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Beschwerde-Nrn. 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10

EGMR, Urteil vom 15.01.2013, Beschwerde-Nrn. 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10, Eweida und andere gegen das Vereinigte Königreich

1. Sachverhalte

Bei den verbundenen Beschwerden ging es um folgende vier Sachverhalte:
Nadia Eweida (E.) trug als Angestellte der britischen Fluggesellschaft British Airways (BA) während der Arbeitszeit sichtbar ein christliches Kreuz an einer Halskette. Da die bestehende Kleidungsanweisung des Unternehmens allen Mitarbeitenden mit Kundenkontakt das Tragen von religiösen Symbolen verbot, blieb E. zu Hause und erhielt für die deshalb versäumten Arbeitstage keinen Lohn. Zuvor hatte das Unternehmen ihr angeboten alternativ in einem Büro zu arbeiten, wo sie keinen Kundenkontakt habe und deshalb ihre Halskette tragen könne. In der Vergangenheit hatte BA das Tragen von Sikh-Turbanen und Hidschab-Kopftüchern während der Arbeitszeit erlaubt. Nachdem BA aufgrund von öffentlichem Protest ihre Bekleidungsvorschriften lockerte, kehrte E. wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Fluggesellschaft wollte ihr aber nicht den Verdienstausfall ersetzen (Rz. 9 ff.).
Shirley Chaplin (C.) war von 1989 bis 2010 in einem staatlichen Krankenhaus als Krankenpflegerin tätig. Im Jahr 2009 trug sie während ihrer Arbeitszeit sichtbar ein christliches Kreuz an einer Halskette. Der Arbeitgeber forderte sie wegen Sicherheitsbedenken für Patientinnen und Patienten auf, dies zu unterlassen. Die Kleidungsvorschriften in dem Krankenhaus verboten das Tragen von Schmuck zum Schutz der Gesundheit und für die Sicherheit des Krankenhauses. Als sie die Anweisung nicht befolgte, wurde sie in eine andere Abteilung versetzt (Rz. 18 ff.).
Lillian Ladele (L.) ist als gläubige Christin der Überzeugung, dass homosexuelle Beziehungen gegen Gottes Gesetz verstoßen. Als private Angestellte einer Londoner Behörde war sie unter anderem mit dem Vollzug von Eheschließungen betraut. Nach der Einführung einer eheähnlichen homosexuellen Partnerschaft 2005 weigerte sie sich, homosexuelle Paare zu trauen bzw. zu registrieren. Deshalb wurde sie von ihrem Arbeitgeber aufgefordert, mit Ausnahme der Trauung alle behördlichen Handlungen, die für die Verpartnerung von homosexuellen Paaren notwendig sind, zügig durchzuführen - verbunden mit der Androhung disziplinarischer Maßnahmen (Rz. 23 ff.).
Gary McFarlane (M.) ist der Überzeugung, dass die Bibel Homosexualität verbietet. Er arbeitete als Paar- und Sexualtherapeut für ein privates Unternehmen, das eine Gleichbehandlungsrichtlinie in Kraft gesetzt hatte, die Ungleichbehandlungen homosexueller Patientinnen und Patienten verbot. Als sich M. weigerte, mit homo- und bisexuellen Patientinnen und Patienten zu arbeiten, wurde ihm gekündigt (Rz. 31 ff.).
E., L. und M. klagten in Großbritannien in allen Instanzen vergeblich gegen die genannten Maßnahmen. C. nutzte nicht alle vorhandenen Rechtsbehelfe, da das britische  Arbeitsgericht ihr abgeraten hatte, Rechtsmittel gegen die erstinstanzliche Entscheidung einzulegen – unter anderem vor dem Hintergrund des erfolglosen Verfahrens der E.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

E., L., C. und M. erhoben unabhängig voneinander 2010 Beschwerden zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sie stützen sich dabei auf Artikel 9 (Religionsfreiheit) allein und in Verbindung mit Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
E. führte aus, dass das Tragen eines Kreuzes eine allgemein anerkannte Form sei, den christlichen Glauben zu praktizieren. Abgesehen davon lasse sich aus der Rechtsprechung des EGMR kein Kriterium ableiten, dass Religion in "anerkannten Formen" ausgeübt werden müsse. Diese restriktive Auslegung sei mit der hohen Bedeutung der Religionsfreiheit in der EGMR-Rechtsprechung und den heutigen Bedingungen gerade auch auf dem Arbeitsmarkt unvereinbar. Allein der Umstand, dass man durch Kündigung einer Beschränkung entgehen könne und sich dagegen entscheide, könne keinen Rechtsverzicht bedeuten oder einen Eingriff ausschließen. Sie habe das Verbot, ein sichtbares Kreuz als zentrales Glaubenssymbol zu tragen, als demütigend und anstößig empfunden. Der Verlust des Einkommens für vier Monate sei finanziell hart gewesen.
E. brachte ferner vor, dass die enge Auslegung des britischen Rechts durch die Gerichte ihr angemessenen Schutz versagt habe. Unter dem nationalen Recht hätte sie beweisen müsse, dass ihre religiöse Gruppe benachteiligt werde. Dieser Maßstab sei willkürlich und unangemessen. Der EGMR habe niemals festgestellt, dass eine positive Verpflichtung des Staates zum Schutz der Religionsfreiheit nur im Ausnahmefall bestehe. Das Vereinigte Königreich habe es daher versäumt, Gesetze zu erlassen, die einen angemessenen Schutz gewährleisteten. (Rz. 64-66)

C. führte zur Zulässigkeit aus, dass die Berufungsentscheidung im Fall der E. für sie entscheidend gewesen sei und es daher überflüssig gewesen wäre, in ihrem ähnlich gelagerten Fall in Berufung zu gehen.
Zur Begründetheit brachte sie ergänzend zu E. vor, dass der Staat nicht unterscheiden dürfe, was eine religiöse Pflicht sei und was nicht. Diese Herangehensweise widerspreche der Auslegung britischer Gerichte und des EGMR ("Bayatyan gegen Armenien", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 23459/03). Zudem könnten nicht nur religiöse Pflichten unter Artikel 9 EMRK fallen, weil sonst Religionen mit besonderen Vorschriften ein höheres Schutzniveau hätten als andere Religionen. Ferner stelle die Aufforderung, ein Kreuzsymbol zu entfernen, nach der neueren EGMR-Rechtsprechung sehr wohl einen Eingriff dar (Entscheidung "Dahlab gegen die Schweiz", Beschwerde-Nr. 42393/98, "Leyla Şahin", siehe oben). Schließlich liege keine Rechtfertigung gemäß Artikel 9 Absatz 2 EMRK vor, da die britische Regierung nicht bewiesen habe, dass das Tragen des Kreuzes zu Gesundheits- und Sicherheitsbedenken führe. Deshalb hätten die britischen Gerichte auch gegen Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK verstoßen, da C. anders als Angehörige anderer Religionen nicht berechtigt sei, ihr religiöses Symbol offen zu tragen (Rz. 53, 67-69).

L. berief sich auf Artikel 9 in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Artikels 14 EMRK. Sie sei wegen ihrer Religion diskriminiert worden, da man sie ohne Rechtfertigung genauso behandelt habe wie Staatsbedienstete ohne Gewissenskonflikte gegenüber der Eheschließung von Homosexuellen. Deswegen liege ein Fall indirekter Diskriminierung vor. Es sei unproblematisch möglich gewesen, auf ihren Glauben Rücksicht zu nehmen. Die Entlassung sei deshalb unverhältnismäßig gewesen. Der Gerichtshof müsse wie in den Bereichen Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft und Nationalität "sehr gewichtige Gründe" für eine Rechtfertigung fordern, da auch der Glaube einen Kernaspekt der Identität des Einzelnen darstelle. Ethnizität und Religion seien oft eng miteinander verbunden ("Sejdić und Finci gegen Bosnien und Herzegowina", Große Kammer, Beschwerde-Nrn. 27996/06 und 34836/06; "Zypern gegen die Türkei", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 25781/94). Die Regierung habe die Verhältnismäßigkeit ihrer Entlassung nicht nachgewiesen. L. sei bereits lange vor der Gesetzesänderung als Standesbeamtin eingestellt worden; ihre Tätigkeit habe sich durch die Änderung fundamental verändert. Die Gemeindebehörde habe das Ermessen gehabt, sie nicht für eingetragene Partnerschaften einzusetzen, und hätte dann immer noch effektiv die Dienstleistung der Verpartnerung anbieten können. L. habe nie Vorurteile gegen Homosexuelle gezeigt, sie habe nur nicht selbst die Verbindungen schließen wollen, die sie für gleichwertig mit der Ehe hielt. Der Staat hätte durch die Berücksichtigung ihrer religiösen Einstellung keine Zustimmung mit ihrer Position geäußert, sondern – wie bei Ärztinnen und Ärzten, die von Abtreibungen ausgenommen würden – Toleranz gezeigt und seiner Neutralitätspflicht genügt. Da er dies verweigert habe, habe der Staat keine angemessene Abwägung getroffen (Rz. 70-72).

M. betonte, dass seine Zugehörigkeit zu Werten christlicher Sexualmoral sehr wohl die Religionsausübung betreffe und dass die Rechtsprechung des EGMR fordere, dass jeder Eingriff in dieses Recht gerechtfertigt werden müsse. Bei der Bemessung des Beurteilungsspielraums müsse der EGMR beachten, dass es um die Aufrechterhaltung religiöser Pluralität gehe und dass Artikel 9 EMRK leerlaufe, wenn er nur die private Religionsausübung schütze, deren Rahmen und Form der Staat bestimme. Der Gerichtshof müsse bei der Bestimmung des Beurteilungsspielraums auch berücksichtigen, dass Entlassung und berufliche Rufschädigung zu den schwersten Sanktionen gehörten. Ferner sei sein privater Arbeitgeber nicht verpflichtet gewesen, Homosexuelle zu therapieren. Von einem homosexuellen Menschen, der aus diskriminierenden Gründen entlassen worden sei, würde zudem nicht verlangt, wegen seiner Einstellung die Arbeitsstelle zu wechseln (Rz. 73 f.).

Die britische Regierung, gegen die sich die Beschwerden richteten, hielt diese für unzulässig beziehungsweise unbegründet. Die Beschwerde der C. sei bereits unzulässig, da sie den Rechtsweg nicht ausgeschöpft habe. C. sei nicht in Berufung gegangen, obwohl dies möglich gewesen sei. Ihr Fall unterscheide sich von dem der E., da sie bei einem öffentlichen Arbeitgeber angestellt gewesen sei; damit hätte sie die Religionsfreiheit vor den staatlichen Gerichten anbringen können. Gegen die Feststellung, dass sie keine hinreichenden Beweise für direkte Diskriminierung vorgebracht habe, habe sie keine Berufung eingelegt  (Rz. 52).
Alle Beschwerden seien ferner unbegründet. Bei E., C. und M. sei bereits der Anwendungsbereich des Artikels 9 EMRK nicht eröffnet. Das sichtbare Tragen eines Kreuzes sei keine anerkannte Religionsausübung und auch keine Pflicht im Christentum. Auch die Weigerung, homosexuelle Paare zu therapieren, sei keine anerkannte Religionsausübung. Ferner sei in das Recht der drei Beschwerdeführenden nicht eingegriffen worden. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des House of Lords in "R (Begum) gegen Governors of Denbigh High School" stellt die britische Regierung dar, dass die Beschwerdeführenden ihre Arbeit freiwillig gewählt hätten und ihre Religion unproblematisch auf andere Weise hätten ausüben können. Verletzungen habe der EGMR nur da festgestellt, wo keine solche Alternative existiere ("Leyla Şahin gegen die Türkei", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 44774/98, “Ahmet Arslan gegen die Türkei”, Entscheidung, Beschwerde-Nr. 41135/98). Hier hätten E. und C. an ihrer Arbeitsstelle sogar verdeckt ein Kreuz tragen können.
Der Fall der L. sei untrennbar mit der Unzulässigkeitsentscheidung "Pichon und Sajous gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 49853/99) verbunden, da es allen Beschwerdeführenden frei gestanden habe, ihre Arbeit zu wechseln. E. und C. hätten sogar Alternativangebote erhalten, die das offene Tragen des Kreuzes erlaubt hätten.
In den Fällen von E. und M. gehe es um private Arbeitgeber. Die positive Staatenverpflichtung sei aber nicht verletzt. Bislang habe der EGMR nur in einem sehr schwerwiegenden und nicht vergleichbaren Fall eine Verletzung angenommen, in dem die Behörden nicht gegen einen gewaltsamen Angriff auf Zeugen Jehovas vorgegangen seien ("Mitglieder der Gldani Kongregation von Zeugen Jehovas und andere gegen Georgien", Beschwerde-Nr. 71156/01). Zudem habe das Vereinigte Königreich angemessene Antidiskriminierungsvorschriften für den privaten Arbeitssektor erlassen.
Jedenfalls seien alle Eingriffe verhältnismäßig und damit gerechtfertigt. Hinsichtlich E. führt die britische Regierung aus, dass das Aufrechterhalten eines professionellen Images und eines Wiedererkennungswertes der Marke einen legitimen Zweck für eine Uniformierungspflicht darstelle. Mit den Bekleidungsvorschriften habe es vorher nie Konflikte gegeben. E. habe sich nicht zuerst intern über die Vorschriften beschwert. BA habe ihr während des Verfahrens einen alternativen Arbeitsplatz ohne Kundenkontakt zu den gleichen Konditionen angeboten, den sie nicht annahm. BA habe die Bekleidungsvorschriften innerhalb von fünf Monaten zu ihren Gunsten geändert.
Bezüglich C. betonte die Regierung, dass die Beschränkung dem Schutz der Patientinnen und Patienten vor Verletzungen diente. Sie sei verhältnismäßig, da sie für alle Religionen Vorschriften vorsah, die das Verletzungsrisiko minimierten, aber religiöse Bekleidung ermöglichten. Auch hier habe man C. einen gleich gut bezahlten Alternativposten angeboten.
Während die britische Regierung anerkannte, dass L. und M. tatsächlich glaubten, dass Homosexualität gegen die Bibel verstoße, verweist sie darauf, dass beide Arbeitgeber den legitimen Zweck verfolgten, Dienstleistungen diskriminierungsfrei zu erbringen. Es sei verhältnismäßig, alle Arbeitnehmenden dazu aufzufordern, ihre Rolle ohne Diskriminierung  auszuüben. Die britischen Vorschriften spiegelten eine Abwägung zwischen dem Recht auf Religionsausübung und dem Recht Einzelner, nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden, wider. Diese Abwägung überschreite den Rahmen des gesetzlichen Beurteilungsspielraums nicht (Rz. 58-63).

Drittinterventionen (Rz. 75-78)
Der Gerichtshof ließ insgesamt 12 Stellungnahmen von Organisationen, Würdenträgern und aus der Wissenschaft zu. Der EGMR gruppierte die widerstreitenden, das vollständige Meinungsspektrum abdeckenden Stellungnahmen um drei thematische Aspekte herum:
a) die Frage, ob das Tragen eines Kreuzes die Kundgabe eines religiösen Glaubens beinhalte (Eröffnung des Schutzbereiches; Rz. 76),
b) die Frage des Eingriffs in den Schutzbereich des Artikels 9 EMRK (Rz. 77) und
c) die Frage der Rechtfertigung des Eingriffes, insbesondere der Verhältnismäßigkeit (Rz. 78).

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR wies die Beschwerden von M. und L. als unbegründet sowie von C. als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurück (Rz. 57, 101, 106, 110).
Hinsichtlich E. stellte er hingegen eine Verletzung der Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK) fest, da die staatlichen Gerichte mangels tatsächlicher Anhaltspunkte für die Beeinträchtigung der Rechte Dritter die Religionsausübungsfreiheit der E. nicht ausreichend geschützt hätten. Der EGMR hielt eine Prüfung von Artikel 9 EMRK in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot aus Artikel 14 EMRK ohne weitere Begründung nicht mehr für erforderlich (Rz. 95).
Der EGMR sprach E. 2.000 Euro Schmerzensgeld sowie die Erstattung ihrer Kosten und Auslagen zu.

3.1 Zulässigkeit: teilweise fehlende Rechtswegerschöpfung (Rz. 54 ff.)

Der Gerichtshof erklärte die Beschwerden von E., L. und M. für zulässig, die Beschwerde der C. dagegen mangels Erschöpfung des Rechtswegs für teilweise unzulässig. Er führt aus, dass das Schutzsystem unter der EMRK subsidiär  sei ("Selmouni gegen Frankreich", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 25803/94). Deshalb reiche ein bloßer Zweifel an der Effektivität eines Rechtsbehelfs nicht aus. Beschwerdeführende müssten Rechtsbehelfe nur dann nicht ausschöpfen, wenn sie nach gefestigter Rechtsmeinung keine vernünftigen Erfolgsaussichten böten (Entscheidungen "D. gegen Irland", Beschwerde-Nr. 26499/02, und "Fox gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 61319/09).
Gemessen daran habe C. in Bezug auf Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK den Rechtsweg nicht ausgeschöpft, da sie auf die Berufung gegen das Arbeitsgerichtsurteil verzichtet habe, obwohl diese ihr ermöglicht hätte, die Sachverhaltsfeststellungen des Arbeitsgerichts anzugreifen. Dagegen habe C. keinen weiteren effektiven Rechtsbehelf in Bezug auf ihre Hauptbeschwerde unter Artikel 9 EMRK gehabt, dass das Entfernen des Kreuzes einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihrer Religionsausübungsfreiheit darstelle. Aus dem Berufungsurteil im Fall E. sei klar hervorgegangen, dass das Gericht Artikel 9 EMRK für unanwendbar hielt. Es sei nicht ersichtlich, dass der Fall der C. anders entschieden worden wäre.

3.2 Verletzung von Artikel 9 EMRK (Religionsfreiheit)

Grundsätze unter Artikel 9 und 14 EMRK (Rz. 79-88)
Generell verpflichte das Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit gemäß Artikel 9 EMRK die Konventionsstaaten, die Glaubensfreiheit nicht zu beschränken. Die Beschränkung der Religionsausübung von Arbeitnehmenden am Arbeitsplatz stelle einen Eingriff in deren Religionsfreiheit dar. Die Konventionsstaaten hätten die positive Verpflichtung, die Glaubensfreiheit von Arbeitnehmenden in privaten Arbeitsverhältnissen zu schützen, wobei den staatlichen Gerichten bei der Anwendung der EMRK ein Beurteilungsspielraum zustehe. Die Entscheidung führt die Grundsätze der Religionsfreiheit sowie des Diskriminierungsverbotes unter Bezugnahme auf vorherige Rechtsprechung sehr ausführlich aus.

Anwendung der Grundsätze (Rz. 89 ff.)
Der EGMR stellt fest, dass das Verhalten der E. von der Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK) geschützt sei (Rz. 91). Dem stehe nicht entgegen, dass der christliche Glaube nicht unbedingt das Tragen von Kreuzen an Halsketten gebiete, da die Entscheidung darüber, was als von der Religion geboten zu betrachten sei, den Gläubigen überlassen sei (Rz. 91). Nicht jedes religiös motivierte Verhalten sei zwar von der Religionsfreiheit erfasst, eine enge und direkte Verbindung zur religiösen Überzeugung aber ausreichend.
Der Eingriff sei vorliegend nicht gerechtfertigt. Denn das Tragen einer Halskette mit Kreuz sei bei E. höher zu gewichten als das legitime Ziel der Arbeitgeber, ein einheitliches Unternehmensbild bzw. Auftreten ihrer Arbeitnehmenden gegenüber den Kundinnen und Kunden sicherzustellen (Rz. 93 f.). Schließlich handele es sich um ein diskretes Kreuz. Auch das Angebot zur Versetzung in einen anderen Bereich, in dem die Uniform nicht zu tragen war, änderte hieran nichts. Zudem gebe es keine Belege dafür, dass sich die den anderen Arbeitnehmenden der British Airways erteilte Erlaubnis, Turbane oder Kopftücher zu tragen, negativ auf das Ansehen des Unternehmens ausgewirkt habe (Rz. 94). Deshalb hätten die britischen Gerichte ihren Beurteilungsspielraum bei der Anwendung der EMRK überschritten (Rz. 94).
Hinsichtlich C. stelle das Verbot des Tragens einer Halskette mit einem christlichen Kreuz am Arbeitsplatz zwar einen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Artikel 9 Absatz 1 EMRK dar. Dieser sei aber gerechtfertigt und die Gerichte hätten eine gerechte Abwägung vorgenommen, da somit die Gesundheit der Patientinnen und Patienten und die Sicherheit des Krankenhauses gewährleistet werde, die als vorrangig eingestuft wurden (Rz. 99 f.). Insoweit hätten die britischen Gerichte ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten (Rz. 100).
Der EGMR sah auch die Kündigung bzw. Versetzung von L. und M. und die Androhung von Disziplinarmaßnahmen als gerechtfertigt an. Zwar sei bei beiden der Anwendungsbereich der Religionsfreiheit nach Artikel 9 Absatz 1 EMRK eröffnet. Auch liege jeweils ein Eingriff in die Religionsfreiheit vor. Doch seien die Eingriffe in die Religionsfreiheit von M. und L. allein und in Verbindung mit Artikel 14 EMRK gerechtfertigt, da die ergriffenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen die Gleichbehandlung homosexueller Menschen sicherstellen sollen (Rz. 106, 109 f.). Der den britischen Behörden und Gerichten bei der Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen grundsätzlich zustehende weite Beurteilungsspielraum sei hier nicht ersichtlich überschritten worden (Rz. 106, 109 f.). In der Abwägung habe die Religionsfreiheit hinter dem Anliegen der Arbeitgeber zum Diskriminierungsschutz wegen der sexuellen Identität, welches ebenfalls von der Konvention umfasst ist, zurückzustehen. Im Fall des M. ergebe sich dies aus dem Umstand, dass sein Arbeitgeber diskriminierungsfreie Dienstleistungen für homosexuelle Patientinnen und Patienten habe sicherstellen wollen (Rz. 109). Im Fall der L. folge dies aus dem Umstand, dass ihre Arbeitgeberin die Rechte von Homosexuellen, die auch von der EMRK geschützt seien, habe schützen wollen (Rz. 106). Der diskriminierungsfreie Zugang zu den jeweiligen Diensten stelle ein fundamentales Interesse einer demokratischen Gesellschaft dar, und Ungleichbehandlungen wegen der sexuellen Identität seien ohnehin stets einer besonders ernsthaften Rechtfertigungsprüfung zu unterziehen.

3.3 Entschädigung und Erstattung von Kosten und Auslagen (Rz. 112 ff.)

Der EGMR sprach E. neben 30.000 Euro Kosten und Auslagen 2.000 Euro Schmerzensgeld zu, da die Rechtsverletzung bei ihr "beträchtliche Gefühle von Sorge, Frustration und Leid" ausgelöst haben müsse. Der Gerichtshof lehnte jedoch darüber hinaus ab, das Vereinigte Königreich zur Erstattung des Verdienstausfalls zu verurteilen. E. sei auf ihre eigene Entscheidung hin bis zur Änderung der Kleidungsvorschriften im Februar 2007 unbezahlt zu Hause geblieben, auch als ihr die British Airways angeboten habe, bei gleicher Bezahlung bis zum Ende des Verfahrens eine Verwaltungstätigkeit ohne Kundenkontakt auszuführen. Ferner verwies der EGMR auf die Feststellungen des britischen Arbeitsgerichts, wonach E. durch Spenden, Geschenke und andere Einnahmen bis Februar 2007 mehr als das Doppelte ihres normalen Einkommens verdient habe. Deshalb sei es nicht angemessen, den Staat zur Zahlung zu verpflichten.

3.4 Sondervoten

Dem Urteil sind zwei teilweise abweichende Sondervoten von insgesamt vier Richtern beigefügt. Der britische Richter Bratza und Richter Björgvinsson sprechen sich in einem lesenswerten Votum gegen eine Verletzung der Religionsfreiheit der E. aus und halten damit alle Beschwerden für unbegründet. Ihrer Auflassung nach könne man dem britischen Berufungsgericht nicht vorwerfen, dass es keine gerechte Abwägung zwischen den Interessen der E. und der British Airways sowie den öffentlichen Interessen getroffen habe. Das Gericht habe in Betracht gezogen,
- dass sich E. zunächst zwei Jahre lang ohne Beschwerden an die Bekleidungsvorschrift gehalten und das Kreuz versteckt getragen habe,
- dass es mit anderen Arbeitnehmenden keine Konflikte gegeben habe,
- dass E. keine interne Beschwerde geführt habe,
- dass sie das alternative Überbrückungsangebot bei gleicher Bezahlung nicht angenommen habe,
- dass die BA sich dem Problem bewusst angenommen, die Vorschrift geprüft und nach wenigen Monaten aufgehoben habe und
- dass E. ihren alten Arbeitsplatz zurückerhalten habe.
Es gehe aus den Umständen nicht hervor, dass die britischen Gerichte die Präsentation eines bestimmten Unternehmensbilds der BA höher gewichtet hätten als das Recht der E. auf Ausübung ihrer Religionsfreiheit.
Die beiden Richter prüfen deshalb Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 14 EMRK und kommen unter Verweis auf die vorangehenden Ausführungen zu dem Schluss, dass der Eingriff gerechtfertigt sei, da ein legitimer Zweck und eine vernünftige und objektive Rechtfertigung vorlägen. Zuvor aber setzen sie sich mit offenem Ergebnis mit der Frage der indirekten Diskriminierung und der Beweislastverteilung auseinander. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob es – gerade bei einer Religion ohne zwingende Bekleidungsvorschriften wie dem Christentum – der beschwerdeführenden Person eine zu hohe Bürde auferlegt, wenn man von ihr den Nachweis fordert, dass eine Vorschrift zu einer Benachteiligung einer ganzen Gruppe von Gläubigen führe.
Richter Vučinič und De Gaetano nehmen dagegen in Anlehnung an die Drittintervention des "European Centre for Law and Justice" (ECLJ) eine Verletzung der Gewissensfreiheit der L. in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot an. Während M. freiwillig auf seine Rechte verzichtet habe, da er damit rechnen musste, dass er homosexuelle Paare therapieren müsse, sei es bei L. bei ihrem Eintritt in den öffentlichen Dienst 1992 nicht ersichtlich gewesen, dass sie als Standesbeamtin für Eheschließungen auch homosexuelle Paare werde trauen müssen. In ebenfalls lesenswerter Weise legen sie dar, dass die Mehrheitsmeinung im Gerichtshof den falschen Vergleich führe. Vergleichsgruppe seien – richtig – Standesbeamte und –beamtinnen ohne Gewissenskonflikte gewesen. Allerdings gehe es nicht um die Diskriminierung durch eine öffentliche Stelle gegenüber potenziell heiratswilligen Personen, sondern um die Diskriminierung der L. durch ihren öffentlichen Arbeitgeber. L. hätte aufgrund ihres Gewissenskonflikts anders behandelt werden müssen als die anderen Standesbeamtinnen und –beamten. Vor diesem Hintergrund sei ihre Gleichbehandlung – nämlich, sie zur Trauung homosexueller Paare zu zwingen oder anderenfalls zu kündigen – völlig unverhältnismäßig gewesen. Zum einen habe es organisatorische Alternativen gegeben, die andere Gemeinden auch genutzt hätten. Zum anderen habe L. ihre Arbeit zufriedenstellend erledigt und sich nur gegen die Ausweitung des Arbeitsbereiches gewehrt. Sie habe weder versucht, anderen ihren Glauben aufzudrängen, noch habe sie ihn nach außen geäußert oder gar versucht, das Recht homosexueller Paare auf Trauung offen oder versteckt zu vereiteln.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

Der EGMR stellt mit diesem Urteil noch einmal klar, dass sich Menschen auch in  Arbeitsverhältnissen mit privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern auf ihre Glaubens- und Religionsfreiheit nach Artikel 9 EMRK (einschließlich dem Recht, die religiöse und weltanschauliche Überzeugung auch am Arbeitsplatz kundzutun und zu manifestieren) berufen können (Rz. 83). Insoweit besteht eine positive Verpflichtung der Konventionsstaaten, die Glaubensfreiheit am Arbeitsplatz zu schützen (Rz. 91). Die staatlichen Gerichte haben allerdings bei der Abwägung der Religionsfreiheit mit den Grundrechtspositionen der Arbeitgeber einen Beurteilungsspielraum. Der EGMR prüft nur, ob dieser überschritten ist (Rz. 94, 99, 105 f., 109).
Die Religionsfreiheit einer arbeitnehmenden Person überwiegt das Interesse privater Arbeitgeber an einem einheitlichen Auftreten der Arbeitnehmenden mit Kundenkontakt jedenfalls dann, wenn diese am Arbeitsplatz eine sichtbare, aber dezente Halskette mit einem religiösen Symbol tragen, da hierdurch Interessen Dritter nicht tangiert werden (Rz. 94). Anders ist es hingegen, wenn das generelle Verbot dazu dient, die Sicherheit in einem öffentlichen Krankenhaus zu gewährleisten und Patientinnen und Patienten vor Infektionen zu schützen. Ferner werden Interessen Dritter berührt, wenn Standesbeamtinnen und -beamte sich aus religiösen Motiven weigern, homosexuelle Paare zu trauen. Ebenso ist es anders, wenn bei privaten Arbeitgebern angestellte Therapeutinnen oder Therapeuten die Behandlung von homo- oder bisexuellen Patientinnen oder Patienten aus religiösen Gründen ablehnen, da die Arbeitgeber dann keine diskriminierungsfreien Dienstleistungen anbieten können.
Ob die vor dem Hintergrund staatlicher Neutralitätspflicht bisher vom EGMR in das Ermessen der Staaten gestellte Frage nach der Rechtmäßigkeit von Kopftuchverboten eine Weiterentwicklung erfährt, bleibt abzuwarten. Generelle Verbote dürften unzulässig sein.
Bemerkenswert ist zudem, dass der EGMR sich auf eine umfassende Analyse der Rechtslage in 26 Mitgliedstaaten des Europarates sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada stützt (Rz. 47 ff.).

Auch wenn sich das Urteil gegen das Vereinigte Königreich richtet, sind die Feststellungen auch für Deutschland verbindlich. Zwar binden EGMR-Urteile unmittelbar nur die beteiligten Parteien, also hier Beschwerdeführerin und Vertragsstaat (Artikel 46 Absatz 1 EMRK). Die Wirkung geht aber mittelbar darüber hinaus, indem zur innerstaatlichen Rechts- und Entscheidungsfindung im Lichte der EMRK deren Inhalt und Entwicklungsstand in Betracht zu ziehen sind. Die EMRK wird als "living instrument" verstanden, das vom EGMR ausgelegt und fortentwickelt wird. Als der höchsten Autorität kommt dem EGMR die Befugnis zur Konkretisierung der Konventionsnormen zu, die innerstaatlich berücksichtigt werden muss – unabhängig davon, gegen welchen Staat die Entscheidung erging (ausdrücklich BVerfGE 111, 307, 319, 328; zuvor bereits BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120). Die Argumente des EGMR können also bei Verhandlungen, vor deutschen Behörden sowie deutschen und internationalen Spruchkörpern vorgebracht werden.

5. Follow Up (Stand: November 2013)

Am 27. November 2013 legte das Vereinigte Königreich einen Aktionsplan vor, der zurzeit vom Ministerkomitee des Europarates bewertet wird. Das Vereinigte Königreich trägt darin vor, dass es die Entschädigung bezahlt habe und andere Maßnahmen zugunsten der E. nicht für nötig halte. Hinsichtlich der allgemeinen Maßnahmen verweist die britische Regierung darauf, dass sie das Urteil veröffentlicht und verbreitet habe. Die Kommission für Gleichstellung und Menschenrechte habe erläuternde Anmerkungen und Leitlinien für Arbeitgeber auf ihrer Website allgemein zugänglich veröffentlicht.

Entscheidungen im Volltext:

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