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Beschwerde-Nr. 140/10

EGMR, Urteil vom 04.09.2014, Beschwerde-Nr. 140/10, Trabelsi gegen Belgien

1. Sachverhalt

Nizar Trabelsi (N. T.), wurde 2003 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, unter anderem wegen eines versuchten Sprengstoffanschlags. Noch während der Verbüßungszeit wurde er in den USA wegen mutmaßlicher Al-Qaida-Mitgliedschaft und der Vorbereitung von Anschlägen auf US-Einrichtungen angeklagt. 2008 beantragten die USA bei den belgischen Behörden die Auslieferung von N. T. In den USA drohte ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Im November 2008 erklärte das erstinstanzliche Gericht den Haftbefehl für vollstreckbar. Diese Entscheidung bestätigte in der letzten Instanz der Kassationshof am 24.06.2009. Daraufhin legte N. T. 2009 Beschwerde beim EGMR ein.

Der_die belgische Justizminister_in gestattete in einem Dekret vom 23.11.2011 die Auslieferung von N. T. an die USA, nachdem die US-Behörden ihn in einer diplomatischen Note vom 10.08.2010 informiert hatten, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe gegebenenfalls von der_dem Präsident_in der USA auf dem Gnadenweg herabgesetzt werden könne.

Daraufhin beantragte N. T. beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Artikel 39 der Verfahrensordnung (VerfO). Noch am selben Tag empfahl der EGMR der belgischen Regierung, ihn nicht an die USA auszuliefern. Die belgische Regierung beantragte vier Mal die Aufhebung der einstweiligen Anordnung, was der EGMR aber jedes Mal ablehnte, zuletzt am 18.06.2013. Die belgischen Behörden übergaben N. T. am 03.10.2013 der amerikanischen Justiz.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

2009 legte N. T. Beschwerde vor dem EGMR ein. Er berief sich darin insbesondere auf Artikel 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe) und Artikel 34 EMRK (Individualbeschwerderecht). Durch die Auslieferung an die USA drohe ihm die Verhängung einer nicht herabsetzbaren lebenslangen Freiheitsstrafe, was mit Artikel 3 unvereinbar sei. Darüber hinaus verstoße die Auslieferung an die USA gegen die vom EGMR nach Artikel 39 VerfO verhängte einstweilige Anordnung und damit werde die Ausübung seiner durch Artikel 34 EMRK garantierten Rechte behindert.

Die belgische Regierung, gegen die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück. Die Beschwerde sei im Jahr 2009, also vor Abschluss des Verfahrens über die Beantwortung des Auslieferungsersuchens, erhoben worden und damit verfrüht.

Zur Verletzung des Individualbeschwerderechts nach Artikel 34 erklärte die belgische Regierung, die einstweilige Anordnung sei voreilig gewesen.. Darüber hinaus hätten die Behörden zwar der einstweiligen Anordnung zuwider gehandelt. Dies sei jedoch gerechtfertigt gewesen, da die US-Behörden zugesichert hätten, dass N. T. keiner gegen die EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen werde. Des Weiteren habe die Übergabe an die US-Behörden erfolgen müssen, angesichts der Gefahr seiner Flucht oder einer gerichtlichen Entscheidung, ihn freizulassen.

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR stellte fest, dass die Auslieferung von N. T. an die USA Artikel 3 EMRK verletzt. Darüber hinaus sieht er Artikel 34 als verletzt an, da die belgische Regierung N. T. die Ausübung seines Rechts auf Individualbeschwerde erschwert hat.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Artikel 3 (Rz. 85 ff)

Zu dem Argument der Regierung, N. T. habe den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft, erklärte der EGMR, dass N. T. sich in seiner Beschwerde auf die letztinstanzliche Entscheidung des Kassationshofs von 2009 bezogen hat, die nicht mehr anfechtbar war. N.T. hatte vorgetragen, dass die Vollstreckung des Haftbefehls wegen der Gefahr, dass eine nicht herabsetzbare lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden könnte, aus Sicht des Artikels 3 problematisch sei. Dies war für den EGMR ausreichend um festzustellen, dass die Beschwerde nicht verfrüht von N. T. erhoben worden war und somit die Einrede der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückgewiesen werden muss.

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 3 (Rz. 110)

Zur Begründung der Verletzung von Artikel 3 erinnerte der EGMR an in seiner Rechtsprechung entwickelte Grundsätze zur lebenslangen Freiheitsstrafe: Die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe über eine_n erwachsene_n Straftäter_in ist als solche mit Artikel 3 EMRK vereinbar. Artikel 3 steht auch nicht einer vollen Verbüßung lebenslanger Freiheitsstrafen entgegen. Einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention stellt erst eine "nicht reduzierbare" lebenslange Freiheitsstrafe dar, bei der es keine Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung gibt. Unter Verweis auf sein Urteil "Vinter und Andere gegen Vereinigtes Königreich"/typo3/ (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10) konkretisierte der EGMR, dass eine Möglichkeit der Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe durch die nationalen Behörden dahingehend bestehen muss, ob sich der_die Gefangene während der Haft gebessert hat, sodass eine fortgesetzte Freiheitsentziehung nicht länger mit legitimen Strafzwecken gerechtfertigt werden kann. Darüber hinaus betonte der EGMR, dass dem_der zu lebenslanger Haft verurteilten Gefangenen schon bei Verhängung der Strafe bekannt sein muss, was er_sie tun muss, um für eine vorzeitige Entlassung in Betracht gezogen zu werden und unter welchen Bedingungen diese erfolgen kann. Daher ergibt sich die Unvereinbarkeit mit Artikel 3 EMRK, wenn das innerstaatliche Recht keine entsprechende Prüfmöglichkeit vorsieht.  

Aus der gefestigten Rechtsprechung zu Artikel 3 ergibt sich darüber hinaus, dass die Auslieferung einer Person durch einen Konventionsstaat die Verantwortlichkeit dieses Staates begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Person im Fall ihrer Auslieferung die reale Gefahr droht, im Empfangsstaat einer Artikel 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterzogen zu werden.

Der EGMR bezog sich auf die Vorschriften in den USA über die Möglichkeiten einer Herabsetzung lebenslanger Freiheitsstrafen und über Begnadigungen durch die_den Präsident_in und stellte fest, dass diese mit Artikel 3 nicht vereinbar sind: Die US-Behörden seien nicht verpflichtet, anhand objektiver, vorab festgelegter Kriterien festzustellen, ob sich der_die Gefangene während der Haft derart geändert habe, dass die fortgesetzte Inhaftierung nicht länger mit legitimen Strafzwecken gerechtfertigt werden könne. Die rein theoretische Möglichkeit, dass die_der Präsident_in die Strafe in den USA reduziert, ist nicht ausreichend und daher ist die lebenslange Freiheitsstrafe, die N. T. droht, als nicht herabsetzbar zu klassifizieren.

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 34 (Rz. 140)

Der EGMR befand, dass die Argumente der belgischen Regierung die Missachtung der vorläufigen Maßnahme (der einstweiligen Anordnung, N. T. nicht auszuliefern) nicht rechtfertigen konnten.

Ein Staat ist nicht berechtigt, eine eigene Beurteilung der diplomatischen Zusicherungen und der Berechtigung einer Beschwerde durchzuführen und zu beschließen, die vom EGMR empfohlene Maßnahme zu missachten.

Der EGMR merkte auch an, dass N. T. in den USA in Einzelhaft mit sehr eingeschränktem Kontakt zu Außenwelt gehalten wurde. Ihm war es nicht möglich, mit seinem Rechtsbeistand vor dem EGMR direkt in Kontakt zu treten. Damit wurde die Ausübung der durch Artikel 34 EMRK garantierten Rechte behindert, was eine Verletzung von Artikel 34 darstellt.  

Entschädigung

Der EGMR sprach N. T. Schmerzensgeld in Höhe von 60.000 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:


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