. Wiedergutmachung – inklusive einer angemessenen Entschädigung – zu leisten.

4. Bedeutung des Verfahrens für die Rechtspraxis

Mit seiner Entscheidung bestätigt der Anti-Folterausschuss seine Stellungnahmen, die er bereits im Staatenberichtsverfahren gegenüber Deutschland zum Thema Diplomatische Zusicherungen gemacht hatte. Dort hatte er bereits die deutsche Praxis der Auslieferung trotz drohender Folter bei Vorliegen diplomatischer Zusicherungen kritisiert.

CAT vertritt damit eine strengere Position als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser hatte in seinem Urteil „Othman (Abu Qatada) gegen das Vereinigte Königreich“ (Beschwerde-Nr. 8139/09; 17.01.2012) die Auslieferung nach Jordanien bei diplomatischen Zusicherungen unter engen Voraussetzungen für zulässig erachtet. Der dortige Beschwerdeführer war in Jordanien aufgrund von unter Folter erlangten Aussagen angeblicher Mittäter wegen der Mitwirkung an Bombenattentaten in Abwesenheit verurteilt worden. Der EGMR stellte fest, dass diplomatische Zusicherungen selbst bei verbreiteter Folterpraxis nur in Ausnahmefällen bedeutungslos seien. Im Regelfall seien die Qualität und die Verlässlichkeit der Zusicherungen maßgeblich. In diesem Fall ließ der EGMR die Auslieferungen zu, weil die sehr detaillierten und transparenten Zusicherungen nach Treu und Glauben abgegeben und von den obersten Gerichten Jordaniens geprüft worden seien. Die Verlässlichkeit maß der EGMR an der Bekanntgabe der Orte der Inhaftierung und des Strafverfahrens, der Möglichkeit regelmäßiger Kontrollbesuche im Gefängnis, dem Bekanntheitsgrad des Beschwerdeführers und der öffentlichen Aufmerksamkeit des Falles.

Dagegen geht der Anti-Folterausschuss in „Abichou gegen Deutschland“ davon aus, dass diplomatische Zusicherungen allgemein keinen wirksamen Schutz darstellen. Somit kann je nach Lage des Falles anzuraten sein, (einstweiligen) Rechtsschutz beim Anti-Folterausschuss zu suchen.

5. Entscheidung im Volltext

CAT_21.05.2013_Abichou_v._Germany_ENG (PDF, 127 KB, nicht barrierefrei)

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