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Beschwerde-Nr. 1620/03

EGMR, Urteil vom 23.09.2010, Beschwerde-Nr. 1620/03, Schüth gegen Deutschland

1. Sachverhalt

Bernhard Schüth (S.) war seit 1983 bei einer katholischen Pfarrgemeinde als Organist und Chorleiter angestellt. 1994 trennte er sich von seiner Ehefrau. Als 1997 die Schwangerschaft seiner neuen Partnerin öffentlich bekannt wurde, kündigte die Gemeinde sein Arbeitsverhältnis. Sie begründete dies mit einem Verstoß gegen die Grundordnung der katholischen Kirche für kirchliche Arbeitsverhältnisse wegen Ehebruchs und Bigamie.
S. klagte in erster und zweiter Instanz erfolgreich gegen die Kündigung (Arbeitsgericht Essen, Urteil vom 09.12.1997, Aktenzeichen 6 Ca 2708/97; Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 13.08.1998, Aktenzeichen 7 Sa 425/98). Das  Bundesarbeitsgericht hob das Urteil auf und verwies den Fall zurück, da das Landesarbeitsgericht versäumt habe, den Dekan der Gemeinde anzuhören (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12.08.1999, Aktenzeichen 2 AZR 712/98. Es komme darauf an, ob der Dekan zunächst versucht habe, S. persönlich zur Beendigung seines außerehelichen Verhältnisses zu bewegen. Ferner verwies das Gericht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die von der katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue der Rechtsordnung nicht widerspreche.
Das Landesarbeitsgericht wies daraufhin die Klage von S. mit der Begründung ab, der Dekan habe eine Abmahnung nach dem Gespräch berechtigterweise für überflüssig halten können. Die Pfarrgemeinde habe S. wegen der engen Verbindung mit der kirchlichen Mission nicht ohne Glaubwürdigkeitsverlust weiterbeschäftigen können.
Revision und Verfassungsbeschwerde von S. blieben erfolglos (Bundesverfassungsgericht, 08.07.2002, Aktenzeichen 2 BvR 1160/00). S. fand zwischenzeitlich Arbeit als Teilzeitorganist in einer evangelischen Gemeinde, deren Kirchenrecht die Teilzeitbeschäftigung von Nichtmitgliedern ausnahmsweise ermöglicht.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Argumente der Parteien
S. berief sich in seiner Beschwerde vor dem EGMR 2003 auf Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Artikel 8 EMRK sei durch die gerichtliche Aufrechterhaltung der Kündigung verletzt. Die Interessenabwägung der deutschen Arbeitsgerichte sei unzureichend gewesen. Die Rolle der deutschen Arbeitsgerichte beschränke sich bei Kündigungen wegen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Wesentlichen darauf, die Wünsche der Kirche aufrechtzuerhalten.
Ferner gewähre Artikel 8 EMRK das Recht, einen bestimmten Lebensstil aufzugeben und einen anderen zu beginnen. Die Kirche könne jedenfalls bei gewöhnlichen Bediensteten nicht verlangen, dass ihre Beschäftigten ihre Vorschriften auch im Privatleben einhielten. S. verweist darauf, dass er als Kirchenmusiker keine Predigerfunktion habe und deshalb keinen erhöhten Loyalitätspflichten unterliege. Durch sein privates Verhalten werde auch die Glaubwürdigkeit der Kirche nicht unterwandert. Das Bundesverfassungsrecht habe zwar Entlassungen von Kirchenbediensteten wegen Verletzung der Loyalitätspflicht für zulässig erklärt (Grundsatzurteil vom 04.06.1985, Aktenzeichen BvR 1703/83, 1718/83, 856/84; BVerfGE 70, 138-173). Die dortigen Beschwerdeführenden hätten sich aber öffentlich gegen kirchliche Grundsätze gestellt. So habe sich ein betroffener Arzt in einem katholischen Krankenhaus zu Abtreibungen geäußert; ein anderer Betroffener sei aus der Kirche ausgetreten. Im Gegensatz dazu habe er sich nicht öffentlich gegen kirchliche Moralvorstellungen ausgesprochen. Er stelle das Sakrament der Ehe nicht in Frage und habe sich auch nicht scheiden lassen. S. sei lediglich aus persönlichen Gründen nicht in der Lage, die Trennung zu vermeiden und bis zum Lebensende abstinent zu leben. Bei Unterzeichnung des Arbeitsvertrags habe er die Trennung nicht vorhersehen können.
Seine Entlassung sei ferner unverhältnismäßig, weil er als Organist außerhalb der Kirche schwer Arbeit finden könne.

Die deutsche Regierung, an die sich die Beschwerde richtete, hält diese für unbegründet. Die katholische Kirche sei zwar eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, nicht aber Teil der Regierung. Deshalb könnten hier allenfalls die positiven Staatenverpflichtungen greifen, wobei der staatliche Beurteilungsspielraum mangels einheitlicher Praxis in den Mitgliedstaaten weit sei. Das Selbstbestimmungsrecht ermögliche den Kirchen auch, die Loyalitätspflichten zu regeln, die zur Wahrung ihrer Glaubwürdigkeit erforderlich sind. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Kündigung seien die nationalen Arbeitsgerichte deshalb grundsätzlich an die kirchlichen Prinzipien und damit auch die Loyalitätspflichten gebunden, solange sie nicht gegen allgemeine Rechtsgrundsätze verstießen. Die staatlichen Gerichte überprüften nur die Kündigungsgründe. Das Bundes- und das Landesarbeitsgericht hätten sich an diese Vorgaben gehalten. Sie hätten bei ihrer Abwägung insbesondere die Stelle des Arbeitnehmers, den Schweregrad des Verstoßes für die Kirche und den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit angemessen beurteilt. Eine Abmahnung als milderes Mittel sei nicht ausreichend gewesen, da S. gewusst haben müsse, dass die Kirche sein Verhalten nicht dulden werde. Mit der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages habe S. einer Beschränkung seiner Rechte und damit auch dem Risiko der Sanktionierung bei Verstößen zugestimmt. Diese Grundsätze sowie die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts habe die Europaratskommission als Vorgängerin des EGMR auch in ihrer Entscheidung "Rommelfänger gegen Deutschland" (Beschwerde-Nr. 12242/86) anerkannt. Aus der Länge seines Arbeitsverhältnisses lasse sich auch schließen, dass S. Kenntnis von der grundlegenden Bedeutung der Heiligkeit der Ehe für die katholische Kirche und den möglichen Folgen des Ehebruchs gehabt haben müsse. Ferner habe er wieder Arbeit gefunden.

Drittintervention
Die katholische Diözese Essen gab im Rahmen einer zugelassenen Drittintervention eine Stellungnahme ab, die die Position der Regierung stützte (siehe dazu Rz. 52 des Urteils). Sie führte aus, dass die Feststellung einer Verletzung durch den EGMR erhebliche Konsequenzen für alle kirchlichen Arbeitsverhältnisse haben würde. Die Ehe sei weit mehr als ein Vertrag, nämlich ein Sakrament, und führe zu untrennbarer, lebenslanger Gemeinschaft. Wegen der besonderen Bedeutung von Musik in der katholischen Liturgie und ihrer Verkündungsnähe müsse die Kirche allein und nach ihren eigenen Kriterien über ihre Musikerinnen und Musiker entscheiden dürfen. Dies sei eine Frage der Religionsausübungsfreiheit. Ferner wies die Diözese darauf hin, dass die Kirche mit den neuen Richtlinien ein abgestuftes System geschaffen habe. Alle Entscheidungen auf Grundlage dieser Richtlinien unterlägen der vollen Überprüfung durch die staatlichen Gerichte.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellt eine Verletzung von Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Die deutschen Gerichte hätten ihre Schutzpflicht gegenüber dem Beschwerdeführer verletzt, indem sie nicht angemessen begründeten, warum die Interessen der Kirche diejenigen des Beschwerdeführers weit überwögen.

3.1 Positive Staatenverpflichtungen unter Artikel 8 EMRK – Grundsätze (Rz. 54-55)

Der EGMR stellt kurz fest, dass der Anwendungsbereich des Artikels 8 EMRK sachlich eröffnet ist. Unter Verweis auf seine Rechtsprechung betont er, dass nicht die Kündigung durch die Kirche, sondern die Entscheidung der staatlichen Arbeitsgerichte Prüfungsgegenstand sei. Damit komme es auf die Frage an, ob der Staat bei der gerichtlichen Überprüfung der Kündigung eine Pflicht verletzt habe. Der Gerichtshof betont, dass die effektive Achtung des Privatlebens eine Schutzpflicht beinhalte. Daher müsse eine gerechte Abwägung zwischen dem öffentlichen und den individuellen Interessen getroffen werden. Dem Staat stehe dabei ein Beurteilungsspielraum zu ("Evans gegen das Vereinigte Königreich", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 6339/05; "Rommelfänger gegen Deutschland"). Der Gerichtshof führt aus, dass der Beurteilungsspielraum zum einen weiter sei, wenn keine übereinstimmende Praxis in den Mitgliedsstaaten herrsche. Zum anderen bestehe ein weiter Spielraum, wenn der Staat – wie hier – zwischen wiederstreitenden privaten und öffentlichen Interessen oder verschiedenen EMRK-Rechten abwägen müsse.

3.2 Verletzung der Staatenverpflichtung, durch angemessene gerichtliche Abwägung der Rechte der Beteiligten hinreichenden Schutz zu gewähren (Rz. 57 ff.)

Der Gerichtshof entschied, dass die Abwägung der Arbeitsgerichte zwischen dem Recht von  S. aus Artikel 8 auf Schutz seines Privatlebens einerseits und den Abwehrrechten der autonomen katholischen Kirche gegenüber unzulässiger staatlicher Einmischung nach Artikel 9 (Religionsfreiheit) in Verbindung mit Artikel 11 (Vereinigungsfreiheit) EMRK andererseits S. nicht hinreichend schützte.
Damit unterstellt der EGMR das kirchliche Selbstbestimmungsrecht dem Schutz von Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 11 EMRK. Der EGMR stellte fest, dass Deutschland seine positive Verpflichtung grundsätzlich erfülle, da kirchliche Entscheidungen im Arbeitsrecht – inklusive der Wirksamkeit von Kündigungen – durch Arbeitsgerichte und Bundesverfassungsgericht überprüfbar seien. Der EGMR beanstandet auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts nicht, wonach die eheliche Treuepflicht der Rechtsordnung nicht entgegenstehe.

Der Gerichtshof stellt allerdings bei der Anwendung im Einzelfall einen Pflichtverstoß fest.
Zwar ersetze er nicht die Entscheidungen nationaler Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Kündigung, überprüfe aber die Vereinbarkeit ihrer Urteile mit der EMRK ("Griechische Kirchengemeinde München und Bayern e. V. gegen Deutschland", Entscheidung, Beschwerde-Nr. 52336/99; "Miroļubovs und andere gegen Lettland", Beschwerde-Nr. 798/05; Rz. 65).
Im vorliegenden Fall seien die Entscheidungen der deutschen Gerichte mangels ausreichender Begründung nicht mit der EMRK vereinbar. Der EGMR analysiert zunächst ausführlich die jeweiligen Entscheidungen (Rz. 61-64) und weist verschiedene Argumente des Beschwerdeführers zurück. Sodann wendet sich der EGMR der Abwägung selbst zu und stellt die folgenden Verstöße fest (Rz. 65 ff.):

a. Zunächst rügt der EGMR die Kürze der rechtlichen Würdigungen (Rz. 65). Die Arbeitsgerichte hätten ihre Abwägungsentscheidung zugunsten der Kirche nicht ausreichend begründet. Das Landesarbeitsgericht habe beispielsweise ohne weitere Begründung festgestellt, dass die Tätigkeit von S. als Organist und Chorleiter so eng mit der kirchlichen Mission verbunden sei, dass die Kirche ihn ohne Verlust ihrer Glaubwürdigkeit nicht weiter beschäftigen könne. Damit habe es sich allein auf die Arbeitgebermeinung gestützt.

b. Zudem hätten die Arbeitsgerichte das faktische Familienleben von S. und dessen gesetzlichen Schutz nicht einmal erwähnt (Rz. 67). Daraus schließt der EGMR, dass die Gerichte keine Abwägung der Arbeitgeberinteressen mit dem von Artikel 8 EMRK geschützten Recht von S. auf Achtung seines (faktischen) Privat- und Familienlebens getroffen haben, sondern lediglich mit seinem (niedriger gewichteten) Interesse, seinen Arbeitsplatz zu behalten.

c. Der EGMR weist ohne weitere Schlussfolgerung darauf hin, dass das deutsche Lohnsteuerkartensystem es Angestellten unmöglich mache, wesentliche Änderungen des Familienstandes wie eine Scheidung oder die Geburt eines Kindes zu verheimlichen. Damit erhalte die Kirche als Arbeitgeberin in jedem Falle Kenntnis von einem Verstoß gegen die Loyalitätspflicht in diesem Bereich (Rz. 67).

d. Der Gerichtshof akzeptiert, dass die Kirche das Verhalten von S. als schweren Verstoß einstuft, auch wenn die Arbeitsgerichte die Sicht der Kirche damit letztlich als entscheidend angesehen hätten (Rz. 68). Er kritisiert aber, dass das Landesarbeitsgericht die Frage der Verkündungsnähe – der Nähe zwischen der Tätigkeit und der kirchlichen Mission – nicht geprüft, sondern einfach die Auffassung der Kirche zugrunde gelegt habe. Bei einer Kündigung wegen einer privaten und familiären Entscheidung des Arbeitnehmers sei aber eine ausführlichere Untersuchung erforderlich gewesen, da hier ein individuelles gegen ein Kollektivrecht abgewogen worden sei. Auch wenn religiös oder weltanschaulich gebundene Arbeitgebende ihren Beschäftigten besondere Loyalitätspflichten auferlegen könnten, dürfe eine Kündigung wegen des Verstoßes gegen eine solche Pflicht nicht nur einer eingeschränkten Kontrolle unterworfen werden. Die gerichtliche Prüfung dürfe jedenfalls die Art der Tätigkeit und den angemessenen Interessenausgleich im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ausblenden (Rz. 69).   
Der Gerichtshof betont ferner, dass die Kirche zwar ihre Beschäftigten zur Einhaltung gewisser grundlegender Prinzipien verpflichten könne, dies aber führe nicht dazu, dass das Arbeitsverhältnis das gesamte Privatleben bestimme (Rz. 70). Dass die Unterzeichnung des Arbeitsvertrages eine Loyalitätspflicht begründe und  damit zu einer gewissen freiwilligen (Selbst-)Beschränkung führe, sei unter der EMRK grundsätzlich zulässig ("Rommelfänger gegen Deutschland"). Der EGMR macht jedoch deutlich, dass es gegen den Kernbereich des Rechts auf Privat- und Familienleben verstieße, wenn man die Vertragsunterzeichnung als persönliches, eindeutiges Versprechen auslegte, bei Trennung oder Scheidung enthaltsam zu leben. Dies gelte besonders, wenn – wie hier von den Arbeitsgerichten festgestellt – keine erhöhte Loyalitätspflicht bestehe (siehe im Gegensatz dazu den Parallelfall "Obst gegen Deutschland", Beschwerde-Nr. 425/03) und der Beschäftigte sich darauf berufe, er könne aus persönlichen Gründen die Trennung nicht vermeiden und nicht bis zu seinem Lebensende abstinent leben.

e. Die Gerichte – mit Ausnahme des Arbeitsgerichts – hätten unzureichend berücksichtigt, dass der Sachverhalt des vorliegenden Falles von der zitierten Bundesverfassungsgerichtsentscheidung abwich. Es habe keine Medienberichterstattung über den Fall S. gegeben. S. habe sich auch nicht öffentlich gegen die kirchlichen Moralvorstellungen gestellt (siehe dazu "Rommelfänger gegen Deutschland"), sondern deren Standpunkte nur persönlich nicht befolgt. Ferner hätten die Gerichte nicht beachtet, dass die Trennung, die den Verstoß auslöste, den Kernbereich seines Privatlebens betraf.

f. Schließlich hätten die Gerichte die schlechten Aussichten von S. auf dem Arbeitsmarkt nicht angemessen berücksichtigt (Rz. 73). Dabei sei dieser Aspekt aus Sicht des EGMR besonders dann von großer Bedeutung, wenn der oder die gekündigte Angestellte eine spezielle Qualifikation habe, die die Arbeitsplatzsuche außerhalb der Kirche erschwere. Dies sei bei S. der Fall. Er habe nur eine Teilzeitbeschäftigung in einer evangelischen Kirche finden können, da diese  wiederum die Einstellung von Nichtmitgliedern nur in Ausnahmefällen und nur als Zusatzbeschäftigung erlaube. Ferner würden potenzielle Arbeitgebende durch das deutsche Lohnsteuerkartensystem in gewissem Umfang automatisch über die persönliche und familiäre Situation des Bewerbers oder der Bewerberin informiert.

3.3 Entschädigung für materielle und immaterielle Schäden

Die Frage des Schadenersatzes wurde mangels Spruchreife erst mit Urteil vom 28. Juni 2012 entschieden, in dem S. unter ausführlicher Abwägung 40.000 Euro hinsichtlich aller materiellen und immateriellen Schadengründe zugesprochen wurden.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

"Schüth gegen Deutschland" ist eine Grundsatzentscheidung zu den Grenzen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Arbeitsrecht. Sie ist einstimmig ergangen. Der Gerichtshof unterzieht die von den deutschen Arbeitsgerichten getroffene Abwägungsentscheidung einer genauen Prüfung. Er erlegt den Gerichten bei der Abwägung zweier Grundrechtspositionen umfangreiche Begründungspflichten auf und untersagt es ihnen, sich ungeprüft auf das Selbstbestimmungsrecht und die kirchliche Autonomie zurückzuziehen. Wenn sie auch an das Kirchenrecht und dessen besondere arbeitsrechtliche Loyalitäts- und Treuepflichten gebunden seien, dürften sie die rechtliche Beurteilung der Kirchen nicht ohne weitere Prüfung und eigenständige Begründung als gegeben hinnehmen. Bei der Abwägung hinsichtlich eines Eingriffs in das Familienleben sei nicht nur das kirchenrechtlich zulässige, sondern auch das faktische Familienleben und dessen Schutz unter der EMRK angemessen zu berücksichtigen.
Die Gerichte müssten dabei verschiedene Kriterien berücksichtigten. Dazu gehörten je nach Lagerung des Falles gegebenenfalls:
• die Art und Verkündungsnähe der Tätigkeit (Nähe zwischen Tätigkeit und kirchlicher Mission);
• die Geeignetheit milderer Sanktionen;
• die Aussicht des oder der Beschäftigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (aufgrund der beruflichen Qualifikation beziehungsweise des Berufsbildes der oder des Beschäftigten oder aufgrund der dominierenden Stellung und Privilegien des kirchlichen Arbeitgebers);
• die Art, Schwere und Kernbereichsnähe des Verstoßes;
• die Wichtigkeit des betroffenen kirchenrechtlichen Grundsatzes und der Grad der daraus erwachsenden Loyalitätspflicht (in Verbindung mit der Art der Tätigkeit);
• das Maß des mutmaßlichen Glaubwürdigkeitsverlusts bei Weiterbeschäftigung, insbesondere in Anbetracht des Medienechos;
• die Frage, ob der oder die Beschäftigte den betreffenden kirchenrechtlichen Grundsatz an sich öffentlich kritisiert beziehungsweise sich allgemein gegen die Moralvorstellungen der Kirche stellt oder ob er oder sie nur in der Praxis nicht in der Lage ist, den Grundsatz zu befolgen. 

In der am gleichen Tag ergangenen Entscheidung "Obst gegen Deutschland" wandte der Gerichtshof die gleichen Grundsätze an, stellte aber keine Verletzung fest. Zum einen hatten die deutschen Arbeitsgerichte eine sorgfältige und vollständige Abwägung der Interessen vorgenommen. Zum anderen wich der Sachverhalt ab: Der Beschwerdeführer hatte die Mormonenkirche von sich aus über seinen Ehebruch informiert. Als "Direktor Öffentlichkeitsarbeit" hatte er eine hervorgehobene Position inne, was mit erhöhten Loyalitätspflichten verbunden war. Deswegen beanstandete der EGMR die Entscheidung der deutschen Gerichte nicht, dass die Kündigung zur Wahrung der Glaubwürdigkeit der Kirche erforderlich gewesen sei. Zudem sei der Schaden für den relativ jungen Beschwerdeführer begrenzt gewesen.
Mit den beiden Entscheidungen liefert der EGMR im Vergleich zu der Vorgängerentscheidung der Europaratskommission, "Rommelfänger gegen Deutschland", detaillierte Abwägungskriterien, die vor deutschen Gerichten vorgebracht und als Orientierung für Schriftsätze für Anwältinnen und Anwälte sowie für Richterinnen und Richter verwendet werden können.
Der EGMR legt mit diesen beiden Urteilen ein klares Prüfprogramm für den Umgang mit dem Kirchenrecht im staatlichen Kündigungsschutzverfahren fest, das sich auf das gesamte kirchliche Arbeitsrecht übertragen lässt.

5. Follow Up

Die Restitutionsklage des Beschwerdeführers nach § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung zur Wiederaufnahme des bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens wurde am 4. Mai 2011 vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf als unzulässig abgewiesen (Aktenzeichen 7 Sa 1427/10). Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision gegen die Entscheidung am 22. November 2012 zurück (Aktenzeichen 2 AZR 570/11). Zur Begründung führte es aus, dass der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung gemäß § 35 des Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung  nicht auf Verfahren anzuwenden sei, die vor dem 31. Dezember 2006 in Deutschland rechtskräftig abgeschlossen wurden. Die Auslegung der Übergangsvorschrift ergebe, dass nicht an den Zeitpunkt des EGMR-Urteils angeknüpft werde. Diese Auslegung verstoße weder gegen das Grundgesetz noch gegen die EMRK, da  es kein zwingendes Erfordernis gebe, die Rechtskraft von konventionswidrigen Zivilurteilen im Ausgangsverfahren zu beseitigen.

Die abschließende Resolution des Ministerkomitees des Europarates steht noch aus. Deutschland hat am 11.07.2013 einen Abschlussbericht vorgelegt (DH-DD(2013)802E). Darin führt die Bundesregierung aus, dass die ausgeurteilte Entschädigung überwiesen worden sei, und berichtet von der Unzulässigkeit des Restitutionsverfahrens.
Ferner habe die Bundesregierung den Justizministerien der Länder eine deutsche Übersetzung des Urteils zugestellt, die Übersetzung auf der Website des Bundesjustizministeriums veröffentlicht (www.bmj.de/egmr) und in Fachzeitschriften veröffentlichen lassen. Das Urteil sei zudem in den öffentlich zugänglichen "Bericht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Umsetzung seiner Urteile in Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland"  aufgenommen worden.
Die Bundesregierung hält weitere allgemeine Maßnahmen nicht für erforderlich.

Entscheidung im Volltext:

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