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Beschwerde-Nr. 39806/05

EGMR, Urteil vom 10.3.2009, Beschwerde-Nr. 39806/05, Paladi vs. Moldova

1. Sachverhalt

Herr Paladi (P.) war stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Chişinău in Moldawien. Er litt an einigen schwerwiegenden chronischen Erkrankungen, wie Diabetes, Herzbeschwerden und Bluthochdruck. 2004 wurde polizeilich gegen ihn ermittelt und im September 2004 erging die Anordnung, dass er 30 Tage in Untersuchungshaft verbringen müsse. Seine Haft trat er im September 2004 an. P. wurde erst im Dezember 2005 wieder aus dieser Untersuchungshaft entlassen, ohne dass die Anordnung der Untersuchungshaft richterlich verlängert worden war.

Während der Untersuchungshaft stellte P. mehrere Anträge auf Entlassung, die alle abgewiesen wurden. Er begründete diese unter anderem mit seinem schlechten Gesundheitszustand. Die Gerichte betonten unter anderem, dass er eine Gefahr für die Gesellschaft darstelle. Auch seine zahlreichen Anträge auf angemessene medizinische Versorgung blieben erfolglos.

In dem Gefängnis, in dem P. zunächst festgehalten wurde, war keine medizinische Versorgung verfügbar. Nur bei besonders akuten Beschwerden wurde medizinisches Personal gerufen, das ihn behandelte. Im März 2005 wurde P. dann auf die Krankenstation eines anderen Gefängnisses verlegt. Die medizinische Behandlung, die er benötigte, war jedoch auch dort nicht verfügbar, weil es dazu an der nötigen Ausstattung fehlte. Erst Anfang Oktober 2005 wurde P. in ein reguläres Krankenhaus gebracht, nachdem sich sein Gesundheitszustand weiter verschlimmert hatte. Dort begann die Ärzteschaft mit seiner Behandlung, beendete diese jedoch auf Anordnung des Gerichts vorzeitig, da aus einem Gutachten des Krankenhauses an das zuständige Gericht hervorging, dass sich sein Zustand stabilisiert hatte. Auch eine einstweilige Anordnung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 10.11.2005, ihn zur weiteren Behandlung im Krankenhaus zu belassen, verhinderte nicht, dass er zurück in das Gefängnis gebracht wurde. Erst vier Tage später befolgten die Behörden die einstweilige Anordnung und brachten P. zurück in das Zentrum für Neurologie.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

P. machte die Verletzung von Artikel 3 (Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend. Er berief sich auf die unzureichende medizinische Versorgung während seiner Untersuchungshaft. Des Weiteren brachte er vor, dass es nach Ablauf der Haftanordnung am 22.10.2004 keine Rechtsgrundlage für seine weitere Inhaftierung gegeben habe. Somit sei auch Artikel 5 EMRK (Recht auf Freiheit) verletzt worden.

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR bestätigte, dass P. während der Untersuchungshaft keine für seinen Gesundheitszustand angemessene medizinische Betreuung erhalten habe und somit Artikel 3 EMRK verletzt worden sei. Es sei unmenschlich und erniedrigend, dass der moldawische Staat P. nicht den nötigen Grad an medizinischer Versorgung geboten habe, obwohl den Behörden und Gerichten dessen schlechter Gesundheitszustand bekannt gewesen sei.

Zum Artikel 5 EMRK führte der Gerichtshof aus, dass eine zulässige Freiheitsentziehung Rechtssicherheit voraussetze. Das bedeute, dass die innerstaatlichen Voraussetzungen für einen Freiheitsentzug in klarer und vorhersehbarer Weise geregelt sein müssen. Da in dem vorliegenden Fall der Beschwerdeführer länger in Untersuchungshaft festgehalten worden sei als die Haftanordnung vorsah, stellte der EGMR eine Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 EMRK fest.

In der Nichtbefolgung der einstweiligen Anordnung des EGMR und dem Rücktransport von P. in das Gefängniskrankenhaus sah der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 34 EMRK (Recht auf eine Individualbeschwerde). Hierzu betonte er, dass die erstinstanzliche Gerichte verpflichtet seien, an Wochenenden und Feiertagen einen Dienst einzurichten, um auf Eilanträge antworten zu können.

4. Bedeutung der Entscheidung

Der EGMR betonte in seinem Urteil die Verpflichtung der Staaten, behinderten und kranken Festgenommenen Bedingungen zu gewährleisten, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Dazu gehört auch eine angemessene medizinische Betreuung. Die Nichterfüllung dieser Pflicht kann gegebenenfalls als unmenschliche Behandlung gewertet werden.

Ähnlich verpflichtet die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Artikel 14 Absatz 2 die Vertragsstaaten, bei Inhaftierung einer behinderten Person Bedingungen zu gewährleisten, die den aus der Behinderung resultierenden besonderen Bedürfnissen der Betroffenen entsprechen.

Entscheidung im Volltext:

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