Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

Beschwerde-Nr. 41738/10

EGMR, Urteil vom 13.12.2016, Beschwerde-Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien

1. Sachverhalt

Der georgische Staatsbürger Georgie Paposhvili (G. P.) kam 1998 mit seiner Frau, ebenfalls georgische Staatsbürgerin, und der 6-jährigen Tochter nach Belgien. Ihr eingereichter Asylantrag wurde abgelehnt. 1999 und 2006 wurden zwei weitere Kinder in Belgien geboren. 2006 wurde bei G. P. eine chronische lymphatische Leukämie diagnostiziert. Trotz Behandlung verschlechterte sich sein Gesundheitszustand in den folgenden Jahren. Seine Frau und seine drei Kinder erhielten 2010 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Belgien. Die Anträge von G. P. auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurden abgelehnt, unter anderem unter Verweis auf strafrechtliche Verurteilungen und Gefängnisstrafen. Ihm drohte die Abschiebung nach Georgien.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

G. P. berief sich 2010 in einer Beschwerde vor dem EGMR auf Artikel 2 (Recht auf Leben), Artikel 3 (Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) sowie Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Mit Einreichen der Beschwerde im Juli 2010 beantragte G. P. zudem einstweilige Maßnahmen nach Artikel 39 der Verfahrensordnung des EGMR. Der Gerichtshof gab dem Antrag auf einstweilige Maßnahmen statt und forderte Belgien auf, die Abschiebung von G. P. vorübergehend auszusetzen.

a. Verfahren vor der Kammer (Rz. 135-138, 209-212)

2014 lehnte eine Kammer des EGMR die Beschwerde von G. P. ab. Unter Hinweis auf die frühere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hob die Kammer hervor, dass Artikel 3 EMRK nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen ein Abschiebungsverbot für Schwerkranke beinhalte und auch dann nur, wenn durch die Abschiebung ein baldiges Versterben der Person unter unmenschlichen Bedingungen drohe. Im vorliegenden Fall stufte die Kammer die Erkrankung des G. P. als stabil und unter Kontrolle ein, ohne dass aktuell eine akute Lebensgefahr bestehe. In Georgien existierten zudem medizinische Behandlungsmöglichkeiten. Hinsichtlich Artikel 2 EMRK kam die Kammer zum gleichen Ergebnis.

Das Gericht erkannte auch keine Verletzung von Artikel 8 EMRK an. Zum einen würden die strafrechtlichen Verurteilungen von G. P. schwer ins Gewicht fallen. Zum anderen sei G. P. während seines 15-jährigen Aufenthalts in Belgien nie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen. Seine Frau und die Kinder könnten G. P. aufgrund ihrer georgischen Nationalität und der belgischen Aufenthaltserlaubnis außerdem vorübergehend nach Georgien begleiten.

b. Verfahren vor der Großen Kammer des EGMR

Auf Antrag von G. P. wurde das Verfahren der Großen Kammer des EGMR zur Entscheidung vorgelegt.

Zur Begründung seiner Beschwerde verwies G. P. auf seine besondere Schutzbedürftigkeit aufgrund der schweren Erkrankung und den aus seiner Sicht nicht vorhandenen Zugang zu notwendiger medizinischer Behandlung in Georgien. Seine Leukämie habe ein sehr kritisches Stadium erreicht, das permanente Beobachtung und eine kostspielige Behandlung erfordere. Die Beweislast hinsichtlich des tatsächlichen und nicht nur theoretischen Zugangs zu medizinischer Behandlung in Georgien liege bei den belgischen Behörden, so G. P.

Zudem sei das Kindeswohl seiner drei Kinder, von denen zwei in Belgien geboren worden seien, nicht hinreichend berücksichtigt worden. Sie hätten keine Beziehung zu Georgien und würden weder Georgisch noch Russisch sprechen. Die vorgeschlagene Lösung der Kammer in ihrer Entscheidung im Jahr 2014, G. P. bis zu seinem Tod nach Georgien zu begleiten, würde bedeuten, die Kinder aus der Schule zu nehmen und in ein ihnen unbekanntes Land mitzunehmen. Nach einem Jahr würde zudem ihr Recht auf Rückkehr nach Belgien erlöschen.

Die belgische Regierung als Beschwerdegegnerin argumentierte, dass Belgien als abschiebender Staat nicht direkt verantwortlich gemacht werden könne für eine unzureichende Gesundheitsversorgung im Zielstaat Georgien und für deren Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der abzuschiebenden Person. Nur in sehr außergewöhnlichen Situationen, in denen eine Abschiebung unausweichlich zu intensivem Leiden führen würde aufgrund nicht vorhandener Behandlungsmöglichkeiten, werde im Einzelfall die hohe Hürde einer Verletzung von Artikel 3 EMRK erreicht. Im vorliegenden Fall jedoch sei der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers nicht unmittelbar lebensbedrohlich. Eine medikamentöse Weiterbehandlung könne auch durch den Versand von Medikamenten nach Georgien und Überwachung durch dortige Ärzt*innen sichergestellt werden.

Zulasten von G. P. würden seine strafrechtlichen Verurteilungen berücksichtigt. Seinen Kindern sei es zuzumuten, vorübergehend in Georgien die Schule zu besuchen, wenn sie ihn begleiten würden.

Die georgische Regierung reichte eine Stellungnahme ein und wies darauf hin, dass Georgien seit 2012 ein weitreichendes Gesundheitsprogramm aufgelegt habe und G. P. nach seiner Rückkehr Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung habe.

Als weitere Drittintervention gab das Human Rights Centre of Ghent University (HRC) eine Stellungnahme ab. Das HRC plädierte für konkretere Kriterien bei der Prüfung einer Verletzung von Artikel 3 EMRK hinsichtlich der Abschiebung schwerkranker Personen, als die bislang vom Gerichtshof herangezogenen. Der tatsächliche Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung solle näher konkretisiert werden anhand der Behandlungskosten, der Unterstützung durch Familienangehörige, der Entfernung zum Behandlungsort und weiterer Faktoren im Zusammenhang mit der Erkrankung, die die Vulnerabilität der betroffenen Person möglicherweise erhöhten. Der abschiebende Staat stehe in der Pflicht, vom Zielstaat eine Zusicherung zu erlangen, dass die Person im konkreten Fall Zugang zur medizinischen Behandlung habe.

3. Entscheidung der Großen Kammer des EGMR

Der EGMR erkannte eine Verletzung der Artikel 2, 3 und 8 der EMRK an.

a. Zulässigkeit

Während des laufenden Verfahrens vor der Großen Kammer des EGMR verstarb der Beschwerdeführer 2016. Das Verfahren wurde von seiner Ehefrau weitergeführt.

b. Begründetheit

Verletzung von Artikel 2 und 3 EMRK (Rz. 134 ff.)

Der EGMR verwies zunächst auf den allgemeinen Grundsatz, dass Artikel 3 EMRK ein Abschiebungsverbot impliziert, wenn begründete Anhaltspunkte für das Risiko von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe im Zielstaat vorliegen.

Hinsichtlich der Abschiebung schwerkranker Menschen verwies der EGMR zunächst auf zwei zurückliegende Fälle, die jeweils Abschiebungen von an AIDS erkrankten Personen („D. gegen das Vereinigte Königreich“ und „N. gegen das Vereinigte Königreich“) betrafen, und in denen er das Vorliegen sehr außergewöhnlicher Umstände („very exceptional circumstances“) für eine Verletzung von Artikel 3 EMRK gefordert hatte. Nur in einem der beiden Fälle hatte der EGMR aufgrund des Endstadiums der Erkrankung und des bevorstehenden Versterbens des Betroffenen sowie fehlender medizinischer Versorgung und Unterstützung im Herkunftsland angenommen, dass zwingende humanitäre Gründe der Abschiebung entgegenstanden.

Über seine bisherige Rechtsprechung hinausgehend, führt der EGMR nun weiter aus, dass außergewöhnliche Umstände auch vorliegen können, wenn zwar nicht unmittelbar die Gefahr besteht, zu versterben, aber sich die Erkrankung aufgrund fehlender Behandlung im Zielstaat ernstlich, schnell und unumkehrbar verschlechtern und so intensives Leid oder eine signifikante Verringerung der Lebenserwartung hervorrufen würde.

Die nationalen Behörden haben nach Ansicht des EGMR vor einer Abschiebung zu untersuchen, ob durch die Abschiebung eine Verletzung von Artikel 3 EMRK droht und dabei den aktuellen Gesundheitszustand der betroffenen Person vor der Abschiebung mit der voraussichtlichen Entwicklung nach der Ankunft im Zielstaat zu vergleichen. Die betroffene Person hat hierfür zunächst wesentliche Anhaltspunkte für das Risiko einer erheblichen Gesundheitsverschlechterung darzulegen, insbesondere durch den Nachweis einer Erkrankung. Im vorliegenden Fall ist unstrittig, so der EGMR, dass G. P. an einer sehr schweren Erkrankung leidet, die er durch detaillierte ärztliche Nachweise belegt hat.

Die Behörden des abschiebenden Staates müssen daraufhin prüfen, ob im Zielstaat die notwendige Behandlung vorhanden und ob diese in der Praxis durch die betroffene Person auch tatsächlich erreichbar ist. Dabei ist der medizinische Standard im Zielstaat und nicht der des abschiebenden Staates maßgeblich. Die Kriterien aus der Drittintervention durch das Human Rights Centre of Ghent University aufgreifend, führt der EGMR aus, dass konkret die Kosten der Behandlung und Medikation, existierende soziale und familiäre Unterstützungsnetzwerke und die Entfernung, die bis zum Ort der Behandlung zurückgelegt werden muss, zu berücksichtigen sind. Bestehen daraufhin noch ernsthafte Zweifel, muss der abschiebende Staat ausreichende, individuelle Zusicherungen vom Zielstaat erhalten, dass die notwendige medizinische Behandlung im konkreten Fall für die betroffene Person verfügbar und zugänglich ist. Die belgischen Behörden hätten im Fall von G. P. aus den vorhandenen unzureichenden Informationen nicht schließen dürfen, dass G. P. nach seiner Abschiebung in Georgien Zugang zu notwendiger medizinischer Behandlung erhalten hätte.

Verletzung von Artikel 8 EMRK (Rz. 208 ff.)

In ähnlicher Weise argumentiert der EGMR hinsichtlich der Verletzung von Artikel 8 EMRK. Er hebt hervor, dass Belgien eine prozessuale Verpflichtung hat, sicherzustellen, dass die Achtung des Familienlebens bei allen Entscheidungen hinreichend berücksichtigt wird. Im Fall von G. P. haben die belgischen Behörden nicht hinreichend geprüft, inwieweit der Beschwerdeführende aufgrund der fortwährenden Verschlechterung seines Gesundheitszustands abhängig war von seiner Familie und ob von dieser tatsächlich hätte erwartet werden können, mit ihm nach Georgien zu gehen.

Entschädigung nach Artikel 41 EMRK

Den Antrag des Beschwerdeführenden auf Entschädigung für Behandlungskosten sowie einen immateriellen Schaden aufgrund der prekären sozio-ökonomischen Situation lehnte der EGMR ab.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

Die Entscheidung bedeutet eine weitere Öffnung von Artikel 3 EMRK bezüglich der Abschiebung schwerkranker Menschen und legt konkrete Kriterien für die Prüfung der Behandelbarkeit im Zielstaat fest. Auch wenn die Hürden für eine Verletzung von Artikel 3 EMRK in derartigen Fällen weiterhin sehr hoch sind, stärkt die Entscheidung die Rechte schwerkranker Menschen, die von Abschiebung bedroht sind und nimmt die Staaten stärker in die Pflicht, bei Abschiebungen die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten und den tatsächlichen Zugang hierzu in jedem Fall individuell zu prüfen.

5. Entscheidung im Volltext

EGMR_13_12_2016_Paposhvili v. Belgium.pdf (PDF, 474 KB, nicht barrierefrei)

Zum Seitenanfang springen