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Beschwerde-Nr. 17484/15

EGMR, Urteil vom 25.07.2017, Beschwerde-Nr. 17484/15, Carvalho Pinto de Sousa Morais gegen Portugal

1. Sachverhalt

Maria Ivone Carvalho Pinto de Sousa Morais, litt unter gynäkologischen Beschwerden. Als die Behandlung nicht den erwünschten Erfolg brachte, entschied sie sich für eine Operation. Bei dieser Operation im Mai 1995 wurde infolge eines ärztlichen Kunstfehlers ein Nerv im Bereich der Vagina verletzt. Dadurch bekam sie intensive Schmerzen und verlor die Empfindung in der Vagina. Weitere gesundheitliche Konsequenzen der misslungenen Operation waren Inkontinenz und Schwierigkeiten beim Sitzen und Gehen. Darüber hinaus konnte sie keinen Geschlechtsverkehr mehr haben. Die Beschwerdeführende klagte auf Schadenersatz.

In erster Instanz war ihr ein Schmerzensgeld in Höhe von 80.000 Euro zugebilligt worden. Zusätzlich wurden ihr 16.000 Euro für die Anstellung einer Haushaltshilfe zugesprochen. Das Gericht stellte fest, dass die_der Chirurg_in einen Behandlungsfehler begangen habe und dass ein Kausalzusammenhang zwischen seinem Verhalten und der Verletzung bestehe.

In zweiter Instanz wurde das erstinstanzliche Urteil grundsätzlich bestätigt, die Höhe des Schmerzensgeldes jedoch auf 50.000 Euro herabgesetzt. Zur Begründung führte das Oberste Verwaltungsgericht folgende Argumente an: Durch die Operation habe sich der Zustand der Patientin nur verschlechtert, sie habe schon mindestens zwei Jahre vor der Operation unter Beschwerden gelitten. Zum Zeitpunkt der Operation sei sie bereits 50 Jahre alt gewesen und habe zwei Kinder gehabt. Deswegen war sie nach Ansicht des Gerichts in einem Alter, "in dem Sex nicht mehr so wichtig ist wie in jüngeren Jahren".

Darüber hinaus reduzierte das Gericht die Summe für eine Haushaltshilfe mit der Begründung, dass die Beschwerdeführende sich – in Anbetracht des Alters ihrer Kinder – wahrscheinlich nur um ihren Ehemann kümmern müsse und deswegen keine Vollzeit-Haushaltshilfe brauche.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Die Beschwerdeführende hat sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2015 auf Artikel 8 (Recht auf Privatleben) und Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) berufen. Sie hat argumentiert, dass sie aufgrund von Geschlecht und Alter diskriminiert werde, und kritisiert, dass das Gericht die Summe des ihr in der ersten Instanz zugesprochenen Schmerzensgeldes herabgesetzt und die Bedeutung des Sexuallebens für sie als Frau missachtet habe. Sie hat sich dabei auf eine Analyse der portugiesischen Rechtsprechung berufen, die zeige, dass es eine offensichtliche Ungleichbehandlung bei der Entschädigung von Männern und Frauen in Fällen gebe, die ihr Sexualleben betreffen. Insbesondere seien die Beträge, die den Männern für immaterielle Schäden zugesprochen werden, offensichtlich höher. Die Beschwerdeführende hat ferner betont, dass entgegen den Feststellungen des Obersten Verwaltungsgerichts ihre aktuellen Beschwerden durch die medizinische Intervention vom Mai 1995 und nicht durch frühere gesundheitliche Probleme verursacht worden seien.

Die portugiesische Regierung, gegen die die Beschwerde gerichtet war, hat geltend gemacht, dass das Oberste Verwaltungsgericht das Schmerzensgeld nicht in der Absicht herabgesetzt habe, die Beschwerdeführende aufgrund ihres Geschlechts oder ihres Alters zu diskriminieren. Es sei vielmehr der Ansicht gewesen, dass die medizinische Intervention nicht die einzige Ursache für ihren körperlichen und seelischen Schaden gewesen sei. Die Regierung hat eingeräumt, dass die angefochtenen Passagen des Urteils, wenn sie ohne den restlichen Kontext gelesen würden, auf Vorurteile und eine Herabsetzung des Leidens der Beschwerdeführenden, insbesondere aufgrund ihres Alters, hindeuten könnten. Sie hat ferner bestätigt, dass es unglückliche Formulierungen gegeben habe. Das Gericht habe die Passagen aber im Gesamtzusammenhang gelesen und auch die anderen Faktoren berücksichtigt. Die Regierung hat auch den Vergleich mit anderen Urteilen kritisiert, in denen den Männern höhere Summen an Schmerzensgeld zugesprochen wurden: Der gesundheitliche Zustand der Patienten sei von ihrem verschieden gewesen und dementsprechend seien auch die physischen und psychischen Konsequenzen des Schadens nicht vergleichbar.

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR erkannte eine Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK.

Anwendbarkeit von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK (Rz. 33 ff)

Der EGMR bestätigt zunächst, dass der Sachverhalt in den Anwendungsbereich von Artikel 8 und somit von Artikel 14 EMRK fällt, da es in dem vorliegenden Fall um die Verantwortlichkeit für ärztliche Kunstfehler und Entschädigung für die physische und psychische Folgen einer Operation ging.

Der EGMR erinnert daran, dass das Diskriminierungsverbot in Artikel 14 die anderen materiellen Bestimmungen der EMRK ergänzt. Es bezieht sich nur auf die in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten. Jedoch ist die Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 14 EMRK nicht die Verletzung eines Freiheitsrechts. Es reicht aus, dass der Sachverhalt in den Anwendungsbereich einer anderen materiellen Bestimmung der EMRK fällt. Eine Maßnahme, die den Erfordernissen dieses bestimmten Rechts entspricht, kann jedoch gegen diesen Artikel in Verbindung mit Artikel 14 verstoßen, weil sie diskriminierend ist. Der EGMR verweist darauf, dass der in Artikel 14 EMRK enthaltene Begriff des Privatlebens weit auszulegen ist und kaum erschöpfend definiert werden kann. Er umfasst die physische und psychische Integrität einer Person und in gewissem Umfang das Recht, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu entwickeln. Auch das Recht auf "persönliche Entwicklung" oder das Recht auf Selbstbestimmung und Elemente wie Geschlechtsidentifikation, sexuelle Orientierung und Sexualleben fallen unter den Begriff des Privatlebens.

Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK (Rz. 44 ff)

Zunächst erinnert der EGMR an die Grundprinzipien, die er in seiner früheren Rechtsprechung zum Diskriminierungsverbot entwickelt hat. Eine Diskriminierung im Sinne von Artikel 14 ist als Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen ohne objektive und angemessene Rechtfertigung zu verstehen. Artikel 14 EMRK verbietet ungleiche Behandlung nur dann, wenn diese auf einem identifizierbaren, objektiven oder persönlichen Merkmal oder "Status" beruht, durch das Einzelpersonen oder Gruppen voneinander unterscheidbar sind. Die Vorschrift beinhaltet einen Katalog konkreter Schutzgründe wie Geschlecht, rassistische Diskriminierung, Hautfarbe und andere, ergänzt durch die Kategorie "sonstiger Status". Daraus ergibt sich die Möglichkeit, andere Gründe wie zum Beispiel das Alter einzuschließen.

Der EGMR betont ferner, dass die Gleichstellung der Geschlechter heute ein wesentliches Ziel der Mitgliedstaaten des Europarates ist. Nur mit sehr wichtigen Gründen könnte eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts als mit der EMRK vereinbar angesehen werden. Insbesondere Verweise auf Traditionen, allgemeine Annahmen oder vorherrschende soziale Einstellungen in einem bestimmten Staat sind eine unzureichende Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts.

Zur Beweislastverteilung stellt der EGMR fest: Nachdem die Beschwerdeführende die unterschiedliche Behandlung belegt hat, muss die Regierung beweisen, dass diese gerechtfertigt war.

In dem vorliegenden Fall befindet der EGMR, dass es eine unterschiedliche Behandlung gegeben hat. Das Oberste Verwaltungsgericht reduzierte nämlich die Summe des Schmerzensgeldes und stützte sich dabei auf zwei Argumente: (a) der körperliche und seelische Schmerz der Beschwerdeführenden wurde durch die Operation verschärft und nicht verursacht, (b) Sexualität ist für sie nicht so wichtig, weil sie bereits über 50 Jahre alt ist und zwei Kinder hat.

Der EGMR betont, dass es nicht seine Aufgabe ist, die konkrete Summe des Schmerzensgeldes zu überprüfen. Die nationalen Behörden seien grundsätzlich besser in der Lage als ein internationales Gericht, zu beurteilen, welche Entschädigung in einem konkreten Fall angemessen wäre. Zu beantworten in dem Fall sei aber, ob die fragliche Urteilsbegründung nicht zu einer Ungleichbehandlung und folglich zur Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK führe.

Der EGMR unterstreicht, dass die Ungleichbehandlung in dem vorliegenden Fall gerade auf der Verbindung der Merkmale Alter und Geschlecht beruhte, indem das nationale Gericht unterstellte, dass Sexualität für eine Frau von über 50 Jahren, die bereits zwei Kinder hat, weniger wichtig ist als bei einer jüngeren Person. Diese Annahme basiert auf einem traditionellen Verständnis der weiblichen Sexualität, das auf ihre Rolle als Mutter fixiert ist. Das nationale Gericht hat also diese stereotype Annahme übernommen, ohne zu prüfen, ob sie in dem konkreten Fall der Beschwerdeführenden zutrifft.

Ferner kann diese Passage nicht als nur unglückliche Formulierung betrachtet werden, da das Alter und das Geschlecht der Beschwerdeführenden entscheidende Faktoren bei der endgültigen Entscheidung gewesen zu sein scheinen und auf dieser Grundlage die unterschiedliche Behandlung erfolgte.

Der EGMR weist ferner auf Entscheidungen des portugiesischen Obersten Verwaltungsgerichts in ähnlich gelagerten Fällen hin, in denen Männern im Alter von 55 und 59 Jahren sehr hohe Summen an Schmerzensgeld zugesprochen wurden. In den Begründungen berücksichtigte das Oberste Verwaltungsgericht lediglich, dass die Männer keine sexuellen Beziehungen mehr haben konnten. Auf Alter hingegen wurde nicht hingewiesen.

Entschädigung nach Artikel 41 EMRK

Der EGMR sprach der Beschwerdeführenden Entschädigung in Höhe von 3.250 Euro für immateriellen Schaden zu.

Abweichende und konkurrierende Meinungen

Vier von sieben Richter_innen haben ihre Meinungen dem Urteil beigefügt.

Zwei Richter_innen haben in einem gemeinsamen abweichenden Votum sowohl das Ergebnis als auch die Herangehensweise des EGMR kritisiert. Für die Feststellung von Diskriminierung sei es notwendig, dass die betroffene Person ungünstiger behandelt werde als eine andere Person in einer ähnlichen Situation. Der EGMR habe jedoch keinen Vergleich angestellt und dürfe deshalb nicht feststellen, dass die Beschwerdeführende diskriminiert wurde, zum Beispiel im Vergleich zu Männern in ähnlichen Situationen. Die zwei Fälle aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichts könnten nicht als Vergleich dienen. Außerdem habe das portugiesische Gericht ausschließlich auf das Alter der Frau abgestellt. Ihr Geschlecht spielte bei der Entscheidung ihrer Ansicht nach keine Rolle.

Zwei andere Richter_innen betonten in ihren konkurrierenden Meinungen, dass in dem vorliegenden Fall die Diskriminierung darin bestand, dass das portugiesische Gericht nicht einmal kleinste Bemühungen unternommen habe, um herauszufinden, welche Rolle Sexualität im Leben der Beschwerdeführenden spielte. Stattdessen habe es einfach ein stereotypes Verständnis des weiblichen Sexuallebens zugrunde gelegt, das hauptsächlich reproduktive Funktion habe.

Entscheidung im Volltext:

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