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Mitteilung Nr. 6/2005

EGMR, Auffassungen des CEDAW-Fachausschusses vom 06.08.2007, Mitteilung Nr. 6/2005, Fatma Yildirim (verstorben) gegen Österreich

1. Sachverhalt

Fatma Yildirim (F. Y.) war seit 2001 mit Irfan Yildirim (I. Y.) verheiratet. Aus erster Ehe hatte sie zwei erwachsene Kinder und eine fünfjährige Tochter, M. Ö., die bei ihnen lebte. Im Juli 2003 bedrohte I. Y. seine Frau erstmals, sie und ihre Kinder zu töten, wenn sie die Scheidung einreiche. Seine Aufenthaltserlaubnis in Österreich hing vom Fortbestand der Ehe ab.
Aus Angst zog F. Y. mit ihrer kleinen Tochter Anfang August zu ihrer ältesten Tochter. Als sie in die vermeintlich leere Ehewohnung zurückkehrte, um einige ihrer Sachen abzuholen, griff ihr Mann sie an und drohte erneut, sie zu töten. F. Y. zeigte den Vorfall bei der Polizei an. Diese erließ eine Wohnungsverweisung mit Betretungsverbot gegen I. Y., informierte ein Schutzzentrum gegen häusliche Gewalt (späterer Beschwerdeführer) und beantragte bei der Staatsanwaltschaft die Festnahme von I. Y.. Die Staatsanwaltschaft lehnte diese ab.
Wenige Tage später beantragte F. Y. eine einstweilige Verfügung gegen I. Y. In den folgenden vier Tagen suchte er sie mehrfach an ihrem Arbeitsplatz auf und rief sie auf ihrem Mobiltelefon an, um sie zu beschimpfen und sie und ihre Kinder mit dem Tode zu bedrohen. F. Y. zeigte jeden Vorfall bei der Polizei an und wechselte ihre Telefonnummer. Die Polizei suchte mehrfach telefonisch und persönlich das Gespräch mit I. Y., traf aber keine weiteren Maßnahmen. F. Y. sagte bei der Polizei aus und stellte Strafantrag. Das Schutzzentrum gegen häusliche Gewalt bat die Polizei um mehr Aufmerksamkeit für den Fall. Daraufhin beantragte die Polizei erneut die Festnahme von I. Y., was die Staatsanwaltschaft ablehnte.    
Ende August 2003 reichte F. Y. die Scheidung ein. Daraufhin erließ ein Gericht Anfang September eine Wohnungsverweisung, ein Betretungsverbot für Wohnung nebst Umgebung und den Arbeitsplatz sowie ein Kontaktverbot mit F. Y. bis zum Ende des Scheidungsverfahrens und ein befristetes Kontaktverbot mit der Tochter.
Am 11. September verfolgte I. Y. seine Frau auf dem Heimweg von der Arbeit und erstach sie in der Nähe ihrer Wohnung. Wenige Tage später wurde er bei einem Ausreiseversuch festgenommen und wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
M. Ö., vertreten durch ihren leiblichen Vater, erhob Amtshaftungsklage auf Schadenersatz und Schmerzensgeld gegen den österreichischen Staat. Die Klage wurde im Jahr 2006, also erst nach Einlegung der Beschwerde vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention, rechtskräftig abgewiesen.

2. Verfahren vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention

Zwei österreichische Nichtregierungsorganisationen legten 2004 mit Zustimmung der erwachsenen Kinder und des Vaters der minderjährigen Tochter von F. Y. vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention im Namen ihrer verstorbenen Mutter Beschwerde ein. Sie stützten sich dabei auf Artikel 1, 2, 3 und 5 der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) sowie auf die Verpflichtungen aus den Allgemeinen Empfehlungen Nrn. 12 (Gewalt gegen Frauen, 1989), 19 (Gewalt gegen Frauen, 1992) und 21 (Gleichheit in Ehe und Familienbeziehungen, 1994) des Fachausschusses.
Österreich habe unterlassen, alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, um das Recht von F. Y. auf Leben und persönliche Sicherheit zu schützen. Insbesondere habe die mangelhafte Kommunikation zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft dazu geführt, dass die Staatsanwaltschaft die Gefährlichkeit von I. Y. nicht habe richtig einschätzen können. Die Staatsanwaltschaft hätte bei der gegebenen Sachlage beide Male beim Ermittlungsrichter die Festnahme von I. Y. beantragen müssen.
Artikel 1 CEDAW sei insbesondere verletzt, da Frauen häufiger als Männer davon betroffen seien, dass häusliche Gewalt durch die Staatsanwaltschaft nicht ernsthaft genug untersucht werde, dass die Staatsanwaltschaft häusliche Gewalt nicht als ernst zu nehmende Lebensbedrohung sehe und deshalb mutmaßliche Täter nicht schon prinzipiell festnehmen lasse. Frauen seien unverhältnismäßig von der behördlichen Praxis betroffen, Täter häuslicher Gewalt nicht angemessen zu verfolgen und zu bestrafen. Außerdem seien Frauen stärker von der mangelnden Koordination zwischen Exekutiv- und Justizbeamten und -beamtinnen, ihrer fehlenden Ausbildung im Bereich häusliche Gewalt, der mangelnden Datenerfassung und dem Fehlen einschlägiger Statistiken betroffen.
Artikel 1 in Verbindung mit Artikeln 2 (a), (c), (d) und (f) sowie 3 CEDAW seien verletzt, da die  genannten Mängel zu Ungleichbehandlung in der Praxis führten. F. Y. sei die Ausübung ihrer Rechte dadurch vorenthalten worden.
Eine Verletzung des Artikels 1 in Verbindung mit Artikel 2 (e) CEDAW liege vor, da die österreichische Strafgerichtsbarkeit die Taten nicht mit der gebotenen Sorgfalt untersucht und verfolgt habe und damit die Rechte von F. Y. auf Leben und persönliche Sicherheit nicht geschützt habe.
Eine Verletzung des Artikels 1 in Verbindung mit Artikel 5 CEDAW liege vor, da der Fall beispielhaft für den Mangel ernsthafter Behandlung häuslicher Gewalt in Öffentlichkeit und Behörden sei. Insbesondere Staatsanwälte und Richter betrachteten Gewalt gegen Frauen als soziales oder familiäres Problem, als minder schwere Vergehen oder bloße Übertretungen in bestimmten sozialen Schichten. Sie würden das Strafrecht nicht anwenden, da sie Gefahr, Angst und Sorgen der betroffenen Frauen nicht ernst nähmen.
Ferner verwiesen die beschwerdeführenden Organisationen auf Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Artikel 6 und 9 des UN-Zivilpaktes.

Die österreichische Regierung wies die Beschwerde als unzulässig und unbegründet zurück.
F. Y. und ihre Erbinnen und Erben hätten es versäumt, den innerstaatlichen Rechtsweg auszuschöpfen. Zum einen hätte M. Ö. die Entscheidung in der verwaltungsgerichtlichen Amtshaftungsklage abwarten müssen; nach deren Scheitern hätte sie zivilrechtliche Schadenersatzansprüche geltend machen können. F. Y. oder ihre Erbinnen und Erben hätten zudem die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes rügen müssen, das kein Beschwerderecht bei verweigerter Festnahme vorsehe.
Die Beschwerde sei unbegründet, da die Rechte von F. Y. unter CEDAW nicht verletzt worden seien. Österreich verfüge über einen angemessenen rechtlichen und institutionellen Rahmen, um effektiven Schutz vor häuslicher Gewalt zu gewährleisten. Die Festnahme dürfe im Sinne der Verhältnismäßigkeit nur das letzte Mittel sein. Der Staatsanwalt habe vor dem Hintergrund der Ereignisse eine vertretbare Gefahrenprognose und damit eine zu rechtfertigende Abwägung zwischen dem Recht von F. Y. auf Leben und körperliche Unversehrtheit und dem Recht von I. Y. auf persönliche Freiheit getroffen.

3. Entscheidung des Fachausschusses zur UN-Frauenrechtskonvention

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 1 in Verbindung mit Artikeln 2 (a) bis (f) und 3 CEDAW in Verbindung mit der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 (Gewalt gegen Frauen) fest, da Österreich das Recht von F. Y. auf Leben sowie körperliche und seelische Gesundheit nicht effektiv geschützt habe.

3.1 Staatenverpflichtung gegenüber Privatpersonen unter Artikel 1 in Verbindung mit Artikeln 2 (a) bis (f) und 3 CEDAW (Rz. 12.1.1)

Der Ausschuss betont zunächst, dass ein Mitgliedstaat unter gewissen Voraussetzungen auch für Gewalttaten verantwortlich gemacht werden könne, die durch Privatpersonen begangen werden. Dies gehe aus der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 hervor, wonach "... Diskriminierung gemäß der Konvention nicht auf Handlungen durch oder im Namen von Regierungen beschränkt ist" und "(g)emäß allgemeinem Völkerrecht und Menschenrechtsverträgen Staaten auch für private Handlungen verantwortlich sein können, wenn sie es unterlassen, mit gebührender Sorgfalt zu handeln, um Verletzungen von Rechten zu verhindern oder Gewaltakte zu untersuchen und zu bestrafen, sowie Entschädigung zu leisten".
Für solche Pflichtverletzungen sei eine Haftung auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Staat – wie hier – den Täter häuslicher Gewalt anschließend ordnungsgemäß verfolgt und bestraft.
Der Fachausschuss stellt fest, dass ein staatlich geschaffenes Schutzsystem gegen häusliche Gewalt auch angemessen angewendet werden müsse. Österreich verfüge zwar über umfassende  Gesetzgebung (straf- und zivilrechtliche Rechtsbehelfe) und staatliche Einrichtungen gegen häusliche Gewalt, die Bewusstseinsbildung, Ausbildung und Schulung, Frauenhäuser, Beratung für Gewaltopfer und Arbeit mit Tätern beinhalten.

Verletzung der Pflicht zur Rechtsanwendung
Im Einzelfall sei allerdings notwendig, dass dieser politische Wille auch bei der Anwendung durch Staatsorgane umgesetzt werde. Gemessen daran hätten die österreichischen Behörden ihre Verpflichtungen und auch die Rechte von F. Y. auf Leben und körperliche und seelische Unversehrtheit verletzt, weil sie dieses System nicht ausreichend umgesetzt hätten.

Kenntnis von der schweren Gefahr für Leib und Leben
In Anbetracht der Gesamtumstände habe die Polizei Kenntnis von der Gefahr für Leib und Leben von F. Y. gehabt oder haben müssen. Die Kette der Geschehnisse sei nicht umstritten gewesen. Insbesondere stehe fest, dass I. Y. trotz eines umfassenden Kontakt- und Betretungsverbotes und regelmäßigen Einschreitens der Polizei unzählige Male Kontakt zu F. Y. aufnahm und sie bedrohte.  F. Y. habe zudem aus eigenem Antrieb entschlossene Schritte unternommen, um ihr Leben zu retten und den Kontakt zu I. Y. zu lockern. Hierzu zählt der Fachausschuss, dass sie aus der Wohnung auszog, ständigen Kontakt zur Polizei aufnahm, einstweilige Verfügungen anstrebte und Strafantrag gegen I. Y. stellte.

Versäumnis, angemessene Maßnahmen zu ergreifen
Der Ausschuss schließt aus dem Sachverhalt, dass sich F. Y. in einer sehr schwerwiegenden Gefahrensituation befunden habe. Deshalb hätte der Staatsanwalt I. Y. festnehmen lassen und einen Haftbefehl beantragen müssen. Der Fachausschuss betont, dass I. Y. bei einer Scheidung viel zu verlieren gehabt hätte – unter anderem sein Aufenthaltsrecht – und dass diese Tatsache das Potenzial hatte, das Ausmaß seiner Gefährlichkeit zu beeinflussen.
Der Ausschuss erachtet demnach das Absehen von der Verhängung der Untersuchungshaft als Verletzung der gebührenden Sorgfaltspflicht des Staats, F. Y. zu schützen. Wenn auch im Einzelfall geprüft werden müsse, ob die Untersuchungshaft einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte des Täters auf persönliche Freiheit und auf ein faires Verfahren darstellt, könnten diese Rechte des Täters die Rechte von Frauen auf Leben und auf körperliche und seelische Unversehrtheit nicht verdrängen (siehe schon "A. T. gegen Ungarn", Mitteilung Nr. 2/2003).

3.2 Empfehlungen des Fachausschusses (Rz. 12.3)

Der Fachausschuss traf folgende Empfehlungen in Hinblick auf Österreich:
(a) verstärkte Umsetzung und Überprüfung der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes und damit zusammenhängender Strafgesetze,
(b) strenge, umgehende strafrechtliche Verfolgung von Tätern im Bereich häuslicher Gewalt zu general- und spezialpräventiven Zwecken; Ausschöpfen straf- und zivilrechtlicher Möglichkeiten bei gefährlicher Bedrohung für das Opfer; hinreichende Berücksichtigung der Sicherheit der betroffenen Frauen bei allen Schutzmaßnahmen,
(c) verbesserte Koordination zwischen Exekutiv- und Justizbeamten beziehungsweise -beamtinnen; routinemäßige Kooperation aller Bereiche des Strafverfolgungssystems (Polizei, Staatsanwälte, Staatsanwältinnen, Richter, Richterinnen) mit spezialisierten Nichtregierungsorganisationen,
(d) Intensivierung von Schulungen und Ausbildung im Bereich häusliche Gewalt für Richter, Richterinnen, Anwälte, Anwältinnen, Exekutivbeamte und -beamtinnen, unter Einbeziehung von CEDAW und des Fakultativprotokolls sowie der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19.

Auffassungen im Volltext:

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