Mitteilung Nr. 31/2011
CEDAW, Auffassungen vom 12.10.2012, Mitteilung Nr. 31/2011, S. V. P. gegen Bulgarien
1. Sachverhalt
Die Siebenjährige V. P. P. wurde 2004 in Bulgarien Opfer eines schweren sexuellen Übergriffs durch B. G., einem im Nachbarhaus lebenden Mann. Ihre Mutter, S. V. P., erstattete umgehend Anzeige bei der Polizei. Infolge des Übergriffs leidet V. P. P. an dauerhaften seelischen Beeinträchtigungen und Entwicklungsverzögerungen, die als Behinderung eingestuft werden.
Die Staatsanwaltschaft erhob zwei Jahre nach der Anzeige Anklage gegen B. G. Nach einer Absprache im Strafverfahren wurde der geständige B. G. wegen sexueller Belästigung eines Kindes unter 14 Jahren zu drei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Absprache war nur möglich, da sexuelle Belästigung (damals) gesetzlich nicht als schwerwiegendes Verbrechen galt. S. V. P. beantragte die Anerkennung ihrer Tochter als Zivilklägerin und verlangte Schmerzensgeld. Dies lehnte das Gericht mit der Begründung ab, dass ein Adhäsionsverfahren infolge der Absprache ausgeschlossen sei. Nach bulgarischem Recht sei eine Verständigung nur unwirksam, wenn sie Schadensersatzansprüche wegen materieller Schäden ausschließe.
Im anschließenden zivilrechtlichen Verfahren wurde B. G. 2008 wegen erlittener Traumata, affektiver Psychosen, Hyperkinese und Konzentrationsstörungen zu Schmerzensgeldzahlungen in Höhe von 30.000 Leva (etwa 15.000 Euro) verurteilt. S. V. P. beantragte ordnungsgemäß die Vollstreckung bei einem privaten Gerichtsvollzieher, der alle vorgesehenen Schritte unternahm. Sie erlangte nur 1.000 Leva (etwa 500 Euro), musste aber die Kosten der privaten Vollstreckung in Höhe von mehr als 3.000 Leva (etwa 1.500 Euro) tragen. Staatliche Unterstützung bei der Vollstreckung bekam die Familie trotz mehrerer Anträge bei den Behörden nicht, da das bulgarische Recht dies nicht vorsah. B. G. lebte weiterhin im Nachbarhaus, ohne dass die Behörden Schutzmaßnahmen ergriffen, was V. P. P. permanent Angst einflößte.
2. Verfahren vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention
S. V. P. legte 2011 im Namen ihrer Tochter V. P. P. Beschwerde vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention ein. Sie stützte sich dabei auf die Artikel 1, 2 (a) bis (c) und (e) bis (g) in Verbindung mit den Artikeln 3, 5, 12 und 15 der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW).
Sie brachte unter anderem vor, dass Bulgarien es versäumt habe, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um V. P. P. gegen den sexuellen Übergriff und - nach dem Vorfall - vor dem Täter zu schützen.
Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 2 (a) bis (c) und (e) CEDAW sei verletzt worden, da Frauen und Mädchen in Bulgarien weit mehr von sexualisierter Gewalt betroffen seien als Männer. Gewalt gegen Frauen und Mädchen werde in Bulgarien nicht durch besondere Gesetze anerkannt. Das Fehlen spezieller gesetzlicher und administrativer Maßnahmen für Betroffene von sexualisierter Gewalt führe zu praktischer Ungleichheit und damit dazu, dass diese von ihren Rechten keinen Gebrauch machen könnten. Insbesondere gebe es auch bei schweren Folgen wie einer Behinderung keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsverfahren. Ferner verfüge das bulgarische Rechtssystem nicht über hinreichende Rechtsbehelfe in Hinblick auf Schadensersatzansprüche gegen die Täter. So decke das Entschädigungsgesetz für Opfer von Gewalterfahrungen immaterielle Schäden nicht ab; ein staatlicher Entschädigungsfonds für Betroffene von sexualisierter Gewalt, vor allem für Kinder, bestehe nicht. Bulgarien biete zudem keine angemessenen rechtlichen und administrativen Rehabilitationsmaßnahmen in den Bereichen Gesundheitsfürsorge und Bildung für Mädchen, die infolge sexualisierter Gewalt Behinderungen erfahren haben, und verletze damit deren Rechte auf Gesundheit und Bildung. Insbesondere herrsche Mangel an spezialisierten Einrichtungen, ausgebildetem Gesundheitspersonal, Psychologinnen und Psychologen, medizinischen und rechtlichen Beratungsstellen.
Artikel 2 (f) und (g) in Verbindung mit Artikel 5 CEDAW sei verletzt worden, da das bulgarische Recht tiefe ideologische Geschlechterstereotypen aufweise. So werde sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Ehrverletzung behandelt, mit milder Strafandrohung versehen und (nach damaligem Recht) als minder schwer eingeordnet. Es gebe keinen effektiven Rechtsbehelf für Schadensersatzansprüche. Das Gesetz sehe ferner einen Strafausschluss oder einen Ausschluss der Vollstreckung bei Eheschließung zwischen Täter und Opfer selbst bei Missbrauch und Vergewaltigung vor, wodurch der Täter gesetzlich belohnt und nicht bestraft werden würde.
Eine Verletzung von Artikel 12 CEDAW liege darin, dass der Staat keine ausreichenden, gut eingerichteten Gesundheitseinrichtungen und gesundheitliche Verfahren für Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt und Kindesmissbrauch bereitstelle. Obwohl bei V. P. P. sogar eine Behinderung infolge des Übergriffs festgestellt worden sei, habe sie keinen Zugang zu den angemessen spezialisierten Gesundheitseinrichtungen und Behandlungen erhalten. V. P. P. habe zudem die vom Staat zugesicherte Unterstützung nie erhalten.
Die Regierung Bulgariens wies die Beschwerde zurück. Sie sei unbegründet, da die Gerichte die geltenden Vorschriften eingehalten, B. G. wegen sexueller Belästigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und V. P. P. zivilrechtlich Schadensersatz zugesprochen hätten. Ferner habe Bulgarien inzwischen das Strafmaß für sexuelle Belästigung erhöht und den Tatbestand damit der schweren Kriminalität zugeordnet, wodurch Verständigungen nicht mehr möglich seien. Bulgarien verfüge über hinreichende gesetzliche und verwaltungstechnische Maßnahmen sowie Programme und Initiativen zum Schutze von Frauen und Mädchen vor (geschlechtsspezifischer) Gewalt. Weiterhin sei V. P. P. im Rahmen des Kinderschutzgesetzes von Behörden und in der Schule unterstützt worden. Eine Behandlung durch eine Spezialistin oder einen Spezialisten hätte die Familie wegen der schulpsychologischen Betreuung von V. P. P. abgelehnt. Zudem habe sich der Zustand von V. P. P. durch die psychologische Unterstützung auf einer Sonderschule stark verbessert; sie habe wieder Vertrauen zu sich selbst und im Umgang mit anderen gewonnen und ihre Ängste überwunden.
3. Entscheidung des Fachausschusses zur UN-Frauenrechtskonvention
Der Fachausschuss konstatierte eine Verletzung von Artikel 2 (a) bis (g) in Verbindung mit den Artikeln 3 und 5 Absatz 1 CEDAW; von Artikel 15 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 (c) und (e) sowie von Artikel 12 CEDAW und der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 (Gewalt gegen Frauen), da der Staat es versäumt habe, V. P. P. gegen die Folgen der von ihr erfahrenen sexualisierten Gewalt zu schützen. Insbesondere habe er ihr nicht die erforderlichen Entschädigungen und Rehabilitationsmaßnahmen zukommen lassen. Dies stelle eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar, da bulgarische Frauen und Mädchen weit stärker als Männer von sexualisierter Gewalt und dem staatlichen Versäumnis, diese ernst zu nehmen und Entschädigungen zu gewährleisten, betroffen seien.
3.1 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung zur Änderung oder Abschaffung geschlechtsspezifisch diskriminierender Normen, Praktiken und Gebräuche (Rz. 9.3 ff.)
Der Fachausschuss stellte fest, dass Bulgarien gegen seine Rechtsetzungspflicht aus Artikel 2 (b) verstoßen habe, Strafrechtsbestimmungen zu erlassen, die Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt angemessen unter Strafe stellten. Ferner habe der Staat bezüglich bestehender Normen gegen seine Rechtsanwendungspflicht verstoßen, da das Gericht B. G. nur wegen sexueller Belästigung und nicht wegen Vergewaltigung und nur zu einer deutlich unter dem Höchstmaß liegenden Strafe verurteilt habe. Ferner bestehe eine Verletzung von Artikel 2 (a), (f) und (g) CEDAW, da Bulgarien gegen seine Rechtsetzungspflicht verstoßen habe, gesetzliche Unterstützungs- und Schutzmaßnahmen für Betroffene zu erlassen.
Der Ausschuss betonte zunächst, dass Artikel 2 CEDAW die Staatenverpflichtung enthalte, Diskriminierung gegen Frauen und Mädchen allen Alters zu beseitigen. Dabei umfasse die Definition von Diskriminierung nach Artikel 1 CEDAW auch geschlechtsspezifische Gewalt, also Gewalt, die Frauen allein deshalb träfe, weil sie Frauen sind, oder die Frauen überproportional häufig beträfe. "Gewalt" schließe Taten ein, die körperliches, seelisches oder sexueller Leid verursachten, oder aber Drohung mit solchen Handlungen, Zwang oder andere Freiheitsberaubungen. Nach der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 und Artikel 2 (e) CEDAW treffe die Staaten eine Sorgfaltspflichtflicht zur Vermeidung von geschlechtsspezifischer Gewalt, unabhängig davon, ob sie von staatlichen oder privaten Stellen ausgehe. Dazu gehörten die Vorbeugung von Straftaten sowie die Ermittlung und Bestrafung der Täter und die Entschädigung der Betroffenen.
Nach Artikel 2 (a), (f) und (g) treffe jeden Mitgliedsstaat die Pflicht, gesetzlichen Schutz zu gewährleisten sowie Gesetze und Rechtsverordnungen, Bräuche und Praktiken abzuändern und zu beseitigen, die Frauen diskriminierten. Diese Pflicht habe Bulgarien verletzt, da Staatsanwaltschaft und Gericht B. G. wegen sexueller Belästigung und nicht wegen (versuchter) Vergewaltigung angeklagt und verurteilt hätten, obwohl es unbestritten gewesen sei, dass eine als sexuell zu betrachtende anale Penetration eines Körperteils (Finger) stattgefunden habe. Vor diesem Hintergrund habe Bulgarien keine Erklärung angeboten, weshalb B. G. nur wegen sexueller Belästigung bestraft worden sei (Beweislastumkehr), obwohl dieser Tatbestand damals mit einer geringeren Strafdrohung als Vergewaltigung belegt war, nicht als schweres Delikt eingestuft war und eine Verständigung ermöglichte. Der Fachausschuss zeigte sich betroffen, dass B. G. nur zu drei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und damit zu bedeutend weniger als der vorgesehenen Höchststrafe von fünf Jahren verurteilt worden sei.
3.2 Verstoß gegen die Staatenverpflichtungen, Freiheit von ungerechtfertigten geschlechtsbasierten Stereotypen zu garantieren (Rz. 9.6)
Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 5 in Verbindung mit Artikel 2 (g) CEDAW fest. Auch die Neufassung der Vorschrift über sexuelle Belästigung enthalte schädliche Genderstereotypen und verstoße genauso wie die Altfassung gegen die Konvention, da der Strafrahmen denjenigen der Vergewaltigung noch immer unterschreite und das Delikt weiter verharmlosend als Ehrverletzung ("Luderleben") eingeordnet werde. Mit Verweis auf seine abschließenden Bemerkungen zu den bulgarischen Staatenberichten erneuerte der Fachausschuss seine Aufforderung, die Vorschrift zum Strafausschluss oder -erlass für sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung im Fall der Eheschließung zwischen Täter und Opfer abzuschaffen.
3.3 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung, Betroffene von (sexualisierter) vor Reviktimisierung zu schützen (Rz. 9.7)
Der Fachausschuss stellte kurz eine Verletzung von Artikel 2 (a) und (b), (e) bis (g) in Verbindung mit den Artikeln 3 und 5 Absatz 1 CEDAW fest, da es an gesetzlichen Vorschriften fehle, die den Schutz von Betroffenen sexualisierter Gewalt vor Reviktimisierung sicherstelle. Bulgarien verfüge nicht über Rechtsbehelfe - wie Anträge auf Schutzanordnung oder Kontaktverbot - für die Zeit nach der Entlassung eines Täters nach Abschluss des Strafverfahrens.
3.4 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung zur Bekämpfung (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen und Mädchen (Rz. 9.8)
Mangels ausreichender Informationen Bulgariens über besondere Programme und Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen und ihre Folgen stellte der Fachausschuss auch eine Verletzung der Artikel 2 (c) und 15 CEDAW fest.
Ferner verstoße die Ermittlungsdauer von zwei Jahren von der Anzeige bis zur Anklage ohne weitere Erklärungen Bulgariens gegen die Konvention. Des Weiteren rügte der Fachausschuss, dass V. P. P. trotz eines erstrittenen rechtskräftigen Urteils keine Entschädigung erhalten habe und dass die staatlichen Mechanismen dafür, diese Entschädigung zu verlangen, nicht ausreichend seien.
3.5 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung, Betroffenen sexualisierter Gewalt Zugang zu angemessener Gesundheitsfürsorge zu gewähren (Rz. 9.9 f.)
Zudem stellte der Fachausschuss eine Verletzung von Artikel 12 CEDAW fest, da Bulgarien keine angemessene Strategie der Gesundheitsfürsorge für von sexualisierter Gewalt Betroffene geschaffen und verfolgt habe. Der Ausschuss betonte, dass geschlechtsspezifische Gewalt für Frauen ein besonderes Gesundheitsrisiko darstelle. Die Mitgliedsstaaten seien deshalb verpflichtet, Gesetze für sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Missbrauch von Mädchen zu verabschieden sowie Strategien zu entwickeln und diese effektiv anzuwenden. Dazu gehörten ein angemessenes Gesundheitswesen, spezielle Behandlungsrichtlinien und Verfahren für Krankenhäuser bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Missbrauch von Mädchen sowie geschlechtersensible Aus- und Fortbildung für im Gesundheitswesen Beschäftigte.
Außerdem stellte der Fachausschuss fest, dass V. P. P. keinen angemessenen Zugang zu den von ihr benötigten Gesundheitsdiensten und Untersuchungen gehabt habe. Mangels näherer Informationen gehe er aufgrund des Bestreitens der Beschwerdeführerin davon aus, dass die bulgarischen Behörden V. P. P. gerade im Anschluss an den Vorfall selbst, aber auch hinsichtlich der Langzeitfolgen keine angemessene Behandlung gewährt hätten.
3.6 Verstoß gegen das Recht auf angemessene Entschädigung bei immateriellen Schäden (Rz. 9.11)
Abschließend stellte der Fachausschuss fest, dass der bulgarische Staat das Recht von V. P. P. auf effektive Entschädigung für immaterielle Schäden verletzt habe, da er zum einen nicht über ein verlässliches Entschädigungssystem für solche Schäden verfüge, zum anderen keine Prozesskostenhilfe für das Vollstreckungsverfahren gewähre, nicht einmal für Betroffene wie V. P. P., die aufgrund der sexualisierten Gewalt eine Behinderung erlitten hätten. Der Staat habe es versäumt, das zivilrechtliche Urteil zugunsten von V. P. P. effektiv zu vollstrecken. Der Fachausschuss betonte, dass Artikel 15 CEDAW der Gleichheit vor dem Gesetz diene und dass die Konvention den Status von Frauen - sei es als Klägerinnen, Zeuginnen oder Betroffene - vor dem Gesetz schützen wolle. Dazu gehöre auch der Anspruch auf angemessene Entschädigung bei erlittener (sexualisierter oder sonstiger) Gewalt.
3.7 Empfehlungen des Fachausschusses (Rz. 10)
Der Fachausschuss empfahl, S. V. P. eine Entschädigung zu zahlen, die der Schwere der von V. P. P. erlittenen Verletzung angemessen sei.
Allgemein empfahl er als strukturelle Maßnahmen:
(a) die Amnestie bei Eheschließung zwischen Täter und Opfer abzuschaffen und sicherzustellen, dass die Definitionen aller Sexualdelikte mit internationalen Standards übereinstimmten, dass Sexualdelikte gegen Frauen und Mädchen effektiv ermittelt, die Täter verfolgt und im Verhältnis zur Schwere der Taten zu angemessenen Strafen verurteilt werden würden;
(b) Prozesskostenhilfe einzuführen für das Zwangsvollstreckungsverfahren von Urteilen, die Betroffenen von sexualisierter Gewalt Entschädigung gewährten;
(c) (unter anderem) im Opferentschädigungsgesetz einen Schmerzensgeldanspruch für Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt einzuführen;
(d) zur Sicherheit der Betroffenen strafrechtliche Schutzanordnungen und Kontaktverbote für den Fall der Entlassung von Tätern aus der Haft einzuführen;
(e) Strategien - inklusive medizinischer Behandlungsrichtlinien und Verfahrensregelungen für Krankenhäuser - gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu entwickeln und umzusetzen.
Entscheidung im Volltext: