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Beschwerde-Nr. 4239/08

EGMR, Urteil vom 13.11.2012, Beschwerde-Nr. 4239/08, C. N. gegen Großbritannien

1. Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin wurde 1979 in Uganda geboren. 2002 war sie mithilfe ihres Verwandten S. mit gefälschten Papieren nach Großbritannien eingereist, um eine Ausbildung zu beginnen. Nach ihren Angaben nahm S. ihr nach ihrer Ankunft jedoch alle Reisedokumente ab und vermittelte sie als Hausangestellte an ein älteres Ehepaar. Sie wohnte im Haus ihrer Arbeitgeber und kümmerte sich rund um die Uhr um den an Parkinson erkrankten Ehemann. Einmal im Monat bekam sie ein paar Stunden frei, musste jedoch die Zeit im Haus ihres Verwandten unter ständiger Überwachung verbringen. S. und andere warnten sie immer wieder davor, mit anderen zu sprechen, da sie verletzt oder aber ihr irregulärer Status durch die Behörden entdeckt werden könnte. Der Lohn für ihre Arbeit wurde an ihren Verwandten gezahlt.

Nach dreieinhalb Jahren, im August 2006, gelang es der jungen Frau, unbemerkt das Haus ihres Verwandten zu verlassen. In einer Bank bat sie einen Angestellten, die Polizei zu rufen. Vor Eintreffen der Polizei kollabierte sie.

2. Verlauf des Verfahrens in Großbritannien

Im September 2006 stellte die Frau einen Asylantrag, der in zwei Instanzen abgelehnt wurde. In 2007 und 2008 forderte ihr Anwalt die Strafverfolgungsbehörden auf, wegen aller in Betracht kommenden Straftaten - wie Menschenhandel und Leibeigenschaft - zu ermitteln. Gleichzeitig wies eine auf die Unterstützung von Betroffenen von Menschenhandel spezialisierte NGO darauf hin, dass im Fall der jungen Frau fünf der sechs Indikatoren für Zwangsarbeit im Sinne des Übereinkommens für Zwangs- oder Pflichtarbeit (PDF, 5,78 MB, S. 6) der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorlägen: Die Bewegungsfreiheit der Beschwerdeführerin beschränkte sich auf den Arbeitsplatz, ihr Lohn sei einbehalten worden, um ihr unbekannte Schulden zu bezahlen, sie habe nicht über ihren Reisepass verfügen können und sei mit der Ausweisung durch die Ausländerbehörde bedroht worden. Die Frau wurde vernommen, nach Auffassung des Sonderdezernates Menschenhandel der Polizei gab es jedoch keine Anzeichen und Beweise dafür, dass der Tatbestand des Menschenhandels oder der Leibeigenschaft nach britischem Recht erfüllt sei. Hiernach hätte die Frau ins Land gebracht werden müssen, um dann ausgebeutet zu werden. Sie habe sich aber vielmehr selbständig um gefälschte Reisedokumente gekümmert, nachdem ihr Antrag auf ein Visum abgelehnt worden war. Zudem sei sie im Haus ihrer Arbeitgeber gut behandelt worden. Ihr Lohn sei mit ihrem Einverständnis direkt an ihren Verwandten ausgezahlt worden, damit ihr irregulärer Status nicht aufgedeckt werden konnte. Aufgrund dessen wurden die Ermittlungen nach zwei Jahren endgültig eingestellt.

3. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Die Frau legte im Januar 2008 Beschwerde gegen Großbritannien beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Sie war der Auffassung, Großbritannien habe seine positiven Verpflichtungen aus Artikel 4 EMRK verletzt, gesetzliche Vorschriften zu erlassen, die alle Formen von Menschenhandel, Zwangsarbeit und Leibeigenschaft unter Strafe stellen. Die britische Regierung war der Auffassung, dass die damals vorhandenen Straftatbestände ausreichend waren, um den Verpflichtungen aus Artikel 4 EMRK zu genügen. Das Ermittlungsverfahren sei mangels Beweisen und aufgrund der Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin eingestellt worden.

4. Feststellungen des Gerichtshofes zu Artikel 4 EMRK

Der Gerichtshof stellt einen Verstoß gegen Artikel 4 EMRK fest, da die zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Bestimmungen im Strafgesetzbuch keinen ausreichenden Schutz vor Leibeigenschaft boten und Großbritannien seiner Verpflichtung zu einer effektiven Falluntersuchung nicht nachgekommen ist.

Der Gerichtshof verweist zunächst auf seine Ausführungen zu den positiven Staatenverpflichtungen in seinen Entscheidungen "Siliadin gegen Frankreich" und "Rantsev gegen Zypern und Russland". Danach erwächst aus Artikel 4 EMRK die Verpflichtung des Staates, strafrechtliche Normen für alle in Artikel 4 aufgeführten Handlungen zu erlassen und diese in der Praxis effektiv anzuwenden. Mit Bezug auf seine ständige Rechtsprechung zu Artikel 2 und Artikel 3 EMRK, weist der Gerichtshof auf die Pflicht zu effektiven Ermittlungen hin, sobald ein begründender Verdacht besteht, dass eine Person von Zwangsarbeit, Leibeigenschaft oder Sklaverei betroffen ist. Eine Pflicht zum Handeln entsteht dann, wenn der Staat davon wusste oder hätte wissen können.

Unter Anwendung seiner in der Siliadin-Entscheidung entwickelten Definition stellt der Gerichtshof fest, dass ein begründeter Verdacht auf Leibeigenschaft im Sinne von Artikel 4 EMRK vorlag. Ihrem Vortrag zufolge stand die Beschwerdeführerin fast rund um die Uhr für Pflegearbeit zur Verfügung. In ihrer Freizeit wurde sie von ihrem Verwandten überwacht. Sie musste sich entweder auf dem Grundstück ihrer Arbeitgeber oder ihres Verwandten aufhalten. Aufgrund von Drohungen und der fehlenden finanziellen Mittel hatte die Frau auch keine Ausweichmöglichkeiten. Dies hatte sie der Polizei mehrfach mitgeteilt. Auch die Tatsache, dass die britischen Behörden zeitweise in dieser Richtung ermittelten, bestätigt nach Auffassung des Gerichts den Verdacht.

Der Gerichtshof führt aus, dass die Leibeigenschaft eine eigenständige Form der Ausbeutung darstellt, die sich von der Definition des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung im britischen Recht unterscheidet. Insbesondere zeichne sich Leibeigenschaft dadurch aus, dass die Betroffenen zum Teil auf subtile Art und Weise in ein Abhängigkeitsverhältnis gelangen können. So gäbe es zwar im britischen Recht verschiedene Straftatbestände, die einzelne Aspekte von Leibeigenschaft und Zwangsarbeit unter Strafe stellen, das gesamte Phänomen sei aber nicht umfasst. Dies mache es für die Behörden auch schwieriger, Leibeigenschaft als solche zu identifizieren. Effektive Ermittlungen setzten demnach voraus, dass die Behörden in der Lage sind, die Besonderheiten von Leibeigenschaft zu erkennen. Vorliegend war jedoch die ermittelnde Behörde gerade auf andere Straftaten spezialisiert. Auch wurden die ILO-Indikatoren von dieser nicht ausreichend berücksichtigt sowie nicht alle Beteiligten, wie der Verwandte der Beschwerdeführerin, vernommen.

Entscheidung im Volltext:

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