CAT, Mitteilung Nr. 338/2008 (Mondal vs. Sweden)
CAT, Entscheidung vom 23.05.2011, Utam Mondal (vertreten durch Gunnel Stunberg) gegen Schweden
1. Sachverhalt
Uttam Mondal (M.) ist ein politischer Aktivist aus Bangladesch. Er gehört der verfolgten Hindu-Minderheit an und bekennt sich zu seiner Homosexualität. Er lebte in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft. Seit 2003 war M. Vorsitzender der regionalen Jugendorganisation der Partei BDB. 2004 engagierte er sich im nationalen Wahlkampf. Mitarbeitende der Partei BNP bedrohten ihn mit dem Tode. Sie kündigten auch an, bei der Polizei falsche Anschuldigungen gegen ihn vorzubringen.
Im Juni und August 2004 verhaftete die Polizei M. aufgrund solcher falscher Anschuldigungen. Die Polizeibediensteten folterten ihn auf verschiedene Weise bis zur Bewusstlosigkeit, um Geständnisse zu erwirken. Nachdem er sich weigerte, andere Beschuldigte zu belasten, vergewaltigten ihn drei Polizeibedienstete. Nach zwei beziehungsweise drei Tagen kam er infolge von Bestechung durch Parteifreunde frei und wurde jeweils mehrere Tage lang im Krankenhaus behandelt.
Nachdem ein muslimischer Freund seinen Imam über Ms Homosexualität informiert hatte, erließ dieser eine Fatwa, in der er die Tötung von M. forderte. Nach seinem Krankenhausaufenthalt umstellten Muslime auf der Suche nach M. das Haus seiner Familie, übten Gewalt gegen Familienmitglieder aus und zerstörten das Familiengeschäft.
M. floh nach Dhaka, erfuhr dort aber, dass die Polizei ihn wegen der falschen Anschuldigungen und wegen seiner Homosexualität suchte. Auf Homosexualität steht in Bangladesch die Todesstrafe. Ein Selbstmordversuch schlug fehl. Parteifreunde ließen ihn über Schmuggler außer Landes bringen. Nach seiner Ankunft in Schweden erfuhr er von der Vertreibung und später vom Verschwinden seiner Familie und der Flucht seines Lebenspartners.
Die schwedische Ausländerbehörde wies den Asylantrag von M. 2005 zurück. Seine politische Aktivität sei nur von kurzer Dauer gewesen, bei der Folter habe es sich um isolierte Taten gehandelt. M. habe die Folter in Bangladesch nicht auf einer höheren Ebene zur Anzeige gebracht und somit den Rechtsweg nicht ausgeschöpft. Sein Glaube habe nicht zur Verfolgung geführt. Homosexualität werde in der Praxis in Bangladesch nicht verfolgt. Im Übrigen haben M. zu wenige Beweise vorgelegt.
Im Widerspruchsverfahren brachte M. vor, dass das Strafverfahren gegen ihn geheim geführt werde und dass seine Religion und Homosexualität seine Situation erschwerten. Für einen Hindu sei eine Verurteilung zu lebenslanger Haft wahrscheinlicher als für einen Muslim in der gleichen Situation. Ferner legte er zwei medizinische Bescheinigungen vor, die bestätigten, dass M. an Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung leidet und langfristig kontinuierliche Behandlung benötigt.
Im April 2007 befand ein schwedisches Gericht die Aussage von M. für glaubhaft, gestattete jedoch seine Ausweisung. M. habe nicht nachgewiesen, dass er aufgrund seiner früheren politischen Betätigung, seiner Homosexualität oder seiner Religion bei seiner Rückkehr verfolgt, gefoltert, misshandelt oder zum Tode verurteilt werden würde. Allein die Zugehörigkeit zu einer Minderheit genüge dafür nicht. Humanitäre Gründe für eine Aufenthaltserlaubnis sah das Gericht nicht. Das Rechtsmittel gegen diese Entscheidung blieb erfolglos.
2. Verfahren vor dem Anti-Folterausschuss (CAT)
M. legte 2007 Beschwerde beim UN-Anti-Folterausschuss (CAT) ein. Im April 2008 erließ der Ausschuss eine einstweilige Anordnung, M. nicht abzuschieben. Schweden wies M. daraufhin nicht aus.
M. stützte sich im Wesentlichen auf Artikel 3 des Internationalen Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Anti-Folter-Konvention; CAT). Diese Vorschrift sei verletzt, da ihm bei der Ausweisung nach Bangladesch Folter drohe.
M. legte Zusammenfassungen von medizinischen Gutachten über seine Folterverletzungen vor. Danach leide er seit seiner zweimaligen Folter durch die bangladeschische Polizei 2004 unter eindeutigen Symptomen posttraumatischer Belastungsstörung; er sei in den letzten Jahren mehrfach nach Selbstmordversuchen ins Krankenhaus eingeliefert worden. M. legte die Foltermethoden und seine chronischen Folgeerkrankungen dar. Bei einer Abschiebung wäre er weiterhin persönlich, tatsächlich und vorhersehbar von Folter bedroht. Durch seine hochgradige Traumatisierung könne von ihm keine genauere und detailliertere Auskunft über alle Ereignisse verlangt werden, da eine solche Anforderung unmenschlich wäre. M. führte aus, dass die BNP noch immer Macht habe und ihre Gegner verfolge (Rz. 3.1, 5.1 — 5.5).
Die schwedische Regierung hielt die Beschwerde beim Anti-Folterausschuss für unzulässig und unbegründet.
Schweden bestätigte, dass die Menschenrechtslage in Bangladesch nach internationalen Berichten problematisch sei. Die Polizei foltere und misshandele Verdächtige bei Befragungen; die Verantwortlichen würden selten bestraft. Ferner erkannte Schweden an, dass religiöse Minderheiten in der Praxis benachteiligt würden und dass homosexuelle Handlungen unter Strafe stünden. Allerdings würden die Gesetze nur selektiv angewendet.
Die Beschwerde sei unbegründet. Aus der allgemeinen Lage lasse sich nach der Rechtsprechung des Ausschusses nicht folgern, dass auch ein persönliches Folterrisiko für den Beschwerdeführer vorliege. Aus den Materialien gingen keine Tatsachen hervor, dass M. politisch motivierte Verfolgung zu erwarten habe oder während einer möglichen Haft besonders verletzlich wäre. Sein Vorbingen vor dem Ausschuss und während zweier langer Gespräche mit den Behörden sei vage und an wichtigen Punkten wenig präzise gewesen.
Ferner habe sich die politische Situation in Bangladesch geändert. Die BNP sei nicht mehr an der Macht. Damit habe sich das Risiko der Verfolgung durch die Behörden auf Geheiß dieser Partei beträchtlich verringert. M. habe zu wenig Dokumente über die falschen Anschuldigungen oder über vermeintlich laufende Verfahren vorgelegt. Die medizinischen Gutachten bezögen sich vor allem auf seine mentale Gesundheit. M. habe die Polizeibediensteten, die ihn misshandelt hätten, nicht angezeigt. Er habe sich nur ein Jahr lang in der Partei engagiert und keinen Spitzenposten innegehabt. Die Gefahr weiterer Verfolgung habe sich durch seine lange Abwesenheit verringert. Dem verbleibenden Risiko könne er entgehen, indem er in eine andere Region Bangladeschs ziehe.
M. habe nicht nachgewiesen, dass ihm künftig Folter drohe. Die schwedische Regierung führte aus, dass in Bangladesch homosexuelle Handlungen selten bestraft würden. M. habe mit seinem Partner Jahre lang zusammengelebt; problematisch sei in Hindufamilien eher das soziale Stigma. M. könne an anderen Orten in Bangladesch leben und arbeiten, wo ihn niemand kenne. Auch die Berichte der Menschenrechtsorganisationen enthielten keine Hinweise auf aktive Verfolgung Homosexueller oder auf eine besondere Schutzbedürftigkeit homosexueller Asylbeantragender.
Schweden brachte vor, dass die Wirkung der Fatwa vor allem lokal gewesen sei. M. habe keine Auskunft über den Verbreitungsgrad geben können. Es sei unwahrscheinlich, dass M. nach der langen Zeit noch interessant für islamische Fundamentalisten wäre.
Die Schwierigkeiten von Hindus und anderen Minderheiten, ihr Land gegen die Muslime zu verteidigen, und ihre Benachteiligung bei der Arbeitssuche rührten nicht von staatlicher Seite her. Auch staatliche Zustimmung oder Duldung sei nicht erkennbar. Zudem habe M. nicht dargelegt, dass er selbst Opfer religiös bedingter Verfolgung sei (Rz. 4.1-4.15).
3. Entscheidung des UN-Anti-Folterausschusses
Der Fachausschuss stellt fest, dass Schweden bei Ausweisung von M. Artikel 3 CAT verletzen würde, da ein vorhersehbares persönliches und tatsächliches Folterrisiko vorliege. Die zusätzliche Beschwerde des M. unter Artikel 16 CAT (Verhindern von grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe durch Staatsbedienstete) wies er als unzulässig zurück.
3.1 Grundsätze (Rz. 7.1 ff.)
Der Ausschuss stellt fest, dass Schweden bei einer Abschiebung von M. seine Pflichten aus Artikel 3 CAT verletzen würde. Dabei komme es darauf an, ob tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die abzuschiebende Person selbst gefährdet ist, im Empfangsstaat gefoltert zu werden (Prognose-Entscheidung). Dafür müsse der Ausschuss alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigen. Dazu gehöre, ob in dem Land systematisch schwere, besonders abscheuliche oder weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Der Ausschuss stellt fest, dass Schweden anerkannt habe, dass sich die Menschenrechtssituation in Bangladesch verschlechtert habe und dass die Polizei Verdächtige bei Befragungen foltere, schlage und anderweitig misshandele (Rz. 7.2).
3.2 Persönliches Folterrisiko wegen intersektioneller Diskriminierung (Rz. 7.3-7.7)
Entscheidend sei jedoch, ob tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass der Beschwerdeführende persönlich bei einer Abschiebung einem Folterrisiko ausgesetzt wäre („MAK gegen Deutschland“, Mitteilung Nr. 214/2002). Hierfür sei eine allgemein schlechte Menschenrechtslage nicht ausreichend.
Der Ausschuss kommt trotz der sehr kurzen Einlassungen von M. zu dem Ergebnis, dass M. durch die medizinischen Gutachten und seinen Vortrag genügend Beweise erbracht habe, dass er bei Abschiebung persönlich einem tatsächlichen und vorhersehbaren Folterrisiko ausgesetzt wäre. Dies ergebe sich aus seinen früheren politischen Aktivitäten und dem Risiko einer Verfolgung wegen seiner Homosexualität, kombiniert mit der Zugehörigkeit zur Hindu-Minderheit (Rz. 7.7). Dabei mildert der Ausschuss stillschweigend die Beweisanforderungen hinsichtlich der tatsächlichen Anhaltspunkte der persönlichen Foltergefahr.
Religionszugehörigkeit und sexuelle Orientierung
Der Ausschuss stellt zunächst fest, dass M. aufgrund seiner sexuellen Orientierung und seiner Religion in Bangladesch erhöhten Foltergefahren ausgesetzt ist.
Mit der Zugehörigkeit zur Hindu-Minderheit setzt er sich nicht weiter auseinander, sondern prüft nacheinander die schwedischen Argumente zu möglichen Risiken aufgrund seiner sexuellen Orientierung und seiner politischen Betätigung. Schweden habe anerkannt, dass bangladeschische Gesetze homosexuelle Handlungen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohen. Deshalb könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Behörden solche Handlungen auch tatsächlich verfolgten (Rz. 7.3). Der Ausschuss weist auch das Argument zurück, dass die Fatwa möglicherweise nur örtlich bekannt gewesen sei. Von M. könne nicht verlangt werden, dass er die regionale oder nationale Verbreitung der Fatwa nachweise, da er sich außer Landes befinde. Die Bezeichnung „örtliche Gefahr“ sei zu vage und zu wenig messbar. Zudem zerstreue sich die persönliche Gefahr, gefoltert zu werden, dadurch nicht vollständig. Schweden habe nicht nachgewiesen, dass die Gefahr der Strafverfolgung wegen homosexueller Handlungen für M. geringer geworden sei, seit er das Land verlassen habe (Rz. 7.4).
Politische Betätigung (Rz. 7.5 f.)
Auch die frühere politische Betätigung von M. führe zu einem erhöhten Risiko. Die politische Situation in Bangladesch sei noch immer instabil. Zwischen politischen Parteien komme es zu Gewalt wegen politischer Einstellungen. Dem Ausschuss genügt, dass Schweden eingestanden hat, dass M. gefoltert wurde, dass Folter in Bangladesch weiterhin verübt werde und dass Verantwortliche selten bestraft würden. Frühere Folter sei zwar nur ein zu berücksichtigender Gesichtspunkt bei der Risikoprognose („M. S. H. gegen Schweden“, Mitteilung Nr. 235/2003). Der Ausschuss sieht aber als maßgeblich an, dass die medizinischen Gutachten einen kausalen Zusammenhang zwischen den körperlichen Verletzungen von M., seinem derzeitigen mentalen Zustand und der Misshandlung im Jahr 2004 bestätigten.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
In dieser Entscheidung stellt der Fachausschuss klar, dass die Diskriminierung einer Person im Empfangsstaat indirekt zu einem Abschiebungshindernis führen kann, wenn eine Person deshalb von Folter bedroht ist, weil sie einer diskriminierten Gruppe angehört. In seiner kurzen rechtlichen Würdigung prüft und bejaht der Ausschuss im Rahmen der Foltergefahr außerdem alle Diskriminierungsgründe (sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft, politische Aktivität) und stellt fest, dass sich diese gegenseitig verstärken. Zudem lässt der Ausschuss erkennen, dass die Beweisanforderungen an „tatsächliche Anhaltspunkte“ jedenfalls bei einem geflohenen, traumatisierten Menschen wie dem Beschwerdeführer nicht zu weit ausgedehnt werden dürfen. Zweifelt der Staat etwa eine landes- oder regionsweite Verfolgungsgefahr (bedingt hier durch den Verbreitungsgrad der Fatwa) an, kann es daher zu einer Art Beweislastumkehr kommen. Der Staat muss dann möglicherweise nachweisen, dass dem Beschwerdeführer wegen Zeitablaufs oder mangels Reichweite in anderen Landesteilen keine Verfolgung (mehr) drohe.
Auch wenn sich die Entscheidung gegen Schweden richtet, sind die Feststellungen des Anti-Folterausschusses auch für Deutschland grundsätzlich verbindlich. Die Staaten haben die ratifizierten Abkommen einzuhalten und so entsteht eine mittelbare Verbindlichkeit der Auffassung der Ausschüsse. Deswegen kann die Argumentation des Anti-Folterausschusses auch in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden.
Am 7. November 2013 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil „X, Y, Z v Minister voor Immigratie en Asiel“ (Rs. C‑199/12 bis C‑201/12), dass homosexuelle Asylbeantragende eine soziale Gruppe im Sinne der Richtlinie 2004/83/EG bilden können, die wegen ihrer sexuellen Ausrichtung Verfolgung ausgesetzt ist. Dies sei insbesondere der Fall, wenn es besondere strafrechtliche Bestimmungen gegen Homosexuelle gebe. Dabei müssten die Betroffenen gravierenden Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein, die eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen. Es genüge nicht, wenn Gesetze homosexuelle Handlungen unter Strafe stellten. Werden aber aufgrund solcher Gesetze oder Verwaltungsvorschriften tatsächlich Freiheitsstrafen verhängt, könne dies eine Verfolgungshandlung darstellen. Von Asylbeantragenden könne nicht verlangt werden, ihre sexuelle Orientierung im Herkunftsland geheim zu halten oder diese nicht auszuleben. Die sexuelle Orientierung sei für die Identität des Menschen dafür zu bedeutsam.
Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) weist darauf hin, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und Gerichte diese Praxis (Ablehnung eines Asylantrags mit der Begründung, dass durch die Geheimhaltung sexueller Identität und die Beschränkung auf sexuelle Kontakte im engen Umfeld, keine Verfolgung zu befürchten sei) nach dem EuGH-Urteil „Deutschland gegen Y und Z“ (Große Kammer; Rs. C-71/11 und C-99/11) schon aufgegeben hatte. In diesem Urteil hatte der EuGH aufgrund ähnlicher Kriterien entschieden, dass die Behörden von Asylbeantragenden nicht verlangen dürften, auf religiöse Betätigungen zu verzichten oder sich auf eine religiöse Betätigung im privaten Raum zu beschränken, wenn ihnen Verfolgungshandlungen im Sinne der Richtlinie drohen.
5. Entscheidung im Volltext
CAT_23.05.2011_Mondal_v._Sweden_ENG.pdf (PDF, 280 KB, nicht barrierefrei)