Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

Mitteilung Nr. 32/2011

CEDAW, Auffassungen vom 23.07.2011, Mitteilung Nr. 32/2011, Jallow gegen Bulgarien

1. Sachverhalt

Die gambische Staatsangehörige Isatou Jallow (I. J.) heiratete 2007 A. P., den bulgarischen Vater ihrer Tochter. Ende September 2008 holte A. P. sie und die Tochter nach Bulgarien. Die Tochter, M. A. P., erhielt die doppelte Staatsbürgerschaft; I. J. ist Analphabetin ohne weitere Schulbildung und ohne bulgarische Sprachkenntnisse und hatte zunächst keine eigene Aufenthaltsgenehmigung. In Bulgarien wurden sie und ihre Tochter Opfer körperlicher, seelischer und sexueller Übergriffe durch A. P. I. J. war wirtschaftlich von ihm abhängig; zudem drohte er ihr, Einfluss auf ihren Verbleib im Land und auf das Umgangsrecht mit ihrer Tochter zu nehmen. I. J. suchte mehrfach Schutz und Hilfe staatlicher Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen.

Als Sozialarbeiterinnen und -arbeiter des Jugendamts im November 2008 von der Gewalt gegen I. J. und M. A. P. erfuhren und in der Wohnung Pornografie vorfanden, riefen sie die Polizei, die umgehend die Bilder beschlagnahmte und die Staatsanwaltschaft informierte. Polizei und Jugendamt wiesen I. J. an, sich von A. P. fernzuhalten, boten ihr aber trotz der Gewaltvorfälle und ihrer verletzlichen Situation keine weitere Unterstützung an. I. J. rief mehrfach die Polizei, erstattete aber keine Anzeige und beantragte aus Unkenntnis der Rechtslage keine Schutzanordnung. Die Polizei beließ es bei mündlichen Warnungen gegen A. P. Zwei Mal zog I. J. mit ihrer Tochter in eine Unterstützungseinrichtung für Opfer häuslicher Gewalt, verließ diese aber, sobald ihr Ehemann sie gefunden hatte. Im März 2009 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen A. P. wegen Pornografiebesitz aus Mangel an Beweisen ein, ohne I. J. zu befragen. Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt fanden nicht statt.

Im Juli 2009 erhielt I. J. eine eigene Aufenthaltsgenehmigung und wollte die Scheidung. A. P. lehnte dies ab und erwirkte stattdessen eine einstweilige Schutzanordnung mit umfassender Kontaktsperre gegen I. J. In zwei Anträgen hatte er behauptet, dass er und M. A. P. Opfer häuslicher Gewalt geworden seien, und ein medizinisches Attest sowie ein "Beweisfoto" des Rückens eines deutlich älteren Kindes vorgelegt. Das Gericht entschied allein aufgrund der Aussage von A. P., dass eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben für A. P. und M. A. P. vorliege. I. J. wurde der gemeinsamen Wohnung verwiesen, der sie sich bis zum Abschluss des Hauptverfahrens nicht nähern durfte. I. J. wurde in dem Verfahren nicht angehört, die Gerichtsentscheidung wurde ihr nicht übersetzt und es stand ihr kein Rechtsmittel zur Verfügung. A. P. brachte die Tochter an einen unbekannten Ort. Versuche von I. J., bei Polizei, Jugendamt und Staatsanwaltschaft etwas über den Aufenthaltsort von M. A. P. zu erfahren, wurden entweder ignoriert oder mit dem Hinweis auf die einstweilige Verfügung abgelehnt. Mehrere Monate lang wurde es I. J. verweigert, etwas über die Lebensumstände der Zweijährigen zu erfahren.

Im Hauptverfahren wurde im September 2009 die einstweilige Schutzanordnung des Ehemannes aufgehoben, nachdem I. J., übersetzt durch einen Dolmetscher, auf die häusliche Gewalt gegen sie und den Bericht des Jugendamts verwiesen hatte. Bis zur Zurückweisung des Rechtsmittels von A. P. Ende Dezember 2009 wurde I. J. aber weiterhin vom Umgang mit M. A. P. ausgeschlossen. A. P. reichte die Scheidung ein und beantragte das alleinige Sorgerecht. Im Januar 2010 beantragte I. J. eine einstweilige Zuweisung des Sorgerechts für ihre Tochter. Nach einem erneuten Gewaltvorfall im Februar 2010, bei dem A. P. seine Frau vor den Augen der weinenden Tochter schlug, ging I. J. zum Arzt, konnte aber die Kosten für ein Attest nicht bezahlen. Im Scheidungsverfahren drängte das Gericht auf einen Vergleich. Nach der Anhörung kontrollierten Beamte der Einwanderungsbehörden Wohnsitz und Arbeitsverhältnis von I. J. Im März 2010 wurde die Ehe im beiderseitigen Einverständnis geschieden; I. J. erhielt das alleinige Sorgerecht. Sie unterwarf sich fast allen ungünstigen Bedingungen, die A. P. stellte, weil sie dies als einzige Lösung sah, um das Sorgerecht für M. A. P. wiederzuerlangen.

2. Verfahren vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention

I. J. legte 2010 im eigenen Namen und im Namen von M. A. P. Beschwerde vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention ein. Sie stützte sich dabei auf die Artikel 1, 2, 3, 5 und 16 Absatz 1 (c), (d), (f) und (g) der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) und brachte vor, dass der bulgarische Staat sie nicht gegen häusliche Gewalt geschützt habe. Die bulgarischen Behörden betrachteten häusliche Gewalt nicht als ernst zu nehmende Bedrohung und sähen keine effektiven Maßnahmen vor, um geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Ferner sei sie zum einem aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert worden, zum anderen habe sie als Analphabetin und Migrantin, die der bulgarischen Sprache nicht mächtig ist, keinen ausreichenden Zugang zu Rechtsbehelfen, notwendigen Einrichtungen und Dienstleistungen gehabt.

Die Regierung Bulgariens wies die Beschwerde zurück. Diese sei unzulässig, da I. J. den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft habe. Sie verwies unter anderem auf Rechtsbehelfe im Straf- und Antidiskriminierungsrecht, die I. J. offengestanden hätten.
Die Beschwerde sei ferner unbegründet, da kein Verstoß gegen CEDAW vorliege. Die Behörden hätten im Rahmen der geltenden Gesetze und ihrer Zuständigkeiten gehandelt und I. J. die notwendige Unterstützung gewährt. Ferner habe Bulgarien zahlreiche Maßnahmen gegen häusliche Gewalt ergriffen.

3. Entscheidung des Fachausschusses zur UN-Frauenrechtskonvention

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 2 (b) bis (f) in Verbindung mit den Artikeln 1 und 3 sowie von Artikel 5 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 16 Absatz 1 (c), (d) und (f) CEDAW fest, da die Behörden I. J. in ihrer verletzlichen Position nicht angemessen gegen häusliche Gewalt geschützt hätten. Die vom Jugendamt weitergeleiteten Vorwürfe häuslicher Gewalt seien nicht zeitnah und hinreichend ermittelt worden. Der Staat habe sich bei der einstweiligen Schutzanordnung allein auf das Wort von A. P. gestützt. Die Gerichte hätten auch nach der Zurückweisung des Antrags auf eine dauerhafte Anordnung und trotz der verletzlichen Situation von I. J. (als des Lesens und Schreibens unkundiger Migrantin mit kleiner Tochter und ohne Sprachkenntnisse) die Kontaktsperre nicht außer Kraft gesetzt. I. J. und M. A. P. seien zudem Opfer geschlechtsbezogener Diskriminierung geworden, da der Staat die Gleichheit der Rechte von Frauen in der Ehe verletzt habe, indem die Gerichte die Anordnung gegen I. J. erlassen und aufrechterhalten hätten, ohne die gegen sie gerichtete Gewalt zu berücksichtigen.

3.1 Zulässigkeit: Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für zulässig. Die Beschwerdeführerin habe den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft, da Bulgarien keine ausreichenden Informationen über die angeblich existierenden Rechtsbehelfe übermittelt habe. Der Ausschuss betonte, dass es allein auf die Rechtsbehelfe ankomme, die geeignet gewesen seien, Abhilfe gegen die erlittenen Verletzungen und effektiven Schutz vor häuslicher Gewalt zu erreichen. Es sei in Anbetracht der Beschwerdegegenstände "Häusliche Gewalt" und "Kindesschutz" unwahrscheinlich, dass weitere straf- oder verwaltungsrechtliche Verfahren effektiv hätten Abhilfe schaffen können.

3.2 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung, in Fällen häuslicher Gewalt angemessenen und zeitnah zu ermitteln (Rz. 8.2 ff.)

Der Fachausschuss stellte fest, dass das Versäumnis der Behörden, die Vorwürfe wegen häuslicher Gewalt gegen I. J. und M. A. P. effektiv, vollständig und zeitnah zu ermitteln, gegen Artikel 2 (d) und (e) in Verbindung mit den Artikeln 1 und 3 CEDAW verstoße. Die Behörden hätten sich trotz des Wissens um die Verletzlichkeit von I. J. auf Ermittlungen wegen Pornografiebesitzes beschränkt, I. J. nur aufgefordert, ihren Mann zu meiden, und sie nicht einmal befragt. Obwohl der Jugendamtsleiter berechtigt dazu gewesen wäre, habe er keine Ermittlungen oder Verfahren gegen A. P. eingeleitet. Unter Rückgriff auf die Allgemeinen Empfehlungen Nr. 19 und 28 sowie seine Auffassungen in "Goekce gegen Österreich" (Mitteilung Nr. 5/2005) und "Yildirim gegen Österreich" (Mitteilung Nr. 6/2005) betonte der Fachausschuss, dass der Begriff der Diskriminierung in Artikel 1 CEDAW auch geschlechtsbezogene Gewalt erfasse und dass Staaten für die Handlungen von Privatpersonen verantwortlich gemacht werden könnten, wenn sie ihre Sorgfaltspflichten nicht erfüllten. Dazu gehöre die Vorbeugung von Rechtsverletzungen und die Ermittlung und Bestrafung von Gewalttaten sowie die aktive Reaktion bei Diskriminierung von Frauen.

Der Ausschuss stellte fest, dass weder zum Zeitpunkt des - Polizei und Jugendamt bekannten - Vorfalls vom November 2008 noch anlässlich des von A. P. angestrengten Verfahrens wegen häuslicher Gewalt die Vorwürfe von I. J. gegen A. P. angemessen und rechtzeitig ermittelt worden seien.

3.3 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung, besonders verletzliche Personen - insbesondere Migrantinnen in Abhängigkeitsverhältnissen - gegen häusliche Gewalt zu schützen (Rz. 8.5)

In der Aufrechterhaltung der Schutzanordnung gegen I. J. im Rechtsmittelverfahren sah der Fachausschuss eine Verletzung von Artikel 2 (b) und (c) in Verbindung mit den Artikeln 1 und 3 CEDAW, da I. J. und M. A. P. sich in einer besonders verletzlichen Position befunden hätten. I. J. sei eine von ihrem Ehemann wirtschaftlich abhängige Frau, Analphabetin und Migrantin ohne Sprachkenntnisse oder Verwandte in Bulgarien gewesen. Trotzdem seien I. J. und M. A. P. in einem vom Scheidungsverfahren getrennten einstweiligen Verfügungsverfahren, das eine einstweilige Regelung des Sorgerechts beinhaltete, zwangsweise voneinander getrennt worden. Dabei habe sich das Gericht einseitig nur auf die Aussage von A. P. bezogen und habe die früheren Vorwürfe gegen ihn und die mehrfachen Hilferufe von I. J. an die Polizei nicht einbezogen und sei von den zuständigen Behörden trotz deren Kenntnis auch nicht darauf hingewiesen worden. Das erstinstanzliche Verfahren habe fünf Monate gedauert. Die einstweilige Schutzanordnung sei trotz des Unterliegens von A. P. nicht widerrufen worden, ohne dass der bulgarische Staat dieses Vorgehen oder die Länge des Rechtsmittelverfahrens erklären könne. I. J. habe keine Informationen über den Aufenthaltsort ihrer Tochter und keine Übersetzung erhalten können.
Diese Umstände stellten gemeinsam eine Verletzung der staatlichen Schutzverpflichtung dar.

3.4 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung zur Abschaffung von geschlechtsspezifischen Stereotypen und Diskriminierungsverbot im Rahmen von Ehe und Familie

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 5 (a) in Verbindung mit Artikel 16 Absatz 1 (c), (d) und (f) CEDAW und den Allgemeinen Empfehlungen Nr. 19 und Nr. 21 fest, da Bulgarien das Recht von I. J. als Elternteil und auf Gleichheit in der Ehe nicht geschützt und das Kindeswohl von M. A. P. nicht als wichtigstes Interesse eingeordnet habe. Die Behörden und Gerichte hätten die von I. J. erhobenen Vorwürfe nicht gebührend überprüft und nicht festgestellt, dass eigentlich I. J. und M. A. P. schutzbedürftig gewesen seien. Ferner sei die einstweilige Schutzanordnung nicht widerrufen worden, obwohl das Gericht eine dauerhafte Verfügung zurückgewiesen hatte.

Dieses Verhalten der staatlichen Behörden, inklusive des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zugunsten von A. P., beruhe auf Stereotypen hinsichtlich der Rolle von Mann und Frau in der Ehe. Männer würden dabei traditionell als höherrangig wahrgenommen; ihre Aussagen müssten ernst genommen werden. Dadurch hätten sich die Behörden allein auf die Aussage von A. P. gestützt, die von I. J. zuvor erhobenen Gewaltvorwürfe vernachlässigt, ihre verletzliche Position und Abhängigkeit ignoriert und Beweise für das unverhältnismäßige Betroffensein bulgarischer Frauen von häuslicher Gewalt ausgeblendet. Zudem seien I. J. und ihre Tochter acht Monate lang ohne Umgangs- und Besuchsrecht und ohne Information über die Betreuung, die M. A. P. erhielt, voneinander getrennt gewesen.

3.5 Empfehlungen des Fachausschusses (Rz. 8.8)

Der Fachausschuss empfahl, I. J. und ihrer Tochter eine der Schwere der Verletzung angemessene Entschädigung zu zahlen.

Allgemein empfahl er:
(a) Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Betroffene von häuslicher Gewalt - besonders Migrantinnen - effektiven Zugang zu Gerichten, Dienstleistungen (darunter auch die Übersetzung von Dokumenten) und zu Schutzmaßnahmen gegen häusliche Gewalt hätten; sicherzustellen, dass die Rechtsanwendung im Einklang mit CEDAW erfolge;
(b) gesetzliche und andere erforderliche Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass Gewaltvorfälle bei der Entscheidung über Sorge- und Umgangsrecht Berücksichtigung fänden und die Rechte und die Sicherheit von Betroffenen und ihren Kindern nicht gefährdet würden;
(c) angemessene, regelmäßige und geschlechtersensible Aus- und Fortbildungen im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt für Rechtsprechende, Anwältinnen und Anwälte, Mitarbeitende des Jugendamts sowie Sicherheitskräfte mit besonderem Augenmerk auf multiple Diskriminierung sicherzustellen.

Entscheidung im Volltext:

Zum Seitenanfang springen